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Geschlossene GesellschaftVon Ursula Decker-Bönniger / Fotos von Kai-Uwe Schulte-BunertEigentlich dominiert ein riesiges Scheunentor das Bühnengeschehen. Seine Flügel nehmen die gesamte Raumbreite in Beschlag, trennen die Außen- von der Innenwelt und können nur unter großer körperlicher Anstrengung vieler immer wieder geschlossen werden. Was zu
Beginn der jüngst in Bielefeld Premiere
feiernden Britten-Oper die Pub-Szene strukturiert,
könnte man zum Zeitpunkt dieser ersten Szene
des zweiten Aktes noch für das
Vor-Augen-Führen der musikalischen Illustration
des an der Küste tosenden Unwetters halten.
Schritt für Schritt, Szene für Szene
rückt es näher und entpuppt sich
immer mehr als Schlüssel, um die Subtexte
dieser meistgespielten, immer aktuellen Britten-Oper
zu verstehen.
Unter Hobsons
Trommelschlägen formiert sich das Dorf zum
Marsch auf GrimesIm Juni
1945 bei Sadler's
Wells, dem heutigen Londoner English National Opera
House, uraufgeführt, greift die Peter Grimes
nicht nur die 1810 entstandene poetische Vorlage der
Oper auf, in der der anglikanische Geistliche George
Crabbe ein an die Lebensumstände Oliver Twists
erinnerndes Zeitgemälde des beginnenden 19.
Jahrhunderts und ostenglischen Fischerortes
Aldeburgh malt. Zugleich wird hier alptraumatisch
das Seelengemälde eines gesellschaftlichen
Außenseiters gezeichnet. Sein Lebensplan,
möglichst viel und hart zu arbeiten, um die
verwitwete Dorfschullehrerin Ellen Orford
standesgemäß heiraten zu können,
scheitert. Schlimmer noch. Vom Vorwurf des Mordes an
seinem ersten Lehrling wird Grimes zwar von
Bürgermeister Swallow öffentlich frei
gesprochen, doch die Dorfgemeinschaft isoliert ihn.
Zugleich ist Grimes wilder, von Selbstzweifeln und
Schuldvorwürfen gezeichneter Charakter nicht in
der Lage, sich auf eine Beziehung einzulassen, Rat
und Hilfe von Ellen anzunehmen.
Regisseurin Helen Malkowsky rückt in ihrer
Inszenierung auch die Auswirkungen der gescheiterten
Liebesbeziehung auf die weibliche Hauptrolle ins
Blickfeld: Während in der letzten Szene die
Öffentlichkeit mit Presseaufmachern wie "Murder
or accident", "Grimes (not) guilty" zur Diskussion
aufgefordert wird und der Protagonist auf Anraten
Balstrodes aufs Meer hinausfährt und langsam in
den Bühnenboden versinkt, wandert sich
Ellen in weißem Nachtgewand,
barfüßig, mit gesenktem Blick und wirrem
Haar in den Schlaf.
Zu diesen
ausgewogenen, soziokulturellen Studien der
Regisseurin gehören auch Bilder, die die
Wechselwirkung von Individuum und Gesellschaft
verdeutlichen, z.B. die Bilder zur familiären,
oft auf Gewalt basierenden Erziehungsauffassung der
Eltern im ersten Akt bzw. die Auswirkungen auf das
freie Spiel der Kinder vor dem Kirchgang oder die
von Torben Jürgens anrührend dargestellte
Charakterstudie des angstbesetzten Hobson.
Passend
dazu setzt Saskia Wunsch -abgesehen vom Scheunentor
- verschiedene Bühnenebenen ein und deutet mit
Hafenmauer, Kirchenglocke und einem den Blick in den
Abendhimmel und ruhiger See öffnenden
Bühnenprospekt die jeweiligen Spielorte an. Die
schlichten Kostüme in blassen Grau-, Braun-
oder Blautönen spiegeln die düstere
Atmosphäre der Kriegs- bzw. Nachkriegszeit.
Malkowsky
gelingt vor allem in den Szenen des ersten Aktes
eine ästhetische, choreografisch ausgefeilte
Gestaltung der Massenszenen, bei der die Bedrohung
der Öffentlichkeit geradezu fühlbar wird,
rezitativische und ariöse Abschnitte,
Chöre und Ensembles nahtlos ineinandergreifen
und die dramatische Spannung von Anfang an erhalten
bleibt. Dass dieser Spannungsbogen nach der Pause
nicht ganz erhalten bleibt, mag der Tatsache
geschuldet sein, dass Britten im zweiten und dritten
Akt auch das innerdörfliche Beziehungsgeflecht
von Gewalt, Kinderarbeit und Doppelmoral näher
beleuchtet. Die vermögende, Schlaftabletten
süchtige Witwe Mrs. Sedley verharmlost bei
Malkowky allerdings zu einer lächerlich
wirkenden Miss Marple, die Nichten der Pubbesitzerin
Auntie sind Schottenrock gewandete, junge
Mädchen mit leuchtender Federboa.
Auch
musikalisch ist die Bielefelder Inszenierung ein
Genuss. Zu einem transparent aufspielenden,
klangfarbenreich illustrierenden und spannungsreich
gestaltenden Orchester gesellen sich ein
textverständlich und in variantenreicher,
manchmal bis zum Flüsterton ersterbender
Dynamik singender, geradezu tänzerisch
anmutende Massenbewegungen ausführender,
homogener Chor und ein großes, passend
besetztes, textverständlich artikulierendes
Solistenensemble, das unter der Leitung Alexander
Kalajdzics zu Höchstleistungen auflief.
Der Schein
trügt. Grimes will fischen, Ellen mit dem
Jungen den Sonntag genießen. Allen
voran Peter Bronder in der Rolle des Peter Grimes.
Wie er mit ausgewogenem, klaren Stimmklang
bruchlos zwischen den Registern spielt, in
höchster Höhe die Arie Now the Great Bear and
Pleiades ansetzt und lyrisch anrührend
gestaltet, wie er kraftvoll und doch ohne
Übertreibung die selbstzerstörerischen
Charakterzüge darstellt, immer den
musikalischen Spannungsbogen aufrecht erhält,
ist einem Peter Pears, dem langjährigen
Lebensgeführten Benjamin Brittens und
Erstinterpreten der Titelpartie, ebenbürtig. An
seiner Seite gibt Sarah Kuffner mit klangvollem,
warmem, dunkel gefärbtem Timbre mal dramatisch
gefärbt mal lyrisch schwingend den weiblichen
Kontrapunkt Ellen Orford. Jacek Strauchs
ausgeglichener, tragfähiger Bariton
verkörpert einen kraftvollen, Autorität
ausstrahlenden ehemaligen Kapitän, Ceri
Williams ist eine klangvolle, tiefgründig
dramatisch schwingende Auntie.
Eine sehr stimmige, sehens- und
hörenswerte Inszenierung.
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Produktionsteam Musikalische Leitung Inszenierung Bühne Kostüme Choreinstudierung Dramaturgie Licht
Extrachor des Theater Bielefeld Balletschule des Theater Bielefeld Bielefelder Philharmoniker
SolistenPeter Grimes Peter Bronder Ellen Orford Sarah Kuffner Balstrode Jacek Strauch Auntie Ceri Williams 1. Nichte Cornelie Isenbürger 2. Nichte Christiane Linke Boles Michael Pflumm Swallow Jacek Janiszewski Mrs. Sedley Xenia Maria Mann Pastor Horace Adams Reto Raphael Rosin Ned Keene Daniel Billings Hobson Torben Jürgens Fischersfrau Vuokko Kekäläinen/ Maila Traczyk Fischer Yun Geun Choi/ Paata Tsivtsivadze/ Mark Coles/ Ramon Riemarzik Anwalt Young Sung Im/ Seung-Koo Lim Grimes' Lehrling Aaron Möllmann/ David Puchelski Weitere Informationen |
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