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Der Tod und das Mädchen
Von Joachim Lange
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Fotos Bernd Uhlig / La Monnaie An der Brüsseler La Monnaie-Oper fühlt man sich unter Peter de Caluwe dem aufregenden Musiktheater allemal mehr verpflichtet als der puristischen Exegese. Da ist im Falle von Alban Bergs Lulu die Entscheidung für die dreiaktige Fassung mit der Ergänzung des dritten Aktes von Friedrich Cerha keine Frage. Es gibt also die tumultösen Bilder aus der „feinen“ Gesellschaft, die Spekulation mit den ominösen Jungfrauenaktien, die Erpressung und drohende Verschleppung Lulus in ein ausländisches Bordell, vor allem auch ihren Abstieg zur Londoner Straßenhure samt der tödlichen Begegnung mit Jack the Ripper. Dieser dritte Akt hat nicht nur seine dramatischen Qualitäten. Auch die mutig nachempfundene, gleichwohl einen gewissen Abstand zum Genie wahrende Musik Cerhas muss den Vergleich mit neueren Ergänzungsversuchen, wie jüngst dem von Olga Neuwirth mit ihrer American Lulu an der Komischen Oper in Berlin (siehe auch unsere Rezension), nicht scheuen. Zumindest dann nicht, wenn man so sensibel und souverän wie jetzt Paul Daniel (der kurzfristig eingesprungen ist, weil sich der ursprünglich vorgesehene Dirigent Lothar Koenigs mehrere Rippen gebrochen hatte) mit dem Orchester zu Werke geht. Bei Daniel sind nicht nur die Zwischenspiele von ausgesucht dunkel sinnlicher Faszination. Da besticht jede Passage, ob sie nun auf klar identifizierbares Parlando oder assoziationssattes, scheinbares Tutti-Chaos aus ist. So souverän und (zumindest auf den akustisch guten Plätzen) mit der Bühne verschränkt, transparent und ausbalanciert hört man das nicht oft. Lulu (Barbara Hannigan) tanzt auf Spitze und hat ihr unschuldiges Alter Ego im Kopf. Dabei erweitert der von Gerard Mortier entdeckte und geförderte polnische Regisseur Krzysztof Warlikowski die Ausdrucksmittel nicht nur durch einen englischen, aus dem Off gesprochenen Text über das sagenhafte Urweib Lilith, er beendet den ersten Akt auch mit einem minutenlangen eindringlichen Tanzsolo ohne einen Ton aus dem Graben. Wie er überhaupt Raum zum Nach- und Ausklingen schafft, obwohl er neben den zwei allegorischen Solotänzern (Rosalba Torres Guerrero und Claude Bardouil) noch eine Truppe von Eleven in die Handlung integriert hat, die Bühne also stets reichlich bevölkert, was dem ganzen eine Ebene vermittelt, die Lulus Leben immer mit der kindlichen Unschuld oder der Sehnsucht danach konfrontiert. Ohnehin bleibt der riesige, weiß gekachelte Einheitsraum von Malgorzata Szczesniak auf faszinierende, aber nicht überspannte Weise konkret und unbestimmt zugleich, surreal und opulent. Vor allem liegt er irgendwie unten. Zwei meistens abgedeckte und eine gewöhnliche Rolltreppe dazwischen sind der Zugang zu diesem magischen Raum. Es gibt silbrige Zwischenvorhänge als Spiel mit der Theatersituation, sparsames Designermobiliar als Verweis auf die Zeitlosigkeit und einen großen, gläsernen Container, in dem zu Verbergendes für alle sichtbar abläuft. Bei Lulu und dem Maler ist es der Raum, in dem der Maler, der hier fotografiert, wie in einem Studio mit sich selbst beschäftigt ist und sich dann mit dem Rasiermesser die Kehle durchschneidet, während er sich dabei aufnimmt. Für die Szene im Varieté reichen die Beine der Tänzer, die unter dem Zwischenvorhang zu sehen sind. Bei Dr. Schön dann gibt es die Übungsstangen an der Rampe wie im Ballettprobensaal. Über die Jungfrauenaktien wird von einer Gesellschaft gesprochen, die in Abendgarderobe auf Klappstühlen sitzen, während ein Mädchen ihren Rock hebt, weil sie das Gerede von den Jungfrauenaktien beim Wort nimmt und mitspielen will. Dietrich Henschel - ein Dr. Schön auf Augenhöhe In London dann rieselt der Schnee und der Glascontainer steht an der Rampe, als gehöre er zu einem Schaufensterstrich. Da torkelt die immer noch ansehnliche Lulu herum wie auf Drogen. Den naturalistischen Verfall braucht man in diesem Umfeld gar nicht. Wenn sich der Lebenskreis der Lulu in London schließt, dann ist das bei Warlikowski nicht der Höhepunkt eines Sozialdramas auf dem Tiefpunkt des Lebens einer komplett gescheiterten Frau, der die Männer reihenweise wegsterben und die bei Dr. Schön, dem einzigen, den sie wirklich liebt, sogar selbst abdrückt, wobei diese Schüsse hier wie eine Naturgewalt mit Donner und Lichtflacker einhergehen, also eher geschehen, als gezielt oder versehentlich abgegeben werden. Im letzten Bild wird vor allem Bergs Idee, dass die Männer aus der Zeit ihres scheinbaren Aufstiegs in verwandelter Gestalt die Wegbereiter ihres Abstiegs sind, tatsächlich zu einer groß gedachten, eindrucksvoll umgesetzten Szene. Der exzellente Dietrich Henschel steht schon als Dr. Schön dieser Lulu nicht nur mit seinem virilen, fast jugendlichen Habitus, sondern auch in der melancholischen Grundhaltung gegenüber den obwaltenden Mächten über dem Gefühlsleben der Menschen viel näher, als man es meistens vorgeführt bekommt. Er bleibt in dieser Nähe auch als wiederkehrender Jack. In Brüssel wird der Mord am Ende zu einer Vereinigung. Der Tod und das Mädchen haben sich gefunden. Die Liebe, die befreit, ist die Vereinigung im Tod, könnte das heißen. Jedenfalls hält der kraftvolle Tänzer, der mit seiner silbrigen Maske, dem hautengen schwarzgemusterten Dress und dem schwarzen Glitzergewand stets präsent war, am Ende die tote Lulu wie einen gefallenen Engel in den Armen. Wenn sich Jack the Ripper an Lulu heranmacht, beginnt sich dieser Tänzer langsam und lasziv aus seinem Dress zu schälen, ganz so, als würde er sich auf einen Liebesakt vorbereiten. Er rammt auch Jack das Messer in den Leib, der es dann gerade noch schafft, auch die Geschwitz zu treffen. Beide sinken danach vor dem gläsernen Container zu Boden und bilden zusammen mit Lulu kein potenzielles Tatortfoto, sondern eine Art Pieta oder Sinnbild für die Hoffnung auf eine andere Welt. Während dieses Bild in eine mythische Dimension verweist, sieht man im Hintergrund, dass sich der alte Schigolch wieder eines kleinen Mädchens „annimmt“ und es scheinbar liebevoll ins Bett bringt und zudeckt. Wohl ist einem dabei nicht. Das grandiose Schlussbild: Lulu (Barbara Hannigan) als gefallener Engel, rechts: Jack the Ripper (Dietrich Henschel), vorne: Die Geschwitz (Natascha Petrinsky) Auf einer Projektionswand aus mehreren Bildschirmen sieht man Videos, die oft das Gesicht der Lulu zeigen, am Ende ist es ein kraterüberzogener Mond im Wandel seiner Phasen. Da es Warlikowski tatsächlich gelingt, Lulu in eine exemplarische Dimension zu heben, wirkt auch das nicht aufgesetzt, sondern fügt sich in die fast surreale Sprache ein. Die Sensation dieser Produktion aber ist Barbara Hannigan. Die kanadische Sopranistin muss der Traum jedes Lulu-Regisseurs sein. Sie singt und tanzt Spitze. Sie ist ein vokal hochsouveränes Darstellerwunder: so jungmädchhaft verführerisch und weiblich selbstbewusst, so nicht ganz von dieser Welt und abgebrüht, so sexversessen und liebebedürftig, so sehr Teufelin und Engel in einem verkörpert das gegenwärtig keine überzeugender. Und dabei wirkt es weder plakativ noch ordinär, wenn sie dem Maler (Tom Randle) an die Hose geht, die Beine spreizt oder ihre Reize bei der Geschwitz ausspielt. Ihr glaubt man, dass ihr Leben Rausch und Fluch zugleich ist. Sie ist ein dunkel funkelnder Diamant und zum Niederknien. Sie ist allein schon den Weg nach Brüssel wert. Aber auch sonst stimmte wieder alles: von Claude Bardouils Choreographie über die gut dosierten Videos von Denis Guéguin bis zum fabelhaften Ensemble. FAZIT Diese Lulu ist ein inszenatorischer und musikalischer Wurf. Und Barbara Hannigan hat mit dieser Lulu erneut ihre Weltklasse als Sängerdarstellerin bewiesen. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Regie Ausstattung
Choreographie
Video
Dramaturgie
Solisten
Lulu
Gräfin Geschwitz
Theatergardrobiere / Gymnasiast / Groom
Maler / Neger
Dr. Schön / Jack the Ripper
Alwa Schigolch Tierbändiger / Athlet Prinz / Kammerdiener / Marquis Theaterdirektor / Banier Mutter Kunstgewerblerin Journalist Polizeikommissar / Medizinalrat /
Professor Diener Eine Fünfzehnjährige Tänzerin Tänzer
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