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Mit den Ohren sehenVon Roberto Becker / Fotos von Jörg Landsberg
Mag gut sein, dass die Methode der Dekonstruktion im Schauspiel, die produktive Kraft, die sie bei der Revitalisierung allzu bekannter, immer nur wiederholter Stücke zu entfalten vermochte, ausgeschöpft hat. Ihre Karriere als Offenbarung haben die Schauspielkreationen von Frank Castorf, dem die Theaterwelt diese Verjüngungskur zu verdanken hat, wohl hinter sich. Wobei sie immer wieder zitiert werden und auch Castorf noch einigen Wirbel zu verursachen vermag, wenn er sich an den Vorgaben einer Opernpartitur und überlieferung reiben muss, wie letzten Sommer mit seinem Ring bei den Bayreuther Festspielen. Doch schnell entpuppt er sich als der wohl radikalste Dekonstruierer auf der Opernbühne. Er fegt mit Konsequenz alles beiseite, was sich an Bildern im Kopf der Zuschauer festgesetzt hat. Und zwar nicht, indem er beispielsweise die Pariser Bohème nach sonst wohin verlegt. Er verweigert nicht nur nahezu jeden Ambiente-Bezug, sondern nimmt die Musik auf eine Weise ernst, auf die man erst einmal kommen muss. Und für deren Umsetzung man dann auch ein erhebliches Maß an Mut braucht. Vor allem aber Partner, die diese Entdeckerlust teilen. Rodolfo erleidet seine ersehnte LiebeWer traut sich das schon - eine Bohème ohne Mimi und Musetta auf der Bühne? Ohne den leibhaftig aufkreuzenden Vermieter und ohne das bunte Treiben vor dem Cafe Momus? In Bremen gibt es das und es funktioniert ganz hervorragend! Natürlich singen auch die Frauen mit, sie sind dabei aber nahezu unsichtbar. Auf der Bühne agieren wirklich nur der Dichter Rodolfo, der Maler Marcello, der Musiker Schaunard und der Philosoph Colline. Es gibt zwei kleine Ausnahmen, die das Prinzip einer Imagination der Leidenschaften gleichwohl nicht grundsätzlich durchbrechen. So stöckelt der Spielzeugverkäufer Parpignol (Zoltan Stefko) als bunt aufgetakelte Transe mit traurig krächzendem Lachen und einem rosa Luftballon in der Hand wie die Person gewordene Melancholie über die Bühne. Und auch die Sängerin der Mimi taucht zwei Mal kurz auf. Beim ersten Mal, wenn von ihrem beginnenden Sterben die Rede ist. Und dann, das zweite Mal, nach dem Tod. Beim ersten Mal ist sie nur für uns wirklich sichtbar. Die Männer auf der Bühne sehen durch sie hindurch. Beim zweiten Mal aber, da blickt die wunderbare Nadine Lehner, den mit hinreißendem Schmelz und erstaunlichem Spieltalent ausgestatteten Rodolfo-Darsteller Luis Olivares Sandoval ruhig ins Gesicht. Der scheint erstaunt darüber zu sein, dass es diese Frau seiner Träume und seiner künstlerischen Phantasie tatsächlich gibt bzw. gegeben hat. Denn das ganze exzessive, mitunter aus dem Ruder laufende, ausgelassene, überdrehte Spiel davor war im Grunde die Behauptung des Gegenteils. Und zugleich ein Plädoyer für die Kraft der Poesie, wie man es selten mit solcher Wucht zu sehen bekommt. Bohème-WG in Hochstimmung Alles hatte mit Verspätung und einer leeren Bühne begonnen. Dann kommen vier Männer, in einem Aufzug, zu dem man sich schon tief in der Kiste mit den ausrangierten Klamotten hinein wühlen muss. Sie posieren kurz an der Rampe und gehen wieder. Aber nur, um zum Einsetzen der Musik Tisch und Stühle und die Utensilien anzuschleppen, die sie als Maler, Dichter usw. kenntlich machen. Katrin Wittig braucht für ihre Bühne nur ganz wenig wiederverwendbare Teile. Dafür ist der Materialeinsatz umso intensiver. Alles was sich so in Flaschen, Tuben, Spraydosen und Luftpapierpistolen unterbringen lässt, wird eingesetzt. Am Ende ist das Ganze ein Kita-Schlachtfeld sondergleichen. Was nicht alle Zuschauer so urkomisch und dabei zugleich traurig fanden wie es war. Das, was die vier Künstler in einer ziemlich existenziellen Lebenskrise uns und sich selbst vormachen, entspringt aus der Musik, ihrem Gefühl und ihrer Sehnsucht nach einem normalen Leben, vor allem nach Liebe. Wenn Rodolfo sein Manuskript als Wärmespender umfunktioniert, dann hat das hier eine doppelte Bedeutung. Es geht nicht um ein paar Grad Raumtemperatur, sondern um die Wärme des Lebens. Das Kunstwerk, das sie schaffen, ist das Kunstwerk ihres Lebens - im Grunde so, wie es gerade Rüdiger Safranski in seiner heftig gefeierten Goethe-Biografie auf den Punkt bringt. Sie sehen Mimi nicht wirklich, sie ist hier nur ein TraumWenn sich Rodolfo seine Mimi herbei fantasiert, und wir ihre Stimme hören, dann hält sich Marcello ein rotes Kleid vor den Körper und übernimmt ihre Rolle, damit Rodolfo nicht ins Leere singt. Ich bin der Poet und Mimi die Poesie singt er und bringt damit den ganzen Abend auf den Punkt. Auch die Musetta ist so eine Imagination. Grandios, wie Schaunard sie in der Höhe auf dem Tisch als femme fatale spielt, während Marysol Schalit ihre wunderbare Stimme beisteuert. Bei den Variationen dieser Methode - in der emotionalen Spannbreite vom Himmelhoch-jauchzend des ausgelassenen Herumtollens bis zu dem Zu-Tode-betrübt im letzen Akt - vollbringen alle Vier eine imponierende darstellerische Leistung. Mit vollem Körpereinsatz und einer großartigen Selbstverständlichkeit ihres Spiels. Und dabei gibt es bei Luis Olivares Sandoval (Rodolfo), Raymond Ayers (Marcello), Patrick Zielke (Schaunard) und Christoph Heinrich (Colline) keinerlei Abstriche an ihrer vorzüglichen stimmlichen Leistung. Markus Poschner trägt diese Sichtweise nicht nur als GMD des Hauses mit, sondern er macht sie als Dirigent gemeinsam mit den Bremer Philharmonikern im Graben erst möglich. Mit musikalischem Temperament, großer Erzähllust und aufleuchtenden Farben lässt er uns mit den Ohren sehen.
Aus Bremen ist ein ungewöhnlicher und zugleich großartiger Opernabend zu vermelden. Wer Lust hat, Puccinis bekannt geglaubte Bohème radikal neu und dabei konsequent von der Musik aus gedacht zu erleben, der sollte sich das nicht entgehen lassen. Ihre Meinung ? Schreiben Sie uns einen Leserbrief |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühne
Kostüme
Licht
Kinderchor
Chor
Dramaturgie
Solisten
Rodolfo
Marcello
Schaunard
Colline
Mimì
Musetta
Parpignol
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- Fine -