Veranstaltungen & Kritiken Musiktheater |
|
|
Die Macht des
Gesangs
Von Thomas Molke /
Fotos von Dietmar Janeck
Am 27. April 1812 wurde Friedrich von Flotow geboren. Um dem bald anstehenden
200-jährigen Jubiläum Tribut zu zollen, hat sich das Stadttheater Gießen
entschlossen, diesen Komponisten zu ehren, der den meisten heute nur noch durch
die Oper Martha ein Begriff ist. Doch da man in Gießen seit Jahren
bekannt dafür ist, versunkene Schätze zu heben, hat man sich für ein Werk
entschieden, dessen Uraufführung Flotow 1844, also drei Jahre vor Martha,
zum Durchbruch in Deutschland verhalf. Genauso vergessen wie diese Oper ist auch
die Titelfigur Alessandro Stradella, der zu den größten Komponisten des
Hochbarocks in Italien zählte und mit seinen zahlreichen amourösen Abenteuern zu
einem Mythos des Lebemanns stilisiert wurde, so dass er zu Beginn des 19.
Jahrhunderts in der Kunst, der Musik, der Literatur und auf den Bühnen eine
regelrechte "Stradellamanie" auslöste. Dass diese Geschichten nicht unbedingt
auf wahren Begebenheiten beruhten, tat der Begeisterung für diese Figur keinen
Abbruch. So dürfte die Tatsache, dass Stradella mit einer begnadeten Tenorstimme
Frauenherzen zum Schmelzen brachte, beispielsweise der Fantasie des 19.
Jahrhunderts entstammen, da zu Stradellas Zeit die Stars der Opernszene
Kastraten waren und der Tenorstimme keine besondere erotische Ausstrahlung
zugeschrieben wurde.
Alessandro Stradella (Corey Bix) liebt Leonore
(Anna Gütter) und entführt sie in sein Haus (außen: Damen der Showtanzgruppe
"Soul System" Hungen).
Flotow beschränkt sich in seiner Oper um den Frauenschwarm Alessandro Stradella
auf eine einzige Affäre. So entführt Stradella gleich zu Beginn der Oper im
Trubel des Karnevals die schöne Leonore, die zum einen für den charismatischen
Sänger schwärmt, zum anderen darin die Gelegenheit sieht, einer Hochzeit mit
ihrem Vormund Bassi, einem reichen Venezianer, zu entfliehen. Letzterer will
diese Demütigung natürlich nicht hinnehmen und heuert zwei Gauner, Malvolino und
Barbarino, an, die den Sänger ermorden und Leonore zurückbringen sollen. Als die
beiden Gauner Stradella jedoch singen hören, sind sie von seiner Stimme derart
hingerissen, dass sie ihren Auftrag nicht ausführen und sich stattdessen der
Fangemeinde des Genies anschließen. Bassi unternimmt einen letzten Versuch,
Stradella zu liquidieren, indem er das Kopfgeld erhöht. Der Anschlag auf
Stradella wird ausgeführt, misslingt jedoch und Bassi muss einsehen, dass er
gegen diese Stimme machtlos ist.
Alessandro
Stradella (Corey Bix, Mitte) mit Leonore (Anna Gütter) und seiner Fangemeinde
(Chor) beim "Hochzeitsbankett" auf der Bühne.
Roman Hovenbitzer stilisiert die Titelfigur zu einer Art Pop-Ikone. So glitzert
im Zuschauerraum eine Disco-Kugel und hängen im dritten Akt in Stradellas
Wohnung goldene CDs und Noten als Zeichen für die großen Erfolge des Sängers und
Komponisten. Die Macht der Noten wird auch dadurch unterstrichen, dass die
Mäntel und Umhänge mit Notenzeilen bedruckt sind. Selbst Leonore hat auf dem
Rücken ein Tattoo, das aus einer Notenzeile besteht und die junge Frau somit
nicht nur zur Geliebten und zum Fan, sondern auch zur Muse des begnadeten
Künstlers macht. Stradella erinnert mit seiner weißen Perücke an ein Genie à la
Mozart. Sein glamourös glitzerndes Kostüm wird von einem goldenen Brustpanzer
mit einem leuchtend roten Herzen in der Mitte gekrönt. Dieses rote Herz trägt
auch Leonore auf ihrem weißen Kleid, so dass bereits optisch unterstrichen wird,
dass die junge Frau zu Stradella und nicht zu dem älteren Bassi gehört, der in
seinem langen Morgenmantel und den glatt frisierten Haaren wie ein Fremdkörper
in dieser Glitzerwelt wirkt. Die beiden Gauner wirken mit den Geigenkästen, in
denen sie ihre Waffen verbergen wie Mafiosi aus Filmen der Fünfziger Jahre.
Dabei fehlt Barbarino ein Auge, und auch Malvolino ist im Gesicht durch
scheinbar frühere Auseinandersetzungen gezeichnet.
Stradella (Corey Bix, Mitte) hat die beiden
Gauner Malvolino (Matthias Ludwig, links) und Barbarino (Wojtek Halicki-Alicca,
rechts) seinen Fans eingemeindet. Leonore (Anna Gütter, im Hintergrund) und der
Chor freuen sich darüber.
Beim Chor, der Stradella als Fangemeinde umgibt, schöpft Kostümbildner Bernhard
Niechotz aus dem Vollen, indem er ihn mit bunten Gewändern und weißen
Rokoko-Perücken ausstattet. Besonders erwähnenswert sind an dieser Stelle die
vier Damen der Showtanzgruppe "Soul System" Hungen, die den Sänger mal als
Blumen mit Notenblättern, Schmetterlinge mit Notenflügeln, Putten und in Gold
gekleidete Starlets umgeben. Auch das Bühnenbild von Herrmann Feuchter beweist
sich als sehr wandlungsfähig. So ermöglicht im zweiten Akt der Einsatz der
Drehbühne, Stradellas Wohnung, die mit einem großen roten Bett ausgestattet ist
und an deren Wänden neben Rokokofiguren große Poster des Stars prangen, durch
gleichzeitiges Verschieben der Wandelemente in eine Show-Bühne zu verwandeln,
auf der Stradella große Auftritte feiert. Im dritten Akt ermöglicht dieser
Aufbau zum einen einen Blick in Stradellas Künstlerkabine, sein Schlafzimmer und
auf die Bretter, die die Welt bedeuten. In einem großen Rahmen, der aus dem
Schnürboden herabgelassen wird, schwebt Stradella am Ende mit seiner Angebeteten
in den Bühnenhimmel.
Barbarino (Wojtek Halicki-Alicca, links) und
Malvolino (Matthias Ludwig, rechts) rätseln, ob sie bei einer höheren Prämie
Bassis (Stephan Bootz) Auftrag doch ausführen sollen.
Neben dem Starkult, den Stradella in der Inszenierung betreibt - so betritt er
vor Beginn der Oper unter dem Applaus für den Dirigenten den Zuschauerraum,
beginnt scheinbar die Ouvertüre und vergnügt sich mit seiner Geliebten Leonore
in Kisten, Betten und an Wänden - fügt Hovenbitzer aber noch eine religiöse
Komponente ein, indem einer Madonnafigur große Bedeutung zukommt. Während diese
Figur zunächst im zweiten Akt noch beinahe blasphemisch wirkt, weil sie unter
ihrem weißen Gewand ein nacktes Bein hervorstreckt, wird im weiteren Verlauf
bald klar, dass Stradella Leonore zu dieser Madonna stilisiert. So verwandelt
Stradella im dritten Akt während seines großen Gebetes Leonore durch eine
leuchtende Krone auf dem Kopf und einen blauen Umhang in eben diese Ikone, wobei
Leonore selbst dieser Wandel ein wenig unheimlich erscheint. In diesen Momenten
verschwindet bei Stradella die scheinbare Leichtlebigkeit und er wird zu einem
ernsthaft Liebenden. Dass seine Musik eine göttliche Komponente hat,
unterstreicht Hovenbitzer, wenn er bei einem Hochzeitsbankett an einer Tafel mit
zwölf Chormitgliedern Stradella wie Jesus beim Abendmahl Brot und Wein verteilen
lässt. Dabei wird deutlich, dass Malvolino und Barbarino nicht in der Lage sind,
den Mordauftrag auszuführen. Des Weiteren gelingt Hovenbitzer damit die
Begründung, warum Stradella nach dem vollzogenen Anschlag nicht tot ist, sondern
sich wieder erhebt und in einer Art Apotheose emporsteigt.
Selbst ein Anschlag kann Stradellas (Corey Bix)
Stimme nicht zum Verstummen bringen (hinter ihm: Leonore (Anna Gütter), Damen
der Showtanzgruppe "Soul System" Hungen und der Chor).
Musikalisch bietet die Oper einen Mix aus deutscher romantischer Oper im Stil
von Weber und französischer komischer Oper, für die Flotow vorher komponiert
hatte. Jan Hoffmann führt das Philharmonische Orchester Gießen souverän durch
diesen Stilmix, auch wenn zu Beginn der Ouvertüre das Blech noch ein wenig
unsauber intoniert, was vielleicht der Nervosität vor der Premiere geschuldet
wird. Gesungen wird auf hohem Niveau. Der Chor und Extrachor des Stadttheaters
Gießen unter der Leitung von Jan Hoffmann meistern die Herausforderungen gut,
obwohl es stellenweise noch kleine Probleme mit den richtigen Tempi gibt.
Matthias Ludwig und Wojtek Halicki-Alicca glänzen als Malvolino und Barbarino
mit textverständlichen, kräftigen Stimmen und begeistern durch ihr
komödiantisches Spiel. Stephan Bootz stattet den unsympathischen Bassi mit einem
dunklen Bass aus und gefällt in der Rolle des betrogenen reichen Vormunds. Anna
Gütter verfügt als Leonore über einen strahlenden Sopran und meistert die
zahlreichen Koloraturen mit Bravour. Auch spielerisch überzeugt sie mit ihrem
frischen, kecken Spiel auf ganzer Linie. Die anspruchsvollste Rolle fällt der
Titelpartie zu, für die man den US-Amerikaner Corey Bix engagiert hat. Bix
zeichnet den egomanen Stradella überzeugend und verfügt über einen großen Tenor
mit enormer Strahlkraft. Dennoch wirkt er an einigen Stellen stimmlich mit der
Partie überfordert. So trifft er zwar die hohen Töne sauber, die von Flotow mit
diesem Gesang angestrebte Gänsehaut stellt sich allerdings nicht ein. Auch im
eindringlichen Gebet des dritten Aktes wirkt Bix ein wenig überfordert. Aber
auch diese kleinen Abstriche schmälern die Begeisterung des Publikums nicht, das
die Musiker und das Regieteam mit verdientem und lang anhaltendem Applaus
belohnt. Wer die deutsche Spieloper mag und mal etwas anderes als Martha von Flotow kennen lernen möchte, sollte sich diese Gelegenheit in Gießen nicht entgehen lassen, zumal sie musikalisch und szenisch überzeugt. (Nächste Termine: 9.2.2012, 9. und 24.3.2012 und 14.4.2012 jeweils um 19.30 Uhr und 26.2.2012 um 15.00 Uhr) Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühne Kostüme Licht Choreographie Chor Jan Hoffmann
Dramaturgie
Chor und
Extrachor Mitglieder der Showtanzgruppe Philharmonisches Orchester
Solisten*rezensierte Aufführung
Alessandro Stradella Bassi, ein
reicher Venezianer
Leonore, dessen Mündel
Malvolino Barbarino Wojtek Halicki-Alicca
|
© 2012 - Online Musik Magazin
http://www.omm.de
E-Mail: oper@omm.de