Sex, Liebe und Lust in multikultureller
Vielschichtigkeit
Von
Ursula
Decker-Bönniger / Fotos von
Jörg
Landsberg
2013 ist nicht nur das
Jubiläumsjahr von Verdi und Wagner. Osnabrück
erinnert in seiner letzten Inszenierung der Saison
an die ersten dramatischen Kompositionen des Wagner
kritischen Paul Hindemith, der 1895 in Hanau geboren
1963 in Frankfurt verstarb. Gezeigt werden die drei
Einakter Mörder, Hoffnung der Frauen, das Nusch-Nuschi
und Sancta Susanna – Hindemiths in Anlehnung
an Puccini aus sehr unterschiedlichen Libretti
bestehende Opern-Triptychon, das mit Oskar
Kokoschka, Fritz Blei, August Stramm und Oskar
Schlemmer als Bühnen- und Kostümbildner ebenso
unterschiedliche wie namhafte Avantgarde-Künstler
zusammenbrachte.

Wohnzimmeralltag, unten: der einsame Mann
Besonderen Anstoß erregte bei der
Uraufführung der von August Stramm stammende Text
von Sancta Susanna. Thema sind
Triebverzicht, Angst und kollektive Gewalt. Als sich
die fromme Susanna im Bewusstsein ihrer Sinnlichkeit
entkleidet, dem Gekreuzigten das Lendentuch vom
Leibe reißt und sich schließlich - ähnlich wie Don
Giovanni - der Buße und Reue verweigert, wird sie
von der Alten Nonne als „Santana“ verdammt.
Fritz Busch hatte das Erstdirigat dieses
gesellschaftliche Tabus brechenden, Religiosität und
Sexualität mischenden, blasphemischen Einakters
abgelehnt, sodass seine Uraufführung knapp ein Jahr
später, im März 1922 im Opernhaus Frankfurt
erfolgte.
Bestes Beispiel für die parodistischen,
provozierenden Absichten der Autoren ist das Nusch-Nuschi,
ein „Spiel für burmanische Marionetten“ - ein
turbulentes Bühnengeschehen im orientalischen
Ambiente. Auch hier wird die Tabuisierung sexueller
Themen wie Lust, Polygamie, Kastrationsängste und
Impotenz attackiert, wobei die Figuren in ihren
derben Possen und Doppelbödigkeiten oft an die
Commedia dell’Arte erinnern. Hindemith parodiert mit
direkten und indirekten Zitaten die Klang- und
Opernwelt der Spätromantik und entwürdigt bspw. den
Wagner-Mythos, wenn der zuvor als impotent
belächelte Kaiser Mung Tha Bya seinen wieder einmal
leeren Harem mit den König Marke-Worten „Mir dies!“
aus dem 2. Akt von Tristan und Isolde kommentiert.
Auch in der ersten Oper Mörder, Hoffnung der
Frauen lassen sich zahlreiche motivische
Wagner-Anspielungen vor allem für die Gesangspartien
der Frau aufweisen. Männer und Frauen begegnen sich
hier in Liebesspielen und einer Art archetypischem
Geschlechterkampf, bei dem der Mann die Frau „mit
seinem Zeichen brandmarken lässt“, während die Frau
sich mit dem Messer wehrt und ihn verletzt. In
seinen Traumfantasien begegnet der Mann ihr erneut
mit Liebesentzug und erobert, - tötet sie.

Mit "Rai" melden die Affen
den Vollzug des Geschlechtsaktes
Befreit vom historischen Umfeld der 1920er Jahre
transformiert Biganzoli Kokoschkas archetypischen
Geschlechterkampf eindrücklich und passend zur Musik
in den „normalen“ Beziehungsalltag unserer Tage.
Fast voyeuristisch blickt man hinter die Kulissen
der spärlich möblierten, immer mit einem Sofa
ausgestatteten Wohnzimmer eines offenen,
mehrstöckigen Haus. Nach einer Art Exposition und
Chorprobe werden uns in kurzen Szenen unter Einsatz
der Drehbühne unterschiedlichste, u. a. von Gewalt,
Liebe, Lust und Demütigungen durchzogene Begegnungen
von Mann und Frau vor Augen geführt.
Einstieg und Überleitung für das
komische Nusch-Nuschi ist eine Feier vor
Ort. Getränkeflaschen werden verteilt, rote
Lampionketten aufgehängt, Seemanns-, Liebes- und
Tanzlieder aus der koreanischen und japanischen
Heimat der Ensemblemitglieder vorgetragen. Mit dem
Auftritt des grünen Wackelpeter verteilenden Diener
Tum Tum beginnt das skurrile, sich immer mehr von
der Wirklichkeit entfernende, burmanische Spiel.
Witzig ist der Auftritt des schönen Zatwai im engen,
glitzernden Badehöschen. Sinnenfroh und verspielt
verwandeln sich die Männer in der Gerichtsszene in
Frauen mit historisch anmutenden gläzenden,
asiatischen Gewändern und aufwendigen Steckfrisuren,
glitzern die Showkostüme der Bajadere, leuchten im
Dunkel der Straße die runden, den Gott des
Verlangens symbolisierenden, gelben Gesichtsmasken
auf, die sich als Nusch-Nuschi tanzend mal in eine
Schlange, mal in einen beängstigend verschlingenden
Mund verwandeln. Ideenreich auch die Projektion
tanzender, übergroßer Manga-Figuren zu einer sich
wie im Lust- und Liebestaumel immer schneller
drehenden Bühne. Einzig provokantes Moment ist der
Auftritt Richard Wagners in der entsprechenden
Szene. Mit starrem Blick thront er – unberührt von
den schwärmenden, zärtlich anhimmelnden Gesten
seiner zahlreichen Verehrerinnen.

Klementia, Susanna und die Alte Nonne
Mit Sancta Susanna kehrt man
zurück in normative Einöde und Grausamkeit des
ersten Einakters. Unter Auslassung des klösterlichen
Ambientes konzentriert sich die Inszenierung auf die
Tragik des Beziehungsgefüges, sodass Einheitlichkeit
der rahmenden Einakter und belebender Kontrast des
burmanischen Spiels betont werden.
Biganzoli nutzt als inhaltliche Verknüpfung außerdem
die gleiche Besetzung einiger Hauptfiguren. So
verkörpert Lina Liu mir ihrem sinnlichen, lyrischen
Stimmklang nicht nur die Rolle der Frau aus Mörder,
Hoffnung der Frauen. Sie ist auch Bangsa, die
Erste Frau des Kaisers im Nusch-Nuschi
und Susanna im letzten Einakter. Bariton Daniel Moon
stellt klangvoll und anrührend die Rolle des
Mannes dar und erscheint als schöner Zatwai im Nusch-Nuschi.
Eva Gilhofer, die mit gebrochener Stimme die Alte
Nonne verkörpert, geistert auch zuvor durch die
Szenen. Im Nusch-Nuschi bspw.
zerreißt sie die gelbe Maske der Ersten Frau, die
nur widerwillig aus dem Spiel zurücktritt und ihr
folgt. In Sancta Susanna ist sie schließlich die
sittenstrenge Alte Nonne, die den züchtig, mit
Blumenstrauß anrückenden Liebsten Susannas erschießt
und letztere mit einer Plastiktüte erstickt.
Vervollständigt wird das eindrückliche Gesamtbild
von einem in allen Rollen gut besetzten, engagiert
spielen- und singenden Gesangsensemble, einem super
einstudierten, immer homogen artikulierenden Chor,
dem differenziert gestaltenden Orchester unter der
souveränen Leitung von Andreas Hotz. Ob polyphone
oder homophone Abschnitte, ob Bewegungskontraste,
Marschzitate und lautmalerische Effekte, ob
aufgelockertes Klangbild, satirisch überzeichneter,
martialischer Pomp oder dramatische Zuspitzung – der
nachhaltige Hörgenuss ist differenziert und
ausdrucksvoll.
FAZIT
Eine unbedingt sehens- und hörenswerte
Inszenierung und gelungene Aktualisierung der Hindemithschen
Opern-Einakter der frühen 1920er Jahre