Veranstaltungen & Kritiken Musiktheater |
|
|
Russische Femme fatale
Von Thomas Molke
/
Fotos von Annemie Augustijns (Vlaamse Opera)
Nachdem der Tschaikowski-Zyklus an der Vlaamse Opera 2009 mit dem eher selten
gespielten Werk Mazeppa begonnen hat, was neben der Übernahme im
Theater Bremen aber auch an anderen deutschen Bühnen wie zum Beispiel Karlsruhe
und Aachen wiederentdeckt worden ist, und in der letzten Spielzeit das gängige
Repertoire-Stück Eugen Onegin als Fortsetzung folgte, gibt es in dieser
Spielzeit in Koproduktion mit dem Theater Erfurt eine Rarität des großen
russischen Komponisten, die selbst in Russland selten im Repertoire zu finden
ist. In Belgien handelt es sich dabei sogar um eine Erstaufführung. In
Deutschland war das Werk zum letzten Mal 2005 bei den Sommerfestspielen des
Mariinsky-Theaters St. Petersburg unter der Leitung von Valery Gergiev in einer
Inszenierung von David Pountney zu erleben. In Gent und Antwerpen inszeniert wie
schon bei den bisherigen Tschaikowski-Produktionen im Rahmen dieses Zyklus
erneut die neue Operndirektorin des Staatstheaters Mainz, Tatjana Gürbaca.
Nastasja (Tatjana Pavlovskaya, Mitte hinten) in
ihrer Taverne inmitten ihrer Gäste (Chor und Foka (Jevgeni Polikanin, ganz
rechts)).
Dass Tscharodeika, was sich inhaltlich fast besser mit "Die Bezaubernde"
als dem deutschen Titel Die Zauberin übersetzen lässt, nicht den Sprung
in die Riege der berühmten Opernwerke Tschaikowskis geschafft hat, mag mit der
unbekannten und inhaltlich recht kruden literarischen Vorlage
zusammenhängen. In der Nähe von Nischni Nowgorod betreibt Nastasja eine
Taverne, in der sich Männer aus allen Gesellschaftsschichten einfinden und ihrem
Unmut über die politischen Verhältnisse Luft machen können. Mamirov, dem
Schreiber des Fürsten Nikita, ist dieser konspirative Ort ein Dorn im Auge, und
er versucht, den Fürsten zu überreden, die Taverne zu schließen. Nikita
erliegt allerdings selbst Nastasjas Reizen und ist sogar willens, die Fürstin für sie zu
verlassen. Doch Nastasja liebt Nikitas Sohn Joeri und beschließt, gemeinsam mit
ihm zu fliehen. Allerdings hat sie die Rechnung ohne die Fürstin gemacht, die
ihr am vereinbarten Ort auflauert und sie vergiftet. Joeri verflucht seine Mutter
und wird im folgenden Streit von seinem Vater getötet, weil dieser glaubt, dass
der Sohn ihm die Geliebte geraubt habe. Zu spät erkennt Nikita, was er getan
hat, und verfällt dem Wahnsinn.
Mamirov (Taras Shtonda) informiert die Fürstin
(Irina Makarova) über die Untreue ihres Gatten.
Das Regie-Team um Tatjana Gürbaca hat die Handlung, die eigentlich in der Mitte
des 15. Jahrhunderts spielt, in die Gegenwart verlegt. Klaus Grünberg hat für
jeden Akt ein Bühnenbild konzipiert, das die Geschichte auch in der heutigen
Zeit noch glaubhaft macht und gut mit Tschaikowskis Musik korrespondiert. Der
erste Akt, der musikalisch recht volkstümlich gehalten ist, zeigt Nastasjas
Taverne als großen Quader mit weißen Fliesen, die mit jede Menge Graffiti bemalt
sind. In den Ecken türmen sich weiße Bierkästen auf. Dieser Raum suggeriert zum
einen eine gewisse Freiheit, die auch durch die teilweise recht bunten
Kostüme von Silke Willrett und Marc Weeger unterstützt werden, zeigt aber zum
anderen auch eine gewisse Enge. Die Freiheit, die diese Andersdenkenden
genießen, ist also recht begrenzt. So wird dem Chor und den Statisten, die neben
den Solisten in dem ersten Akt agieren, nicht viel Bewegungsspielraum gelassen.
Warum ein Gast mit Fantomas-Maske nackt in der Taverne herumlaufen muss, bleibt
unklar. Vielleicht will Gürbaca damit betonen, dass in diesem Rahmen alles
erlaubt ist. Nastasja stakst mit hochhackigen Schuhen in einem kurzen schwarzen
Kleid und einem ausladenden schwarzen Federhut zwischen ihren Gästen umher und
setzt beim Fürsten ihre Reize gekonnt ein, um eine Schließung des Etablissements
zu verhindern.
Nikita (Valery Alexeev) bedrängt Nastasja
(Tatiana Pavlovskaya).
Der zweite und dritte Akt, in denen musikalisch wesentlich romantischere Töne
anklingen, konzentrieren sich auf die Welt der Fürstin beziehungsweise auf
Nastasjas Gefühle. Während das Zimmer der Fürstin im zweiten Akt nur von grauen,
recht steril wirkenden Vorhängen begrenzt und von einem riesigen runden Tisch in
der Mitte dominiert wird, was zeigt, dass die Fürstin in ihrer
Bewegung zwar keinerlei Einschränkungen hat, in diesem Ambiente bisweilen aber
sehr einsam ist, ist Nastasjas Zimmer ein kleiner Kasten, der in der Mitte der
Bühne auf einem hohen Podest steht. Dieser Kasten weist wie ihre Taverne weiße
Fliesen auf, nur dass diese nicht mit Graffiti besprüht sind. In ihrem
Privatleben scheint es also nicht so anarchistisch zuzugehen wie in ihrer
Taverne. Inmitten dieses Raumes
steht wie im Zimmer der Fürstin ein großer runder Tisch, der im Gegensatz zum
zweiten Akt diesen kleinen Raum aber nicht dominiert, sondern nahezu erdrückt.
Der Fürst scheint, sich bei Nastasja einrichten zu wollen, ohne dabei zu
erkennen, dass er mit seiner Macht und seinem Einfluss diese kleine Welt zum
Platzen bringt. So weist Nastasja ihn auch von sich. Doch auch mit Joeri kann
sie in dieser Welt kein Glück finden. Hinter dem Raum werden zahlreiche
Häuserfassaden sichtbar und Nastasjas Raum gerät in Schieflage.
Paisi (Nikolai Gassiev, Mitte) belauscht Joeri
(Dmitri Polkopin, rechts) und seinen Vertrauten Ivan (Igor Bakan, links) (rechts
und links außen: Zwei Damen der Statisterie).
Eine Steigerung dieser symbolischen Deutung gelingt Gürbaca noch im vierten Akt.
Dabei verzichtet sie ganz auf die Magie irgendeines Waldes, in dem die Fürstin
die Nebenbuhlerin vergiftet, sondern lässt den Akt in einer Zirkusmanege mit
zahlreichen Zaubertricks spielen. Paisi, der als Bettelmönch mittlerweile als
Spitzel für die Fürstin dient, legt seine Kutte ab und verwandelt sich zunächst in einen
feuerroten Teufel, der für die Fürstin den Todestrank braut, und später in den
personifizierten Tod. Besonders
eindrucksvoll gelingt der Auftritt der Fürstin, die mit Lichteffekten und
Videoprojektionen als ein riesiger Raubvogel hinter dem Zirkusvorhang erscheint,
um anschließend Nastasja den vergifteten Trank zu reichen. Nastasja selbst
wirkt nun nicht mehr so mondän wie im ersten Akt, hat ihren Hut und die
hochhackigen Schuhe abgelegt und scheint gewillt, mit Joeri ein neues Leben zu
beginnen. Aber in einem magischen Zauberkasten wird sie in drei Teile zersägt,
ohne dass diese Teile wieder zusammengesetzt werden. Der Fürst tötet seinen
Sohn, mit der gleichen Schneide, die schon die Geliebte zerlegt hat, und so
bricht er hinter dem Zirkusvorhang an einem schwarzen runden Tisch, an dem die
beiden Toten wie zum Leichenschmaus sitzen, selbst zusammen.
Nastasja (Tatjana Pavlovskaya) wartet auf Joeri.
Doch im Hintergrund naht die Gefahr in Form der Fürstin.
Stimmlich stellt das Werk große Anforderungen an die vier Hauptpartien, die in
Gent von den Solisten in vollem Maße erfüllt werden. Tatiana Pavlovskaya, die
bereits in Mazeppa als Maria glänzte, stattet die Titelpartie mit
dramatischem Sopran aus und hält darstellerisch eine gute Balance zwischen
lasziver Verführerin zu Beginn der Oper und leidenschaftlich liebendem Mädchen
in den Szenen mit Joeri. So wird auch ihre Naivität, mit der sie den vergifteten
Trank annimmt, glaubhaft dargestellt. Olga Savova begeistert mit vollem Mezzo
als ihre Gegenspielerin, die in den Tiefen mit ihrer Stimme bedrohlich wirkt und
sich in den Höhen zu einer rachsüchtigen Furie entwickeln kann. Auch
darstellerisch zeichnet sie ein überzeugendes Rollenportrait dieser gedemütigten
Frau. Dmitri Polkopin meistert die Partie des verliebten Joeri mit kräftigem
Tenor, der in den Höhen über enorme Durchschlagskraft besitzt. Valery Alexeev
verfügt als Fürst über einen kernigen Bass, der zum einen die Härte der Figur,
zum anderen aber auch die Abhängigkeit von Nastasja glaubhaft darstellt.
In den kleineren Partien überzeugen vor allem Taras Shtonda als boshafter
Mamirov mit profundem Bass und Nicolai Gassiev als Bettelmönch und Spitzel Paisi
mit lebhaftem Spiel. Dmitri Jurowski bringt mit dem Symphonischen Orchester der
Vlaamse Opera Tschaikowskis Musik regelrecht zum Blühen und arbeitet
differenziert den volkstümlichen Charakter des ersten Aktes, die romantischen
Melodienbögen in den nächsten beiden Akten und die düstere Stimmung des letzten
Aktes in zahlreichen Schattierungen heraus. So gibt es am Ende berechtigten
und lang anhaltenden Applaus für alle Beteiligten. Wer diese Inszenierung bis
zum 26. November in Antwerpen nicht mehr erleben kann, hat die Möglichkeit diese
Produktion ab dem 2. Juni 2012 im Theater Erfurt zu erleben.
Dieses absolut unbekannte Werk Tschaikowskis kann musikalisch mit den
bekannteren Opern durchaus mithalten und ist auch in Gürbacas schlüssiger
Inszenierung einen Besuch in Gent / Antwerpen oder ab Juni 2012 in Erfurt wert.
|
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühnenbild und Licht
Kostüme
Chor Dramaturgie
Solisten*rezensierte Aufführung
Nastasja
Fürst Nikita Danilitsij Koerljatev
Fürstin Jevpraxija Romanovna
Prinz Joeri
Mamirov
Paisi
Ivan Sjoeran
Foka
Polya
Balakin Potap Loekasj Kitsjiga Nenila
|
© 2011 - Online Musik Magazin
http://www.omm.de
E-Mail: oper@omm.de