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Kleine und große Gesten
Von Stefan Schmöe / Fotos von Gerd Weigelt
Nein, Mutter, weine nicht, / unbefleckte Himmelskönigin, / Steh mir allzeit bei. / Ave Maria, Du bist voll der Gnade." Als der Komponist Henrik Gorecki (1933 2010) das ehemalige Hauptquartier der Gestapo in Zakopane besuchte, entdeckte er auf einer Zellenwand diese (im Original polnische) Inschrift. Verfasst hatte ihn eine 18-jährigen inhaftierten Polin im Herbst 1944. Für Gorecki war dieses schlichte Gebet Inspiration für die 3. Sinfonie, in deren Mittelsatz diese Zeilen vertont sind. Auch die beiden anderen Sätze sind Vokalsätze für Solosopran; das Finale vertont den volksliedhaften Gesang einer Mutter, die um ihren bei einem Aufstand getöteten Sohn trauert. In ihrer bewusst einfachen, der Musik Arvo Pärts nicht unähnlichen Struktur mit unzähligen Wiederholungen gleicher oder ähnlicher, wohlklingender Motive erreichte die 1976 im Auftrag des SWR entstandene Komposition in den 90er-Jahren unübliche Popularität auch jenseits des Klassik-Bereichs. Sorrowful Songs: Sopranistin Annika Kaschenz (hinten) und Mariana Dias
Diese beiden Sorrowful Songs, also Klagelieder (nicht aber den ersten und längsten Satz der Sinfonie) hat der niederländische Choreograph Nils Christe als musikalische Grundlage seiner etwa halbstündigen Choreographie für das Düsseldorf-Duisburger Ballet am Rhein verwendet und als Abschluss des Ballettabends b.18 zur Uraufführung gebracht. Christe und sein Bühnenbildner Thomas Rupert greifen die historische Situation vorsichtig auf: Im Hintergrund Platten wie von rostigem Metall, an den Seiten käfigartige Stangen das lässt unmittelbar an die Gefängnisatmosphäre denken, ohne einen allzu konkreten Gefängnisraum nachzubilden. Die sehr einfachen Kostüme denkbar schmucklose Oberteile und Röcke bzw. Hosen in bunten, allerdings matten Farben (Kostüme: Annegien Sneep) gehen in die gleiche Richtung. Sorrowful Songs: Wun Sze Chan, Ensembl Christe achtet sehr genau darauf, in der sehr expressiven Choreographie mit vielen raumgreifenden, ausladenden Soli nicht in einen pauschalen Schmerz- oder Betroffenheitsgestus zu verfallen. Im ersten Teil des Stücks scharen sich acht Tänzerinnen um die Sängerin (die immer auf der Bühne ist), spiegeln tänzerisch die Atmosphäre wider. Im zweiten Teil kommen die Herren dazu; immer wieder finden sich Trost suchend Paare und gehen wieder auseinander. Christe balanciert das Stück souverän auf einem schmalen Grat zwischen Handlungsballett und Abstraktion aus, ohne den konkreten Hintergrund aus den Augen zu verlieren. Die Sopranistin ist auf der Bühne in das Geschehen einbindet (Annika Kaschenz singt ordentlich, die Stimme mischt sich allerdings nicht besonders gut mit dem Orchesterklang), was dem Stück zudem etwas Opernhaftes verleiht. Der sehr fließende Wechsel zwischen Soli und Tutti, gleichzeitig auch zwischen Trauer, Trost und Hoffnung, ist von großer Schönheit. In dieser Ästhetisierung des Schreckens liegt gleichzeitig die Gefahr einer Banalisierung, zumal Goreckis Kompositionsstil etwas Einlullendes hat. Episodes: Paul Calderone sowie Arme und Beine von Nicole Morel
Raffinierter jedenfalls wirken George Balanchines Episodes aus dem 1959, die hier in der ursprünglichen Fassung mit einem (später weggelassenen) Solo für den Tänzer Paul Taylor aus der Compagnie Martha Grahams (die seinerzeit mit einem eigenen Handlungsballett Balanchines Episodes komplettierte), am Duisburger Premierenabend hinreißend getanzt von Jackson Caroll, aufgeführt wird. Natürlich ist auch die Musik, Orchesterstücke von Anton Webern, in ihrer extrem reduzierten Struktur ungleich komplexer als die Goreckis. Die Choreographie reagiert darauf mit extrem genau gezeichneten Bewegungsfolgen, die ähnlich der Musik mit ihren strukturierenden Modellen von Umkehrung, Krebs und Krebsumkehrung der Tonfolgen das in kleinste Momente zerlegte akademische Vokabular aufgreift, variiert und nicht nur um- sondern notfalls (das ist durchaus wörtlich zu verstehen) auf den Kopf stell. Balanchine spielt das nicht ohne Humor durch. Sinfonien: Ensemble
In seiner kleinteiligen Form macht es das Zusammenspiel von Musik (auf die man ja gerade bei Webern sehr konzentriert hören muss) und Tanz dem Betrachter-Zuhörer nicht leicht und auch den Orchestermusikern nicht, die oft nur einzelne Töne zu spielen haben (und wenn so ein Ton eine Spur zu zögerlich erklingt, ist's schon zu spät). Den Musikern der Duisburger Philharmoniker gelingt das unterschiedlich gut; die nachfolgenden Werke von Wilhelm Killmayer, bei ähnlichem Hang zur Reduktion trotzdem weniger fragmentarisiert, und Henrik Goreki gelingen unter der Leitung von Christoph Altstaedt geschlossener und überzeugender. Balanchines Ballett endet mit Weberns Fassung einer Bach'schen Fuge (aus dem Musikalischen Opfer) mit großem gestaffeltem Ensemble das corps de ballet steht beinahe hollywoodmäßig um das zentrale Paar (Claudine Schoch und Marcos Menha) herum, als wolle sich Balanchine augenzwinkernd mit einer repräsentativen Gefälligkeitsgeste für das spröde, nichtsdestotrotz ungemein faszinierende Ballett entschuldigen. Sinfonien: Nicole Morel, Boris Randzio, Anne Marchand
Den Mittelteil des Abends bildet Martin Schläpfers Choreographie Sinfonien nach der Sinfonia I: Fogli und Sinfonia II: Ricordanze des 1926 geborenen Münchner Komponisten Wilhelm Killmayer, komponiert 1968/69 in einem an Webern geschulten ebenfalls sehr reduzierten, aber weniger fragmentarisierten Stil. Aber auch hier ist jeder einzelne Ton konstituierendes Klangereignis. Martin Schläpfer hat 2009 am ballettmainz eine sehr rätselhafte Choreographie dazu geschaffen, in der eine Gruppe von vier Paaren und einem Tänzer ein geheimnisvolles Ritual zu vollziehen scheint. Einzelne Töne lösen in der sehr statischen Arbeit plötzliche Bewegungen aus. Die fast folkloristischen Kostüme bunte Kleider für die Frauen, rot getönte Röcke bei freiem Oberkörper für die Männer unterstreichen das, lassen das Ensemble beinahe wie einen exotischen Stamm erscheinen. Im Hintergrund scheinen tropfenartige helle Gebilde herabzurieseln. Das Zusammenspiel von Bühne (Thomas Ziegler) und Kostümen (Catherine Voeffrey) hat etwas Magisches, wie auch der tänzerische Minimalismus. Am Ende tragen die Tänzerinnen und Tänzer hölzerne Waschzuber auf die Bühne und lassen Wasser aufspritzen, ein konkreter, dennoch nicht fassbarer Schluss einer doch sehr ungewöhnlichen Choreographie, die im Uraufführungsjahr mit dem Theaterpreis FAUST ausgezeichnet wurde.
Martin Schläpfer hat einen sehr interessanten Ballettabend zusammengestellt mit der Uraufführung von Nils Christes vielleicht allzu souverän choreographierten Sorrowful Songs als Höhepunkt. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung Episodes
Choreographie
Einstudierung
Licht Tänzerinnen und TänzerLouisa RachediAlexandre Simões Nicole Morel Paul Calderone Andriy Boyetskyy Jackson Carroll Claudine Schoch Marcos Menha Ann-Kathrin Adam Doris Becker Wun Sze Chan Sabrina Delafield Mariana Dias Feline van Dijken Carolina Francisco Sorg Nathalie Guth Alexandra Inculet Anne Marchand Aryanne Raymundo Virginia Segarra Vidal Anna Tsybina Irene Vaqueiro Filipe Frederico Philip Handschin Alban Pinet Sinfonien
Choreographie
Bühne
Kostüme
Licht Tänzerinnen und TänzerMarlúcia do AmaralYuko Kato Anne Marchand Nicole Morel Richard Jones Antoine Jully Alexander McKinnon Boris Randzio Alexandre Simões Sorrowful Songs
Choreographie
Mezzosopran
Bühne
Bühne (Fotografien)
Kostüme
Licht |
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