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Kindergeburtstag mit Spinatschlacht
Von Thomas Molke /
Fotos von Rolf K. Wegst
Händels frühe Oper Agrippina verschaffte dem sächsischen Komponisten bei
der Uraufführung am 26. Dezember 1709 in Venedig nicht nur einen triumphalen
Erfolg mit zahlreichen Folgeaufführungen in der Karnevalsspielzeit 2010, sondern
markierte auch seinen Durchbruch als Opernkomponist. Auch in Neapel und Hamburg
begeisterte das Werk mit einer musikalischen Harmonie und Melodik, die man - so
Händels Biograph John Mainwaring - "nimmer vorher [...] in ihrer Anordnung so
nahe und so gewaltig miteinander verbunden gehört" hatte. Das Stadttheater
Gießen präsentiert nun mit den beiden Countertenören Valer Sabadus und Terry
Wey, der Sopranistin Francesca Lombardi Mazzulli, dem Bariton Hans Christoph
Begemann als Gästen neben eigenen Ensemble-Mitgliedern und dem Spezialisten für
authentische Aufführungspraxis des 18. und 19. Jahrhunderts,
Generalmusikdirektor Michael Hofstetter, für die Neuproduktion eine
hochkarätigen Besetzung, die musikalisch hält, was sie verspricht. Über die
Inszenierung von Balász Kovalik kann man allerdings geteilter Meinung sein.
Ottone (Terry Wey, vorne) berichtet, wie er den
Kaiser aus dem Sturm gerettet hat (von links: Poppea (Naroa Intxausti),
Agrippina (Francesca Lombardi Mazzulli), Nerone (Valer Sabadus), Narciso (Sora
Korkmaz) und Pallante (Tomi Wendt)).
Die Handlung der Oper verquickt mehrere zeitlich nicht zusammengehörende
historische Ereignisse, die in den Annalen des Tacitus und den
Kaiser-Viten Suetons überliefert sind. Kaiserin Agrippina glaubt, dass ihr
Ehemann Claudio (Claudius) in einem Sturm auf hoher See den Tod gefunden habe,
und setzt nun alles daran, ihren Sohn Nerone (Nero) mit Hilfe der beiden
Höflinge Pallante (Pallas) und Narciso (Narcissus) zum neuen Kaiser wählen zu
lassen. Doch Claudio ist von seinem Feldherrn Ottone (Otho) aus den Wogen des
Meeres gerettet worden und verspricht diesem nun aus Dankbarkeit, ihn zu seinem
Nachfolger zu ernennen. Agrippina plant eine Intrige, indem sie Poppea, die
Ottone liebt, allerdings auch von Claudio und Nerone begehrt wird, einredet,
dass Ottone sie zugunsten des Throns Claudio überlassen wolle. Poppea bewirkt
daraufhin beim Kaiser, dass dieser Ottone fallen lässt und stattdessen Nerone zu
seinem Nachfolger auswählt. Doch Poppea durchschaut den Schwindel und kann
Ottone rehabilitieren. Agrippinas Ränkespiele fliegen auf. Allerdings kann sie
sich mit der Entschuldigung retten, dass sie nur in Claudios Interesse gehandelt
habe. Da Ottone für Poppea auf den Thron verzichten will, lenkt Claudio ein und
ernennt Nerone erneut zu seinem Nachfolger. Juno steigt mit ihrem Gefolge vom
Himmel herab, um den kaiserlichen Entscheidungen ihren Segen zu geben.
Triumphale Rückkehr als Kindergeburtstagsfeier
(von links: Ottone (Terry Wey), Poppea (Naroa Intxausti), Agrippina (Francesca
Lombardi Mazzulli), Claudio (Hans Christoph Begemann), Narciso (Sora Korkmaz),
Pallante (Tomi Wendt) und Nerone (Valer Sabadus))
Regisseur Balász Kovalik verzichtet in seiner Inszenierung nicht nur auf den
göttlichen Auftritt am Ende der Oper, sondern scheint auch den nachvollziehbaren
Motivationen seiner Figuren zu misstrauen, so dass er sich entschließt, die
ganze Handlung in eine Kindertagesstätte zu verlegen, die von Tante Sigrid
(Sebastian Songin) geleitet wird. In einem Ambiente mit Rutsche, Kletterturm,
Schloss und Papiervögeln unter der Decke, was Kindern sicherlich als Spielfläche
große Freude bereiten würde, bewegen sich die Protagonisten als Vorschulkinder
in entsprechender Kostümierung über die Bühne (Bühnenbild und Kostüme: Lukas
Noll) und spielen (?) oder träumen (?) die Handlung. In diesem Punkt bezieht die
Inszenierung keine deutliche Position. Nacheinander werden die Figuren der Oper
von Tante Sigrid in den Raum geführt und bleiben dort auch, so dass der erste
Teil bis zur Pause suggeriert, dass die ganze Geschichte nur gespielt ist.
Claudios triumphale Rückkehr ist dann auch eine große Geburtstagsfeier mit
Kerzen und Geburtstagskuchen, der dann im Gesicht des in Ungnade gefallenen
Ottone landet. Bei diesen Albernheiten darf natürlich auch die Spinatschlacht
beim Mittagessen nicht fehlen.
Agrippina (Francesca Lombardi Mazzulli) wird von
schrecklichen Alpträumen gequält.
Nach der Pause ist erst einmal Schlafenszeit in der Kindergruppe. Nur Agrippina
wird von Alpträumen geplagt, sieht die großen Stofftiere plötzlich auf sich zu
krabbeln und weckt nacheinander die anderen Kinder, um ihre Intrigen
weiterzuspinnen. Dies geschieht natürlich kindgerecht, indem bei einzelnen Arien
wie bei einem Abzählreim in kindlichen Bewegungen getanzt wird. Erst als Nerone
irgendwann der Kragen platzt und er anfängt die anderen mit roter Farbe zu
beschmieren, wird es Tante Sigrid zu bunt und sie wird böse - wie einzelne
Zuschauer übrigens auch, die in der folgenden Sequenz lauthals "Aufhören" rufen.
Nach einer strengen Ansprache fordert die Kindergartentante die Kinder auf, sich
jetzt gegenseitig zu streicheln und wieder lieb zu haben. Diese Szene wirkt zwar
in der Tat lächerlich, die eigentliche Handlung der Oper, in der Claudio sich
dann den Wünschen seiner Untertanen fügt, aber nicht weniger, so dass man auf
diese Weise vielleicht wirklich ein an sich unglaubwürdiges lieto fine
motivieren kann. Jedenfalls schließt sich der Jubelchor mit einem "Häschen in
der Grube" - Spiel hieran nahezu stimmig an.
"Nun habt euch doch endlich wieder alle lieb!"
(von links: Tante Sigrid (Sebastian Songin), Agrippina (Francesca Lombardi
Mazzulli), Poppea (Naroa Intxausti), Claudio (Hans Christoph Begemann), Pallante
(Tomi Wendt), Narciso (Sora Korkmaz), Ottone (Terry Wey) und Nerone (Valer
Sabadus))
Doch Kovalik lässt die Oper nicht mit diesem Chor enden, sondern greift erneut
Agrippinas Arie aus dem zweiten Akt "Pensieri, voi mi tormentate" wieder auf, in
der die Kaiserin den Erfolg ihrer Intrigen gefährdet sah und voller Unruhe neue
Pläne schmieden musste. Auch am Ende scheint Agrippina noch nicht am Ziel ihrer
Wünsche zu sein. Zwar hat Claudio Nerone erneut zu seinem Nachfolger ernannt,
doch bis zu Claudios Ableben kann noch viel passieren, was vielleicht eine
Anspielung darauf sein mag, dass Agrippina ihren Gatten vergiftet haben soll, um
den Weg für ihren Sohn endlich frei zu machen. Vielleicht sind das die Gedanken,
die Agrippina bewegen, wenn sie aus der Szene vor die herabgelassenen
Fädenvorhänge tritt, bevor sie sich anschließend zwischen die anderen Kindern
hinter dem Vorhang einreiht.
Während die Inszenierung vom Publikum durchaus kontrovers betrachtet wird, ist
man sich über die musikalische Gestaltung einig. Michael Hofstetter wird seinem
Ruf als Barockexperte mehr als gerecht und verwandelt das Philharmonische
Orchester Gießen in einen barocken Klangkörper, der Händels Musik bis ins
kleinste Detail zelebriert. Hans Christoph Begemann überzeugt in der Rolle des
Claudio mit kräftigem, dabei aber stets beweglichem Bariton. Tomi Wendt und Sora
Korkmaz gefallen als intrigante Höflinge Pallante und Narciso, wobei nicht ganz
klar wird, wieso Kovalik Narciso als Mädchen darstellt, da die erotische
Anziehung zu Agrippina dadurch verloren geht. Naroa Intxausti glänzt als
niedliche Poppea im rosa Kleidchen mit leuchtendem Sopran und perlenden
Koloraturen, wobei sie auch in ihrer kindlichen Darstellung entzückend wirkt.
Großartig ist ihr Duett mit Terry Wey, das in der Uraufführung in Venedig
gestrichen werden musste, da die beiden Sänger damals stattdessen zwei Arien
verlangten. Zwar wirkt es in der Inszenierung etwas deplatziert, da Wey und
Intxausti im Parkett sitzen, wenn sie dieses Duett beginnen und erst im Verlauf
des Stückes auf die Bühne gehen, außerdem auch noch nicht die Kinderkostüme
tragen, in denen sie später in Tante Sigrids Gruppe auftreten, was allerdings
dem musikalischen Genuss keinen Abbruch tut.
Terry Wey begeistert als Ottone mit einem wunderbar warmen Countertenor. Ein
Glanzpunkt stellt sicherlich seine große Arie "Voi que udite il mio lamento" im
zweiten Akt kurz vor der Pause dar, in der Ottone den Verlust Poppeas beklagt.
Wey gelingt in dieser Szene auch darstellerisch eine Innigkeit, die unter die
Haut geht, wenn er sich völlig frustriert in den Waschraum zurückzieht und
befürchtet, dass er sich in die Hosen gemacht habe. Valer Sabadus verfügt als
Nerone über eine Stimmlage, die es fast mit jedem Sopran aufnehmen kann, wobei
sein Gesang schon beinahe ätherisch klingt. Darstellerisch macht Sabadus
deutlich, welche Gefahr trotz dieser friedvoll klingenden Stimme von dem
künftigen Kaiser ausgehen wird. Francesca Lombardi Mazzulli stattet die
Titelpartie mit einem kraftvollen Sopran aus und verleiht der Figur bei allen
kindlichen Bewegungen durchaus eine gewisse Bedrohlichkeit, die auf die
historische Agrippina anspielen mag. Höhepunkt ihrer Darstellung dürfte die
bereits oben erwähnte Arie "Pensieri, voi mi tormentate" sein, mit der der Abend
endet und die das Publikum in frenetischen Applaus für die Sänger und Musiker
ausbrechen lässt. Ob man die Intrigen der römischen Antike stimmig in eine Kindertagesgruppe übertragen kann, ist fraglich. Musikalisch bietet das Theater Gießen aber einen großartigen Barockabend, der Festspielcharakter hat. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung Bühne und Kostüme Licht
Dramaturgie
Philharmonisches Orchester
SolistenClaudio
Agrippina
Nerone Poppea Ottone Pallante
Narciso
Tante Sigrid
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E-Mail: oper@omm.de