Der verlorene Sohn
Von Thomas Molke
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Fotos von Frank Heller
Seit Beginn dieser Spielzeit bietet die Deutsche Oper am Rhein im Opernstudio
erneut sieben jungen Gesangstalenten die Möglichkeit, für zwei
Spielzeiten zum einen eigene Projekte im kleineren Rahmen zu erarbeiten, zum
anderen in Meisterkursen bei ausgesuchten Dozenten - in diesem Jahr unter
anderem bei Deborah Polaski - und in kleineren Partien im Opernhaus weitere
Erfahrungen zu sammeln, bevor sie, wie der letzte Jahrgang gezeigt hat, sich
entweder für Festengagements an anderen Häusern empfehlen - erwähnt sei an
dieser Stelle Jaclyn Bermudez, die seit dieser Spielzeit im Theater Hagen unter
anderem als Mimi zu erleben ist - oder ins eigene Ensemble der Deutschen Oper am
Rhein übernommen werden - zu nennen sind hier Lukasz Konieczny, Dmitry Lavrov
und Alma Sadé. Die erste Produktion des Opernstudios in dieser Spielzeit
beschäftigt sich mit einem Spätwerk von Albert Roussel, einem Komponisten, der
zu seinen Lebzeiten zwar große Erfolge verbuchen konnte, nach seinem Tod 1937
jedoch schnell in Vergessenheit geriet, da sein tonaler Stil im Gegensatz zu den
prägenden Strömungen der damaligen französischen Musikwelt stand und deshalb in
der Rezeptionsgeschichte eher vernachlässigt wurde.
Kann es eine gemeinsame Zukunft für Lucine (Luiza
Fatyol) und Noël (Ovidiu Purcel) geben?
Das Testament der Tante Karoline nimmt im Rahmen von
Roussels musikalischem Schaffen eine besondere Stellung ein, da diese Operette
sich inhaltlich deutlich von den ansonsten mythologischen oder asiatischen
Themen seines restlichen Oeuvres abhebt. Erzählt wird die Geschichte eines
Streits um das Erbe der Tante Karoline. Nachdem die Nichten Béatrice, Noémie und
Christine sehr schnell nach dem Ableben der Tante damit begonnen haben, das Erbe
untereinander aufzuteilen, entdeckt der Notar Maître Corbeau im Tresor ein
Testament, das besagt, dass das gesamte Vermögen dem ersten Sohn zufalle, den
eine der drei Nichten zur Welt bringe. Da die Nichten bis jetzt noch kinderlos
sind, wird ihnen eine Frist von einem Jahr gesetzt, bevor das komplette Erbe der
Heilsarmee zufallen soll. Während die verheirateten Nichten Noémie und Christine
rätseln, ob sie in ihrem Alter noch schwanger werden können, präsentiert die
Nonne Béatrice den Chauffeur der Tante, Noël, als ihren verlorenen Sohn,
den sie als Fehltritt vor 22 Jahren heimlich vor einem Waisenhaus ausgesetzt
hat. So wird der bis dahin mittellose
Noël auf einen Schlag vermögend und kann unter großem Protest
der enterbten Verwandtschaft mit seiner Geliebten, der Krankenschwester Lucine,
glücklich werden.
Doktor Patogène (Bogdan Baciu) scheint über das Ableben der Tante
Karoline recht überrascht zu sein (links: Luiza Fatyol als Lucine).
Inhaltlich lassen sich einige Parallelen zu Puccinis Gianni
Schicchi ziehen. So versucht in beiden Werken die geldgierige
Verwandtschaft, wie sie ein für sie ungünstiges Testament zu ihrem Vorteil
auslegen kann. Die Nonne Béatrice zeigt sich bei Roussel dabei ähnlich
verschlagen wie der eigentlich unbeteiligte Schicchi bei Puccini, dessen Spiel
die Verwandten zu spät durchschauen. Als Béatrice bei der Entlassung und
Auszahlung der Dienstboten im Gespräch mit dem Chauffeur
Noël erkennt, dass er ihr Sohn sein könnte, gibt sie sich
nicht als Mutter zu erkennen, sondern spielt diesen Trumpf erst aus,
nachdem das Testament gefunden worden ist. Daher lässt sich vermuten, dass es
keine plötzlichen Muttergefühle sind, die die Nonne überkommen und die Wendung
herbeiführen, was der Geschichte noch mehr Zynismus verleiht.
Die übertriebenen Kostüme von Stefanie Grau lassen dabei die
geldgierigen Verwandten als Figuren der Commedia dell'arte erscheinen. So
erinnert Noémie mit ihrer Halskrause an einen Harlekin und ihr Mann Jobard in
seiner blauen Pumphose an einen eitlen Geck. Auch Christine und ihr Mann
Ferdinand werden recht extravagant gezeichnet. In diesem Ambiente wirkt nur der
Chauffeur Noël bodenständig.
Christine (Cornelia Berger, rechts), Noémie
(Maria Kataeva, 2. von links) und ihre Männer Ferdinand (Raphael Pauß, hinten)
und Jobard (Attila Fodre, rechts) glauben Béatrice (Jessica Stavros, Mitte)
nicht, dass sie ein uneheliches Kind hat.
Das Bühnenbild, für das ebenfalls Stefanie Grau verantwortlich
zeichnet, besteht lediglich aus einem großen geschlossenen Kubus, der durch
schwarze gespannte Fäden das Ein- und Austreten ermöglicht. Ob dieser Kubus das
Totenzimmer der Tante darstellt, aus dem die Krankenschwester Lucine zu Beginn
erscheint, oder den geknackten Tresor, wenn der Kubus an einer Schnur nach oben
gezogen wird, bleibt der Fantasie des Zuschauers überlassen. Überhaupt arbeitet
Mechthild Hoersch viel mit dem Erhöhen und Absenken der einzelnen Bühnenebenen.
Zunächst sitzt das Orchester hinter dem hochgefahrenen Bühnenpodest, auf dem die
Handlung spielt. Im Verlauf des Stückes wird dann aber dieses Podest
herabgefahren und das Orchester dahinter erhöht, wobei der Kubus nach
Bekanntwerden des Testaments in der Luft hängt. Erst als
Noël sich als Alleinerbe entpuppt, wird das Bühnenpodest
wieder hochgefahren und die protestierenden Verwandten nahezu vom Kubus
eingeschlossen. Während dieses Konzept noch nachvollziehbar erscheint, bleibt
unklar, wieso Hoersch
Noël stets mit einem roten Jojo spielen lässt oder Lucine
verträumt auf einem imaginären Seil balanciert. Auch der Regieeinfall, den
Doktor Patogène mit großen Ohrringen und lackierten Fingernägeln recht feminin
darzustellen, obwohl er der Krankenschwester eindeutige Avancen macht,
erschließt sich genauso wenig wie die Rolle des Chors, der mit einer
Theatermaske in einem dunklen Umhang über die Seitenbühne wankt.
Das soll der Alleinerbe sein? Jobard (Attila
Fodre, links), Noémie (Maria Kataeva, links), Ferdinand (Raphael Pauß, rechts)
und Christine (Cornelia Berger, rechts) mustern
Noël (Ovidiu Purcel, Mitte).
Musikalisch lässt sich bei den jungen Sängerdarstellern viel
versprechendes Potenzial entdecken. An erster Stelle ist hier Ovidiu Purcel als
Chauffeur
Noël zu nennen, dessen heller Tenor bereits enorme
Durchschlagskraft besitzt und der bereits im letzten Jahr in Il matrimonio
segreto begeisterte. Bogdan Baciu setzt als Doktor Patogène mit kräftigem
Bariton und effeminiertem Spiel zahlreiche komische Akzente. Auch David
Jerusalem gefällt als Notar Maître Corbeau mit expressivem Spiel und dunkler
Stimmfärbung. Maria Kataeva und Attila Fodre stellen die geldgierige Nichte
Noémie und ihren Ehemann Jobard sehr überspitzt dar, wobei Kataevas Mezzo und
Fodres Bariton den Figuren voll gerecht werden. Luiza Fatyol stattet die
Krankenschwester Lucine mit einem kräftigen Sopran aus. Jessica Stavros gibt die
Nonne Béatrice mit warmen lyrischen Bögen, wobei nicht ganz klar wird, ob es nur
Regieanweisung ist, dass diese Figur so brav angelegt ist, obwohl sie es doch
faustdick hinter den Ohren hat. Ergänzt werden die Solisten des Opernstudios von
dem langjährigen Ensemblemitglied Cornelia Berger, die als
Christine darstellerisch und stimmlich ein überzeugendes Rollenportrait der
geldgierigen Nichte abgibt, und von Raphael Pauß, der sich als Christines Gatte
Ferdinand nicht weniger habgierig präsentiert.
Das Altstadtherbstorchester Düsseldorf vermag es, unter der Leitung
von Christoph Stöcker die musikalische Klangvielfalt der Partitur, die
bisweilen an Strawinsky erinnert, an anderen Stellen wiederum größere klassische
Bögen aufweist, präzise herauszuarbeiten, und lässt so Roussel als einen
verlorenen Sohn der Musikgeschichte wiederentdecken, von dem man eventuell mehr
hören möchte.
FAZIT
Eine lohnenswerte Produktion, die zum
einen neues Sängerpotenzial präsentiert und zum anderen einen vergessenen
Komponisten des 20. Jahrhunderts wieder ins Bewusstsein des Publikums bringt.
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