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Premiere im Opernhaus
Kassel am 27. April 2013 Das
Staatstheater Kassel hat eine große Wagner-Tradition
und
im Publikum die entsprechende Begeisterung für dessen
Werke. Diese
Saison steht Tannhäuser
und der Sängerkrieg
auf Wartburg
auf dem
Spielplan. In den Bühnenbildern
von Paul Zoller und den Kostümen von Katharina Gault
hat Regisseur
Lorenzo
Fioroni seine Folge von Wagner-Inszenierungen in
Kassel fortgesetzt und
ist
dabei seinem Stil treu geblieben.
Walther
(Johannes An), Biterolf (Marc-Olivier
Oetterli), Wolfram (Stefan Zenkl), Heinrich
(Musa Nkuna), Reinmar
(Krzystof Borysiewicz)
Sechs
später kommende
Gäste (vormals Minnesänger und
Landgraf) schalten das Licht ein und setzen der
schummrigen Stimmung
ein jähes
Ende. „Wer ist der dort in brünstigem Gebete?“ Es
ist ein verloren
gegangener
und nun nach langer Zeit wieder aufgetauchter
Partygast, der heimlich
wieder
zurückgekommen ist und sich unsicher an seinem
Weinglas
festhält. Swingend,
singend,
tanzend
wie eine Boygroup umschwirren die
(Minne)Sänger Tannhäuser, der sich aber erst mit
Wolframs
Ausruf „Bleib bei
Elisabeth“ zum Bleiben bewegen lässt. Mit dem
Ausruf dieses Namens
erscheint im
sich drehenden Quader ein enger miefiger
Wohnungsflur mit Kruzifix und
Papstbild an der getäfelten Wand. Hier begrüßt
der
Landgraf im Dinner Jacket
seine Gäste, die von der Venus-Party zur
Hermann-Party wechseln.
An einer der
Quader-Rückwände hat sich eine Dame erhängt. Als
Star des
Abends und Ehrengast erscheint die Primadonna
Elisabeth auf der Party des Landgrafen. Die Diva freut
sich, dass sie
wieder
einmal hier sein darf, schäkert hier und neckt da und
nimmt das
alles nicht so
ernst. Mit Wolfram und Tannhäuser allein gelassen,
spielt sie das
Spiel weiter,
wobei sie sich beide Verehrer zunächst warm hält, dann
jedoch
lieber den
dusselig-trotteligen Tannhäuser verspottet. Der ist
ganz verwirrt,
als sie sich
zurückwirft und den Blick auf ihre Beine freigibt,
traut sich
nicht einmal, sie
zu berühren. Schließlich wälzen sie sich aber doch
knutschend auf dem Boden –
was jäh vom Erscheinen des Landgrafen unterbrochen
wird. Mit
„Blick mir ins
Auge! Sprechen kann ich nicht.“ meint Elisabeth eine
verrutschte
Kontaktlinse
oder eine Wimper, die ihr Beschwerden bereitet.
Nebenbei baut eine
kleine Band
ihre Anlage auf. Landgraf (Hee
Saup Joon), Tannhäuser (Paul
McNamara), Heinrich (Musa Nkuna), Biterolf
(Marc-Oliver Oetterli)
Das Losverfahren, wer im
Sängerstreit
zuerst singen darf,
wird durch Flaschendrehen entschieden (stilvoll mit
einer
Champagner-Flasche).
Auch wenn Tannhäuser versucht zu schummeln – er ist
noch nicht
dran. Die
Gesänge der anderen werden mit Ironie vorgetragen
und von
Tannhäuser
entsprechend empört kommentiert. Die Rose aus dem
ersten Akt
überreicht er
Elisabeth, die sie jedoch nicht weiter beachtet. Er
ist auf der
falschen
Beerdigung, nimmt ernst, woraus sich die anderen
einen Spaß
machen.
Wortwörtlich lässt er erst erfolglos
die
Hosen runter und
überschreitet dann in
seiner Verzweiflung eine der wenigen
sakrosankten Grenzen dieser Spaßgesellschaft: „Zieht
in den Berg
der Venus
ein!“ singt er und greift höchst bildhaft Elisabeth
coram publico
in den
Schritt. Das ist zuviel – und der Moment, in dem
eine anständige
Dame
das Lokal verlassen sollte. Die Damen gehen also und
lassen
sich auch vom Landgrafen
nicht
aufhalten. Fast unbemerkt
hatten sich die Minnesänger um Frau Venus gesellt.
Jetzt stellen
sie sich Tannhäuser
mit verschränkten Armen hämisch grinsend entgegen,
schlagen
ihn zusammen,
durchbrechen ein Papstbild auf seinem Kopf, setzen
ihm eine Eselsmaske
auf und
jagen ihn peitschend fort. Das wirkt wie die
Bestrafungszeremonie eines
Geheimbundes. Ausgesprochen eindrucksvoll ist die
Wandlung, die
Elisabeth
hier vollzieht. Die sorglos spöttelnden Diva wird
zur
ernsthaften Frau. Nicht nur Tannhäusers Gefühle für
sie,
sondern die Ernsthaftigkeit des
Lebens im Allgemeinen und die der Liebe im
Besonderen werden ihr
bewußt. Einer der stärksten Momente des ganzen
Abends. Auf der mit Partymüll verdreckten
Bühne legt oben rechts der
Papst Tarot-Karten (diese Kombination
allein
ist schon ein blasphemisches, aber köstliches Bild),
während Elisabeth und Venus unten links in
freundschaftlicher
Einigkeit auf Tannhäuser warten, die eine in
ruhiger, die andere
in sehr
unruhiger Verzweiflung. In der Bühnemitte kauert der
heruntergekommene
psychisch dekompensierte und von Krämpfen
geschüttelte
Wolfram. Nun spielen
Elisabeth und Venus um
Tannhäuser
Flaschendrehen. Doch der kommt nicht zurück. Venus
betrinkt sich,
Elisabeth
greift sich ein Büßerhemd und eine Schere, mit der
sie sich
die Haare
abschneiden wird. Auf dem ehemaligen Venus-Balkon
singt Wolfram sein
„Lied an
den Abendstern“ vor einem Sternenhimmel. Wie zuvor
Venus deckt er jetzt
den
Tisch, legt die als optisches Leitmotiv fungierende
rote
Rosenblüte auf den
freien zweiten Stuhl und spielt ein Dinner zu zweit
– vereinsamt auf
dem
Balkon. Tannhäuser kehrt zurück und kann
sich nicht zwischen der
blöde kichernden, betrunkenen Venus
und
der
durchgedrehten Elisabeth entscheiden. Er geht im
artig
zugeknöpften
Trenchcoat allein fort. Wagners Regieanweisungen zum
Finale werden auf
die
Bühne projiziert, vor einem kaum erkennbaren
naturalistischen
Hintergrundprospekt singen die Chöre. Der
Bühnenquader dreht
sich, Venus winkt
Tannhäuser zum Abschied und der Papst bietet im
Bauchladen Kreuze
und
Tarot-Karten feil. Eine Vierteldrehung später sieht
man unter all
den
scheußlich verdreckten Pilgern Wolfram, an dessen
Brust sich
Venus anschmiegt.
Sie hat ihr nächstes Opfer gefunden. Eine
ganz
geistreiche und witzige Geschichte, die die Grenze
zu Persiflage und Karikatur momentweise nicht nur
streift, sondern auch
überschreitet. Der Zwiespalt zwischen Fleischeslust
und hehrer
Liebe, zwischen
weltlicher Ordnung und religiöser Erlösung bleibt aber
unbeleuchtet. Der
Regisseur stellt Ursachen und Folgen einer
Grenzüberschreitung
dar, die selbst
eine noch so dekadente Spaßgesellschaft wie ein
schwarzer Freitag
trifft. Dass
dieser Griff in den Schritt der Diva ein Skandal ist,
wird ohne Zweifel
deutlich. Auch in der Dekadenz gibt es Grenzen. Selbst
wenn
Tannhäuser damit
verraten hätte, dass die Gäste bei Venus und die Gäste
beim Landgrafen die
gleichen Menschen sind –
was ist daran
schlimm? Alle kennen sich doch. Ganz abgesehen davon,
dass sich die
beiden
Partys in nichts unterscheiden. Sex gibt es bei Venus
ja auch nicht.
Warum
bricht überhaupt das ganze System zusammen? Warum sind
die
Minnesänger im
dritten Akt kollektiv so heruntergekommen? Warum ist
Tannhäusers
sexueller
Übergriff so schockierend? Tannhäuser ist doch
(zumindest
scheinbar) ein
Einzeltäter, der erst als Sau durchs Dorf und dann als
Esel nach
Rom getrieben
wird? Und wie passt die ganze Pilgerei, samt
herrlicher Chöre, in
diesen
Zusammenhang? Tannhäuser als ungeschickten,
verträumten
Künstlertrottel
darzustellen und nicht als selbstbewussten (und
selbstverliebten)
Revoluzzer
hat reizvolle Momente, kann im Ganzen aber nicht
überzeugen. Diese
Regiearbeit ist ein typischer Fioroni: Eine
fantastische, fein gearbeitete Personenregie mit ganz
eindrucksvollen,
tief
bewegenden Momente sowie ironischen Brechungen, die
dem Ganzen
Würze geben,
steht in einem Gesamtkontext, der dem Werk eine andere
Geschichte
überstülpt,
die nur in einzelnen Aspekten funktioniert. Ein großes
rundes
Ganzes ist dabei
nicht entstanden. Und ein
bisschen mehr
Respekt vor der Musik wäre auch wünschenswert. Zu
viele
Stellen werden laut
verraschelt, verkichert, verkreischt oder durch
sonstige Geräusche
gestört. Und
– mit Verlaub – ich kann diese ganzen
Videoprojektionen auf der
Opernbühne
nicht mehr sehen. Das Theater hat doch seine ureigenen
Darstellungsmittel. Paul McNamara steht die
mörderisch
anspruchsvolle
Titelpartie fast ohne Ermüdungserscheinungen durch.
Lediglich im
zweiten Akt
stößt er kurzzeitig an die Grenzen seiner Kraft. Er
wirkt
fast immer
ein wenig abwesend – auch dadurch gelingt ihm die
Darstellung des
Tannhäuser
als Anti-Held ganz außerordentlich überzeugend.
Kelly
Cae-Hogans fraulich-sinnlich klingender Sopran ist
angenehm timbriert und verfügt über viel
Stimmsubstanz und
Strahlkraft. Damit
erreicht sie nicht nur schauspielerisch, sondern
auch stimmlich eine
adäquate
Umsetzung der Rollenzeichnung in dieser
Inszenierung. Hee Saup Yoon
prächtiger,
aber nie zu üppig, sondern eher akzentuiert
eingesetzter Bass
verleiht dem
Landgrafen individuelles Profil. Ulrike Schneider
singt die elegante
Künstlergattin Frau Venus mit energischem, aber
wohlklingendem
Mezzosopran. Stefan Zenkl begeistert als Wolfram mit
seinem
kultivierten, nicht zu weichen
Bariton. Johannes An ist als Walther eine
stimmschöne
Luxusbesetzung. Mit
LinLin Fans klarem und blitzsauber geführten Sopran
ist die Partie
des
Hirtenknaben ideal besetzt. Eine
typische
Fioroni-Inszenierung mit geistreicher, subtil und
intensiv
ausgearbeiteter
Personenregie in einem eher fragwürdigen
Gesamtkonzept. Unter
einem
leidenschaftlichen Dirigat sind ordentliche und gute
Sängerleistungen zu hören. Musikalische
Leitung Inszenierung Bühnenbild Kostüme Chor Dramaturgie Staatsorchester
Kassel Opernchor, Extrachor Statisterie
des Landgraf Herrmann Tannhäuser Wolfram von Eschenbach Walther von der Vogelweide Biterolf Heinrich der Schreiber Reinmar von Zweter Elisabeth, Nichte des Landgrafen
Venus Ein junger Hirt (Vier)
Edelknaben Weitere
Informationen
Tannhäuser
und
der
Sängerkrieg
auf
Wartburg
Romantische Oper in drei Aufzügen
Text und Musik von Richard Wagner
Aufführungsdauer:
ca.
4
Stunden
30 Minuten
(zwei
Pausen)
Staatstheater
Kassel
(Homepage)
Grenzüberschreitung
Von Bernd
Stopka / Fotos: N. Klinger
Tannhäuser
(Paul McNamara), Venus (Ulrike Schneider)
Auf einem kleinen Balkon an einer der Außenwände, der
wie
ein Séparée wirkt, lamentieren Tannhäuser und Venus
höchst unerotisch über das
Weggehen oder Bleiben. Wobei Venus als matronenhafte
Dame der gehobenen
Gesellschaft erscheint, die ihren trotteligen kleinen
Künstler
etwas genervt,
aber erfolglos bei Laune zu halten versucht, während
sie den Tisch
zum
Abend-Austern-Essen deckt – ein wohlsituiertes Ehepaar
in mittleren
Jahren. Erotik oder Lust: Fehlanzeige. Bemerkenswert:
Tannhäuser
nimmt noch vor Venus’ Auftritt eine rote Rosenblüte
aus der
Tischdekoration,
betrachtet sie schwärmerisch und versteckt sie
schamhaft vor
seiner Gattin.
Seine Sehnsucht nach Natur und Lebendigkeit wird so
sehr deutlich.
Weniger
deutlich wird dagegen, dass er sein „Heil in Maria“
suchen zu
müssen glaubt. Zu
diesem Ausruf reißt er effektvoll die Tischdecke
herunter, der
Quader dreht
sich und es erscheint, von Kerzenlicht beleuchtet,
eine
Festgesellschaft, denen
eine elegant gekleidete Sängerin (vormals der
Hirtenknabe) eine
musikalische
Einlage gibt. Als Gastgeberin erscheint grüßend Madame
Venus
– hochanständig
und hoch verehrt.
Die Party steht als Kostümfest unter dem Motto
„Märchen“.
Die Gäste erscheinen in bunten Kostümierungen von den
tanzenden sieben Raben
über Rotkäppchen, Froschkönig, Schneewittchen,
Zwergen,
Hexen und dergleichen
Figuren, die vielleicht auch als Reminiszenz an das
Grimm-Jahr und die
dazu am
Premierentag eröffnete Ausstellung in der
Documenta-Halle nebenan
gesehen
werden können. Auch Frau Venus erscheint – mit drei
Damen im
Gefolge, die
Gesichter mit Schädelmasken verdeckt.
Elisabeth (Kelly
Cae Hogan),
Tannhäuser (Paul McNamara)
GMD Patrik Ringborg lässt sich von der Regie nicht
beirren
und dirigiert leidenschaftlich, schwelgerisch, lässt
große
Bögen entstehen und
beleuchtet Details der Partitur, ohne sich darin zu
verlieren. Schon
mit der
Ouvertüre löst er einen musikalischen Sog aus, der
fasziniert
und dem man sich
gern hingibt. Das Orchester folgt ihm, wenn auch mit
einigen deutlichen
Unsauberkeiten und verwackelten Einsätzen. Die Chöre
singen
prächtig, die
akustische Balance zwischen Hinterbühne, Bühne und
Orchestergraben könnte aber
noch verbessert werden.
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Produktionsteam
Patrik Ringborg
Lorenzo Fioroni
Paul
Zoller
Katharina Gault
Albert Geisel
Video
Lorenzo
Fioroni
Paul Zoller
Marco Zeiser Celesti
Jürgen Otten
und Kinderchor CANTAMUS
des
Staatstheaters Kassel
Staatstheaters Kassel
Solisten
Hee Saup Yoon
Paul McNamara
Stefan Zenkl
Johannes An
Marc-Olivier Oetterli
Musa Nkuna
Krzysztorf Borysiewicz
Kelly Cae Hogan
Ulrike Schneider
LinLin Fan
Kinderchor
Cantamus
erhalten Sie vom
Staatstheater
Kassel
(Homepage)
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