Zur OMM-Homepage Zur OMM-Homepage Veranstaltungen & Kritiken
Musiktheater
Homepage Musiktheater-Startseite E-Mail Impressum



Gegen die Wand

Oper von Ludger Vollmer
Nach dem gleichnamigen Film von Fatih Akin
Libretto vom Komponisten nach einer Idee von Dorotty Szalma
Übersetzung der türkischen Textteile von Gönül Kaya und Orhan Calisi

in deutscher und türkischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 2h 20' (eine Pause)


Premiere im Theater Hagen am 26. Februar 2011

Logo: Theater Hagen

Theater Hagen
(Homepage)
Sie konnten zusammen nicht kommen

Von Stefan Schmöe / Fotos von Stefan Kühle (© Theater Hagen)

Gegen die Wand, Fatih Akins Überraschungscoup der Berlinale 2004, ist nicht unbedingt ein großer Film, aber einer, der in seinen besten Momenten durch seine drastische, ungeschminkte Erzählweise besticht. Sibel, eine junge Türkin in Hamburg, geht eine Scheinehe mit dem deutlich älteren Deutschtürken ein, um dem strengen Elternhaus zu entgehen. „Ich will leben, ich will tanzen, ich will ficken. Und nicht nur mit einem Typen.“ So lautet die lapidare Begründung. Natürlich verlieben die beiden sich irgendwie doch ineinander, das aber entgegen der gewohnten Hollywood-Dramaturgie. Er erschlägt im Streit einen ihrer vormaligen Lover und kommt ins Gefängnis, sie flieht vor der eigenen Familie nach Istanbul, und als die Tür zum happy end offen steht, hat sie ein Kind von einem anderen und ist zu bürgerlich geworden, um den gemeinsamen Aufbruch zu riskieren.

Vergrößerung in neuem Fenster

Am Anfang steht der Selbstmordversuch: Sibel (Kristine Larissa Funkenhauser)

2008 hat der Berliner Komponist Ludger Vollmer, Jahrgang 1961, eine Oper daraus gemacht, deren Libretto – teilweise in türkischer Sprache - im Wesentlichen aus dem verkürzten Originaldrehbuch besteht. Nach der Uraufführung in Bremen ist diese Vertonung 2010 in Stuttgart nachgespielt worden und eben jetzt in Hagen – für ein Werk des zeitgenössischen Musiktheaters, in der Regel mit der Uraufführung auch schon wieder vergessen, ist das eine recht beachtliche Erfolgsserie. Dabei dürfte der Wahl des Sujets die entscheidende Rolle zukommen, nicht umsonst haben der Komponist und das Bremer Theater den „Europäischen Toleranzpreis“ zugesprochen bekommen. Auch in Hagen wird die Produktion begleitet von dem Versuch des Theaters, einen Dialog mit der türkischstämmigen Bevölkerung, konkret mit türkischen Kulturvereinen, zu initiieren. Ein zweifellos ehrenhaftes Unterfangen, und doch bleibt eine Spur Unbehagen, wenn der Komponist vor der Premiere davon spricht, dass auch diese Menschen stärker an der Hochkultur wie der Oper teilhaben sollen. Öffnet ausgerechnet diese doch sehr merkwürdige Oper, die sich selbst solchermaßen zur Hochkultur erhebt, den Weg ins Theater (der doch grundsätzlich auch bei Freischütz oder Maskenball nicht verschlossen ist)?

Vergrößerung in neuem Fenster Hochzeit zum Schein

Wahrscheinlich ist die Wahrnehmung der Produktion ganz entscheidend geprägt davon, ob (und wie gut) man den Film kennt. Ich habe ihn einige Tage zuvor noch angesehen, bin daher mit den Bildern und Dialogen, der harten Sprache, natürlich auch der Musik (die Akin nicht untermalend, sondern situationsbezogen und funktionell einsetzt) im Kopf in die Aufführung gegangen – und alles, wirklich alles, was mich an Akins Film fasziniert, ist in der Oper getilgt. Aus den faszinierenden kaputten Typen sind zwei traurige Königskinder geworden, die zueinander nicht kommen können, die Härte und Direktheit ist mit sentimentaler Soße überzuckert, Akins Raffinesse ist belangloser Opernkonvention gewichen. Natürlich ist Oper ein anderes Medium als Film und gehorcht anderen Gesetzen, muss andere Akzente setzen – aber Vollmer hat eine so extreme Anlehnung an den Film gesucht, dass Vergleiche unumgänglich sind, ja provoziert werden. Er hat eben nicht versucht, sich erkennbar vom Film abzusetzen, im Gegenteil, die Verwendung des originalen Textes betont die Nähe. (Nebenbei: Dass man aus guten Filmen auch spannende und eigenständige – und, wie ich finde, sehr viel bessere - Opern machen kann, hat das Theater Hagen vor einiger Zeit mit Jake Heggie's Dead Man Walking eindrucksvoll gezeigt).

Im ersten Teil (der die Geschichte bis zur Totschlagsszene erzählt) bemüht sich Vollmer um eine filmartige Technik, montiert kurze Szenen mit Überschneidungen, will Tempo erzeugen – und trotzdem habe ich den Ablauf als bleiern langwierig empfunden, weil es nie gelingt, eine Szene für sich sprechen zu lassen. Hier wird mühsam Handlung abgearbeitet, wobei Vollmer nicht die Ruhe hat, Handlungsmotive zu motivieren (gesungener Text benötigt eben doch deutlich mehr Zeit als gesprochener), und so bleibt es bei einer Anhäufung von Behauptungen und Klischees. Weil das immer noch zu lange dauert, führt Vollmer, ein dramaturgischer Offenbarungseid, einen Erzähler ein, der fehlende Handlungsmomente zwischen den Szenen nacherzählt. Opernhafter wird es im zweiten Teil, wo den Hauptpersonen längere reflektierende Arien zugestanden werden, wobei die Texte auf einmal arg pathetisch wirken und die eben noch so eilige Handlung auf der Stelle tritt – da ist es dann anders langweilig (immerhin nach meinem Empfinden ein bisschen weniger als vor der Pause).

Vergrößerung in neuem Fenster

Tragischer Wendepunkt: Cahit tötet einen Rivalen

Die Musik dazu gibt, auch das mag Geschmackssache sein, nicht allzu viel her. Vollmer hat sich intensiv mit türkischer Musik beschäftigt, hat gemeinsame Wurzeln mitteleuropäischer und orientalischer Musik im Mittelalter gefunden und da seinen Ausgangspunkt definiert. Das Kammerorchester ist um türkische Instrumente erweitert, was interessante Klangfarben ermöglicht (da liegt sicher eine Stärke der Partitur). Die Musik klingt mal türkisch, mal klassisch-europäisch (und dann ausgesprochen eklektizistisch). Das ist mitunter reizvoll, wenn sich die unterschiedlichen Sphären durchdringen, wobei das Grundmodell allerdings recht banal ist: Ein charakteristisches Motiv, das der Volksmusik entlehnt sein könnte und insofern irgendwie authentisch klingt, trägt eine Szene und wird endlos wiederholt – oft lassen Philip Glass und die minimal music fröhlich grüßen. An anderen Stellen dominiert das Türkische, ganz plakativ bei der Hochzeit. Aber warum besingt Sibels Bruder die türkische Familienehre mit einer Italianitá, als sei er ein Schüler Puccinis? Weil die ganz großen Gefühle dann doch nur in der mitteleuropäischen Musiksprache zur universalen Geltung kommen? Da hat Vollmers Musik nach meinem Empfinden auch ungewollt einen unangenehm kulturimperialistischen Beigeschmack.

Die Inszenierung durch den Hagener Intendanten Norbert Hilchenbach vermeidet allen filmischen Realismus und spielt auf leerer Bühne, die den Orchestergraben überbaut. Die Musiker sind auf die Hinterbühne verbannt, davor steht die Titel gebende Wand, die dem Format nach auch eine Filmleinwand sein könnte (aber nur für die Übertitelung – deutsch und türkisch – eingesetzt wird). Dadurch wird das Spiel ganz nah an das Publikum heran geholt, unterstrichen durch etliche Auf- und Abtritte durch den Zuschauerraum. Eigentlich kein schlechter Ansatz, aber die Personenführung bleibt allzu hölzern und bemüht, insbesondere in den Szenen mit dem (durchaus eindrucksvoll singenden) Chor. Wenn von „ficken“, „vögeln“ oder „bumsen“ gesprochen wird, klingt das immer ein wenig genant, als wolle man eigentlich doch lieber die opernbewährte „Nacht der Liebe“ herabsinken lassen, und bei all' den genannten Tätigkeiten bleibt die Kleidung natürlich an und die Hose meistens geschlossen – irgendwie ist das ja doch alles etwas peinlich (aber man hat den derben Stoff doch gewollt, oder?). Da bleibt die Regie zu unentschieden zwischen zaghaftem Realismus und halbherziger Abstrahierung. Und Verzicht auf eigenständige Bilder, durch die Reduktion auf ganz wenige Requisiten noch verstärkt, lässt die Geschichte zwar im Kopf entstehen – wenn da nicht Akins Bilder wären, denen eben auch nichts Adäquates entgegen gesetzt wird.

Vergrößerung in neuem Fenster Wiedersehen in Istanbul: Cahit (Radoslaw Wielgus) und Sibel (Kristine Larissa Funkenhauser)

Das Hagener Theater punktet entschieden mit einem ausgezeichneten Sängerensemble. Kristine Larissa Funkenhauser ist eine anrührende Sibel mit klarer, leuchtender und beweglicher, immer schöner Stimme, und natürlich kann sie nichts dafür, dass sie überhaupt nicht türkisch aussieht, sondern wie ein braves deutsches Mädel. Verwegener wirkt da schon Radoslaw Wielgus als Cahit, wobei er mit auch in der Höhe klangschönem Bariton ebenfalls die sehr gesangliche Partie eben ganz im Sinne des Belcanto, also vor allem schön, interpretiert – aber da liegt eben eine Problematik dieser Oper, die dem schmutzigen Stoff zum Trotz partout nicht hässlich sein will. Imposant ist Tenor Svetislav Stojanovic als Sibels Bruder und als Barkeeper. Aber dem Ensemble gebührt insgesamt ein großes Kompliment für eine in allen Partien sängerisch überzeugende Leistung. Das um türkische Gäste an den orchesteruntypischen Instrumenten erweiterte Philharmonische Orchester Hagen spielt unter Leitung von Wolfgang Müller-Salow mit viel Sinn für Vollmers Klangwelten. Das Premierenpublikum zeigte sich fast einhellig begeistert.


FAZIT

Fatih Akins Film wird mächtig weichgespült - ob man sich daran erfreut oder sich ob des gefühlten Kitsches die Haare rauft, bleibt Geschmackssache.



Ihre Meinung ?
Schreiben Sie uns einen Leserbrief

Produktionsteam

Musikalische Leitung
Wolfgang Müller-Salow

Inszenierung
Norbert Hilchenbach

Choreographie
Ricardo Viviani

Bühne
Jan Bammes

Kostüme
Christiane Luz

Licht
Ernst Schießl

Choreinstudierung
Wolfgang Müller-Salow

Dramaturgie
Jan Henric Bogen


Opern- und Extrachor
des Theater Hagen

Statisterie des
Theater Hagen

Philharmonisches
Orchester Hagen


Solisten

Cahit
Radoslaw Wielgus

Sibel
Kristine Larissa Funkhauser

Yunus Güner, Sibels Vater
Michail Milanov

Birsen Güner, Sibels Mutter
Marilyn Bennett

Yilmaz Güner, Sibels Bruder
Svetislav Stojanovic

Hüseyin, Barkeeper in Istanbul
Svetislav Stojanovic

Selma, Cousine von Sibel
Marion Costa

Niko, Barkeeper in Hamburg
Richard van Gemert

Dr. Schiller, Psychiater
Sebastian Joest

Seref, Cahits Freund / Troubadour
Robert Schartel

Kellner in Istanbul, Marmara Hotel
Bernd Stahlschmidt-Drescher

Lukas, Liebhaber von Sibel
Ricardo Viviani

Maren, Cahits Geliebte
Bärbel Stenzenberger

Ein Hochzeitssänger
Dirk Achille

Sly
Götz Vogelgesang

Shane
Bernd Stahlschmidt-Drescher

Mahmut
Wolfgang Niggel

Hilmaz
Vera Käuper-de Bruin

Hatice
Nicole Nothbaar

Canan
Seija Koecher

Totschläger
Krzysztof Jakubowski /
Haci Kusbaygi /
Dirk Achille


Weitere Informationen
erhalten Sie vom
Theater Hagen (Homepage)




Da capo al Fine

Zur OMM-Homepage Musiktheater-Startseite E-Mail Impressum
© 2011 - Online Musik Magazin
http://www.omm.de
E-Mail: oper@omm.de

- Fine -