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Médée

Oper in drei Akten
Libretto von Francois-Benoît Hoffman
Musik von Luigi Cherubini

In französischer Sprache mit französischen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 3h 10' (ohne Pause)

Premiere im Théâtre des Champs-Elysées am 10. Dezember 2012
Besuchte Aufführung: 14. Dezember 2012


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Théâtre des Champs-Elysées
(Homepage)
Ein großer Theaterabend

Von Thomas Tillmann / Fotos von Vincent Pontet - WikiSpectacle


Man hatte einiges gelesen über die tumultartigen Zustände während der Pariser Premiere der Brüsseler Produktion von Cherubinis Médée, die das Medea-Projekt des Théâtre des Champs-Elysées zum Abschluss brachte (im Oktober hatte es die gleichnamige Oper von Marc-Antoine Charpentier gegeben, im November Pascal Dusapins Version): Créon-Darsteller Vincent Le Texier soll aus seiner Rolle getreten sein und diejenigen Zuschauer, die das Gesehene nicht mochten und den Ablauf der Vorstellung mit Missfallensbekundungen störten, zum Gehen aufgefordert haben, einige Berichterstatter fühlten sich gar an die Tumulte während der Uraufführung von Strawinskis Sacre du Printemps erinnert, die ja am selben Ort stattgefunden hat. Was hat der polnische Regiestar Krzysztof Warlikowski verbrochen?


Vergrößerung Medea (Nadja Michael) kämpft um ihr Glück mit Jason und den Kindern (im Hintergrund).

Nichts. Er hat eine sicher provokative, aber nicht vordergründig auf Provokation ausgelegte, sondern das Werk in seinem Kern sehr ernst nehmende, psychologisch tiefgründige (Medea-Komplex!), dabei aber nicht kopflastige, sondern sehr unmittelbar berührende, in ihrer Spannung kaum je nachlassende Inszenierung geschaffen (selbst die Szenen vor Medeas Auftritt, die ich gern beim Hören des Stücks überspringe, ähnlich wie beim Fidelio vor Leonores Erscheinen, sind ungemein dicht erzählt), die den Mythos vom hehren, aber eben doch auch sonst beruhigend weit entfernten Sockel holt. Die dabei entstandenen Bilder mögen dem einen oder der anderen als zu banal erscheinen, als zu nah an unserem eigenen Alltag, aber ihnen wäre entgegen zu halten, dass einem dieser packende, große Theaterabend mit einer Fülle von eindrucksvollen, beklemmenden Bildern den altbekannten Stoff sehr viel näher bringt als manch "klassische" Produktion, die kalt lässt. Ich habe selten (und vor allem im strengen Paris) ein so sichtlich bewegtes Publikum gesehen, das nicht aufhören wollte zu applaudieren - oder auch zu buhen. Und so war es ganz richtig, dass die Darsteller den Regisseur auch am Ende dieser dritten Vorstellung auf die Bühne holten, einen Mann mit einer ganz besonderen Ausstrahlung, ernst, melancholisch, ohne erkennbare Regung im Gesicht, fast autistisch, das Gegenteil von Kollegen, die eine Schlacht zwischen Bravo- und Buhrufern genießen und diese durch provozierende Gesten sogar noch anheizen.

Vor der Vorstellung und in der Pause sieht man auf dem eisernen Vorhang an Super 8-Filme erinnernde Familienvideos aus den späten fünfziger oder frühen sechziger Jahren (Videokonzeption: Denis Guéguin); warum die Wahl auf diese Zeit gefallen ist (aufgenommen auch in den schicken Kostümen von Malgorzata Szczesniak, die die gesamte Ausstattung kreiert hat), ist eine der wenigen unbeantworteten Fragen aus meiner Sicht - warum verlegt der Regisseur das Ganze nicht ins 21. Jahrhundert? -, aber störend ist diese zeitliche Fixierung natürlich nicht. Man wird Zeuge der Hochzeitsvorbereitungen im Hause Créons, das ein kühler Bungalowpalast ist, der neue weiße Farbe bräuchte, schon um die Graffitis zu beseitigen, die unter anderem Medeas und Jasons Söhne dort angebracht haben. Die beiden sind - anders als in vielen Produktionen - durchaus Hauptdarsteller, sie sind die ersten Figuren, die wir noch vor dem eisernen Vorhang sehen, schick gemacht für das anstehende Ereignis (Tom Perkins und Antoine Bui nehmen ihre Aufgabe sehr ernst und sind großartig). Man verfolgt mit, wie sie in diesem Rosenkrieg von beiden Seiten instrumentalisiert werden, wie sie anfangs auf Seiten der Mutter stehen, sich weigern, Dircé als neue Mama zu küssen, wie sie aber unter dem schlechten Einfluss eines oberflächlichen Upper-class-Hofstaats dann immer mehr zu Kopien ihres Stiefgroßvaters degenerieren.

Man entwickelt Mitleid mit Dircé, die sich einerseits nicht wohlfühlt bei dem Gedanken, der anderen den Mann zu stehlen, die sich aber andererseits dem Charme des attraktiven Rockstars mit der Rastafigur, dem sein Opportunismus rät, seine exzessive amour fou aufzugeben und stattdessen ins bürgerliche Lager zu wechseln, und dem Druck des Vaters, der ein glanzvolles gesellschaftliches Ereignis plant, nicht entziehen kann. Médée in ihrem Amy-Whinehouse-Outfit mit Highheels und engem, schwarzen Lackkleid, mit mächtigem Callaskomma am Auge (auf diese Weise war die Jahrhundertsängerin, mit der diese Partie immer noch und unauslöschlich verbunden ist, auch wenn sie sie nur in der italienischen Fassung gesungen hat, doch irgendwie präsent) erweist sich zunächst als veritables Biest, wenn sie vor aller Augen ihr Make-up überprüft und mit ihrem Taschenspiegel versucht, Jason zu blenden, aber schon bald zeigt uns der Regisseur, dass sie eher Opfer als Täterin ist, eine unglückliche, verletzte, zerrissene Frau, deren Seele beinahe so zittert wie die dünne Spiegelwand im hinteren Teil der Bühne, durch die man in anderen Momenten hindurchschauen kann und die so Effekte wie Schattenrisse ermöglicht (das exzellente Licht von Felice Ross verdient unbedingt Erwähnung).


Vergrößerung

Medea (Nadja Michael) erinnert Jason (John Tessier) an glückliche Zeiten.

Beklemmend gerät die Szene, in der Médée, die sexuell traumatisierte Frau, die nur noch Alkohol und der Gedanke an Rache weiterleben lassen, Créon, der vom Sport mit seinen Kumpels kommend auf sie trifft, durch Einsatz ihres Körpers davon zu überzeugen sucht, ihr wenigstens einen Tag Aufenthalt zu gewähren - mit dem Ergebnis, dass sie Opfer einer angedeuteten Gruppenvergewaltigung durch die Sportsfreunde Créons wird, bei der ihr auch die eigenen Söhne nicht zu Hilfe kommen, die zu diesem Zeitpunkt bereits die Seiten gewechselt haben und Mitglieder dieser menschenverachtenden, hedonistischen Schickeria geworden sind. Eindrucksvoll ist die Szene, in der Medea vorn im Sand sitzt, der in der Bühnenmitte wie ein Laufsteg die Bühne durchzieht, und mit Figuren von Jason und Dircé die Hochzeit nachspielt, die hinten ihren Lauf nimmt, zunächst befremdlich der Beginn des dritten Aktes, wenn sie auf einem Stuhl sitzend und in einen blauen Schleier gehüllt die Geburt ihrer Söhne reinszeniert, bevor sie sie gegen Ende in ihre Pyjamas steckt und brutal hin- und her schubst. Dann verschwindet sie, erscheint in schmuddeligem Tanktop, unter dem sich ein Bauch wölbt. Wenige Augenblicke später entpuppt dieser sich als die blutverschmierten Schlafanzüge. Ganz am Ende zündet Medea sich lässig eine Zigarette an und lacht schauerlich, bleibt mit ihrem auf den eisernen Vorhang projizierten Konterfei allein zurück und verschwindet dann durch das Türchen in dessen Mitte. Starke, sicher provozierende Bilder. Aber wenn man sich die Vorlage anschaut, findet man auch kein Weihnachtsmärchen.


Vergrößerung Medea (Nadja Michael) ist bei der Hochzeit von Jason (John Tessier, links) und Dircé (Elodie Kimmel, rechts) indirekt dabei.

Vor Beginn des zweiten Aktes gibt es als Einlage "Oh Carol" von Neil Sedaka (ein typisches Pop-Rock-Stück aus dem Jahr 1959, inspiriert durch den brasilianischen Komponisten Villa Lobos), das geht manchem Zuschauer zu weit, passt aber mit seinem etwas schlichten Text zweifellos zu Medeas Gefühlen - Warlikowski will, wir erinnern uns, keine hehre Göttin auf die Bühne bringen, sondern eine unglückliche, verlassene Frau, mit der der Zuschauer und die Zuschauerin sich mindestens partiell identifizieren können, deren Verzweiflung sie nachempfinden können. Zweifellos könnte man dagegenhalten, dass Cherubinis Musik und Hoffmans Text das eigentlich auch schon alles hergeben und an dieser Einlage ein gewisses Misstrauen deren Ausdruckskraft gegenüber abzulesen ist. Und Alexandriner gibt es natürlich auch nicht, neue Dialoge mussten her, erfreulich kurze, drastische, für empfindliche Gemüter vielleicht mit zu vielen vulgären Begriffen gespickt - und trotz technischer Verstärkung nicht immer gut zu verstehen (hier wären Übertitel in englischer Sprache für das internationale Publikum eine Hilfe gewesen, wie während der gesungenen Passagen auch). Diskutabel sind beide Ideen sicher, aber Grund für Tumulte sind sie nicht, wenn man sich auf das Gesamtkonzept erst einmal eingelassen hat.

Angesichts einer so viel Aufmerksamkeit erfordernden und bekommenden Regie könnte man Angst haben, dass die Musik zu kurz kommt oder eine Nebenrolle spielt. Dass dies nicht der Fall ist, liegt zweifellos an den formidablen Talens Lyriques unter Leitung von Christophe Rousset, die auf historischen Instrumenten spielen und die Meriten des Werks auf das Herrlichste herausarbeiten. Abwechslungsreiche, grundsätzlich straffe, fein austarierte Tempi, ein hervorragendes Timing (Fermaten, Generalpausen!), das Ausschöpfen der gesamten dynamischen Bandbreite, das Herausarbeiten von Spannungsbögen und effektvollen Steigerungen, ein jederzeit spürbares Konzept, ein flexibles Begleiten der Solisten - das war ganz große Kunst, die an sich auch schon den Besuch gelohnt hätte und eben nicht abfiel gegenüber der starken Szene.


Vergrößerung

Medea (Nadja Michael) mit ihren Söhnen, deren Tod bereits beschlossene Sache ist.

Und Nadja Michael? Im Programmheft lässt sie sich als Repräsentantin einer neuen, modernen Generation von Opernsängerinnen beschreiben, und tatsächlich ist sie eine bête de scène par excellence, die nicht nur dasteht und ausdrucksvoll singt, sondern sich auf den Boden wirft, im Mauerwinkel kauert, sich krümt wie ein verletztes Tier, sich die Haare rauft und Médées Zerrissenheit (die übrigens durch die unterschiedlichen Perücken, die sie trägt, gar nicht schlecht illustriert wird) und Verfall schonungslos und kein Risiko scheuend mit körperlichem und vokalen Totaleinsatz auffächert. In manchem Moment mag die Deutsche ein wenig überspielen, zu eitel und plakativ ihre Beweglichkeit demonstrieren und an ihre Modelvergangenheit erinnern, aber ausdrucksvoll und respekteinflößend ist all dies ebenso wie ihr mitunter unorthodoxes Singen. Die Stimme an sich ist die eines hochgetriebenen Mezzos (2005 hat der Fachwechsel offiziell stattgefunden), was immer wieder zu Intonationsungenauigkeiten führt. Im Laufe des Abends kommen die Spitzentöne aber leichter und brauchen weniger Anlauf, und auch das unschöne Zerhacken von Phrasen zum Zwischenatmen gibt die Sängerin mehr und mehr auf. Die virtuosen Anforderungen der Partie bewältigt sie, ohne eine wirklich geschmeidige Stimme zu haben, ihre Fortetöne sind durchaus imposant, aber auch ein wenig grell und gellend, die gern eingesetzte Bruststimme klingt chansonettenhaft, dazwischen gibt es nicht wenig ausgedünntes, fahles Stimmmaterial zu ertragen, rhythmische Eigenwilligkeiten, steife, unkontrolliert flackernde Töne, aber auch viel Piano zu bestaunen. Dass die Sängerin Raubbau mit dem Material treibt, hat spätestens im dritten Akt Folgen, da hört man mitunter das pure Metall. Nervig fand ich das bedeutungsschwangere Flüstern und Nuscheln mit tiefer, rauchiger Stimme im Dialog und den mitunter auftauchenden S-Fehler. Ihr Französisch ist in Ordnung, aber auch nicht mehr, wenn man etwa die Auszüge aus dem Werk mit der wunderbaren Rita Gorr im Ohr hat (Iano Tamar - bei aller Bewunderung - und Phyllis Treigle in den verfügbaren Gesamtaufnahmen der französischen Version sind natürlich auch keine Muttersprachlerinnen). Und trotz aller Einschränkungen muss ich gestehen, dass ihre Verkörperung der Médée irgendwie eindrucksvoll ist, bin allerdings sicher, dass der Eindruck bei der Radioübertragung am 29. Dezember auf France Musqiue (ab 19 Uhr), bei dem der Natur der Sache gemäß ihre szenischen Bemühungen außen vor bleiben, kein überwältigender sein wird.

Viel zu wenig Stimme für den Jason hat natürlich John Tessier. Der kanadische Tenor singt sonst Partien wie den Tonio in La fille du régiment, Jaquino, Fenton, die Mozarttenorpartien und einige der leichteren im Belcantofach - zu diesen zählt der Jason auch in der französischen Fassung sicher nicht. Immerhin, sein Legato ist makellos, die Phrasierung insgesamt sehr sorgfältig, aber der Mangel an Farben in der Mittellage und in der Tiefe begrenzen einfach seine expressiven Gestaltungsmöglichkeiten, und über die Maßen attraktiv ist die hohe Lage auch nicht. Vincent Le Texier war als Créon eine Offenbarung in Sachen französischer Diktion und Gesangsstil und Pianokultur, da fiel der Umstand, dass ihm hohe Töne inzwischen nicht leicht fallen und man auch andere Anzeichen einer langen Karriere hört, kaum ins Gewicht, aber seine Partie ist ja auch nicht die eines jungen Mannes. Nicht ganz nachvollziehen konnte ich die Buhs für Elodie Kimmel, die als Dircé mit ihrem hellen, durchdringenden Sopran durchaus Gewicht hatte und auch darstellerisch viel aus der etwas undankbaren Partie zu machen verstand; dass sie neben Médée ein wenig blass bleibt, ist stückimmanent und gewollt. Varduhi Abrahamyan erhielt erwartungsgemäß viel Applaus für ihre mit farbenreichem, üppigen, auch in der Tiefe keine Grenzen kennenden Mezzo exzellent gesungene Néris-Arie; die Anlage der Figur indes blieb merkwürdig unklar. Ekaterina Isachenko und Anne-Fleur Inizan waren ordentliche Besetzungen der Dienerinnen, die Mitglieder des Choeur Radio France in der Einstudierung von Stéphane Petitjean waren ein weiterer Pluspunkt der Aufführung.


FAZIT

Ein ganz besonderer, aufwühlender Theaterabend. Und natürlich ein Plädoyer für die französische Version, auch wenn der Rezensent zugeben muss, dass er trotz all der guten Gründe für diese seine vielen Aufnahmen der Fassung mit den ins Italienische übersetzten Lachner-Rezitativen auch sehr liebt und die Aufführungen an den Wuppertaler Bühnen in deutscher Sprache, die er als Student mit der in ihrer Art großartigen Gudrun Volkert als Medea oft gesehen hat, zu den Opernabenden gehört, die er sein Leben lang nicht vergessen wird. Im deutschen Bärenreiter-Klavierauszug von 1958 fällt das Urteil über die heute so verteufelte durchkomponierte Fassung übrigens ganz anders aus, da wird sie als Aufgabe bezeichnet, "die Lachner mit großer Einfühlung und unter Verwendung Cherubinischer Motive in vollendeter Weise löste", "und zwar mit den von Cherubini als notwendig befundenen Kürzungen, die er selbst für die Wiener Erstaufführung des Jahres 1809 vorgenommen hatte".


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Christophe Rousset

Inszenierung
Krzyzstof Warlikowski

Bühne und Kostüme
Malgorzata Szczesniak

Choreografie
Saar Magal

Licht
Felice Ross

Videokonzeption
Denis Guéguin

Dramaturgie
Christian Longchamp



Choeur de Radio France

Les Talens Lyriques


Solisten

* Abendbesetzung

Médée
Nadja Michael

Jason
John Tessier

Dircé
Elodie Kimmel

Créon
Vincent Le Texier

Néris
Varduhi Abrahamyan

Erste Dienerin
Ekaterina Isachenko

Zweite Dienerin
Anne-Fleur Inizan

Medeas Kinder
* Antoine Bui
Constant Clermont
Paul Pehlivanian
* Tom Perkins






Weitere Informationen
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