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Die großmütige Tomyris

Oper in drei Akten

Dichtung von Johann Joachim Hoë

Musik von Reinhard Keiser

Aufführungsdauer: ca. 2h 50' (eine Pause)

Premiere im Stadttheater Gießen am 19. September 2010

(rezensierte Aufführung: 26.09.2010)

 



Stadttheater Gießen
(Homepage)

Viel Barbarenblut zu barocken Klängen

Von Thomas Molke / Fotos von Rolf K. Wegst

Wenn ein Stadttheater sich entschließt, als einziges Haus im gesamten deutschsprachigen Raum eine nahezu völlig in Vergessenheit geratene Barockoper auf den Spielplan zu nehmen, die das letzte Mal vor 20 Jahren in Ludwigshafen ausgegraben worden ist, und man ohne Doppelbesetzungen arbeitet, ist dieses Projekt mit einem gewissen Risiko behaftet. Wenn man aber über ein Ensemble mit ausgeprägtem Teamgeist verfügt, kann der Operndirektor vor der zweiten Aufführung dem Publikum entgegentreten und mitteilen, dass die Hauptdarstellerin zwar erkrankt sei, vom Arzt auch eigentlich Auftrittsverbot habe, sie aber dennoch diese waghalsige Partie mit kleinen Abstrichen singen werde, um das Publikum nicht nach Hause schicken zu müssen. Und das Publikum dankt es der Darstellerin, zu Beginn und vor allem am Ende der Vorstellung, weil es in den Genuss gekommen ist, diese Opernrarität kennen zu lernen.

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Tomyris (Odilia Vandercruysse) wird von Policares (Patrick Henckens, links) und Doraspe (Matthias Ludwig, rechts) heftig umworben.

Reinhard Keiser, den sein Komponistenkollege Johann Mattheson 1740 als den "größten Componisten von der Welt" bezeichnete, ist heutzutage nahezu vergessen und im Bereich der Barockoper von Händel verdrängt worden. Auch kann man als Zuhörer leicht den Eindruck gewinnen, in einer unbekannten Händel-Oper zu sitzen, wobei man  musikgeschichtlich feststellen muss, dass es wohl eher Händel war, der sich von Keiser inspirieren ließ. Im direkten Vergleich fällt auf, dass neben den das Geschehen vorantreibenden Rezitativen die Affekte beschreibenden Arien, die mit zahlreichen halsbrecherischen Koloraturen verziert sind, wesentlich kürzer als bei Händel sind. Michael Schneider, ein ausgesprochener Fachmann im Bereich der Alten Musik, der sich als künstlerischer Leiter von "La Stagione Frankfurt" mit Aufführungen von Musik des 17. und 18. Jahrhunderts einen international beachteten Namen erworben hat, leitet das Philharmonische Orchester Gießen punktgenau durch die klangliche Vielfalt des Werkes, das einmal martialisch barbarisch mit okkulten Geisterbeschwörungen und fliegenden Furien aufwartet, Tanzeinlagen in Form des höfischen Menuetts enthält und dann in  regelrecht lyrischen Momenten die Gefühle und Leidenschaften der Figuren auslotet. Die musikalische Ausgestaltung weckt das Verlangen, künftig mehr von diesem Komponisten zu hören.

Die Handlung ist - wie für die Barockoper typisch - voller Liebeswirrungen und Intrigen. Tomyris (Odilia Vandercruysse), die verwitwete Königin der Messageten, einem indoeuropäischen Reitervolk, hat im Krieg den Perserkönig Kyros besiegt und wird jetzt von den Königen Doraspe (Matthias Ludwig) und Policares (Patrick Henckens) umworben, Krone und Schlafgemach mit einem von ihnen zu teilen. Aber Tomyris liebt den jungen Feldherrn Tigranes (Christian Zenker), der jedoch der Tochter des Perserkönigs, Meroë (Carla Maffioletti) verfallen ist. Diese wiederum trachtet der Königin nach dem Leben. Als ihr Mordkomplott und Tigranes' Liebe zu ihr offenkundig werden, verlangt das Volk das Blut der beiden Verräter. Tomyris ist nun hin und her gerissen zwischen ihren eigenen Gefühlen und Sehnsüchten einerseits, und den politischen Zwängen andererseits. Da erscheint (zumindest gemäß Libretto) ein Bote, der Tigranes als lange verschollenen Sohn der Königin offenbart, so dass Tomyris' Gefühle in Mutterliebe übergehen, sie großmütig den Mordversuch verzeiht und sich mit dem König von Lydien, Policares (natürlich dem Tenor), vermählt, während Tigranes seine geliebte Meroë heiraten kann.

Bild zum Vergrößern Meroë (Carla Maffioletti) ruft die Furien herbei.

Diesem in der Barockoper obligatorischen lieto fine widersetzt sich der Regisseur Roman Hovenbitzer. Während die allgemeine Versöhnung als barocke Notwendigkeit zur Beibehaltung der Weltordnung galt, hat diese Betrachtungsweise in der heutigen Zeit für Roman Hovenbitzer ihre Bedeutung verloren. So setzt er die musikalisch nahezu psychologisch ausgearbeiteten Figuren dahingehend fort, dass Tomyris' Wünsche in Form von Tagträumen eine Parallelwelt aufbauen, in der ihre Großmütigkeit so weit führt, dass sie nicht nur eine Vision von Tigranes' und Meroës Hochzeit hat, sondern auch noch die zukünftigen Enkel auftreten, bis dann durch eine Explosion der Traum platzt und Tomyris vor den geköpften Leichnamen der beiden steht, die im Titel gepriesene Großmütigkeit somit zur Farce wird. Nur aus dem Off hört man nun noch die Lobpreisungen, die die Oper beenden, während Tomyris traumatisiert mit dem Schwert in der Hand über die Bühne wankt. Dieses Ende ist - wie die beiden vorherigen Traumsequenzen -  von Roman Hovenbitzer sehr stark inszeniert. Ein durchsichtiger Prospekt wird in jeder Sequenz  heruntergelassen, auf dem sich rechts und links griechisch anmutende Säulen aus der Froschperspektive gen Himmel erheben, die dann in Wolken münden, aus denen sich die Kuppel eines Tempels - ist hier der Olymp der Götter gemeint? - erhebt. Während Tomyris vor dem Prospekt ihre unglückliche Liebe zu dem Feldherrn Tigranes besingt, sieht man im ersten Traum eine Liebesszene zwischen ihr und Tigranes. Im zweiten Traum erscheinen der schlafenden Tomyris die allegorischen Figuren Rache (Neivi Martinez) und Gerechtigkeit (Eun Mi Suk), die in barocken Kostümen mit weißen Perücken vom Bühnenhimmel herabschweben und in der Luft akrobatische Kabinettstückchen vollbringen. Flankiert wird die Rache von Furien mit Messerhänden - Freddy Krueger aus "Nightmare on Elm Street" lässt grüßen - , so dass eine bedrohliche Atmosphäre entsteht, die schon den nahenden Tötungsversuch Meroës prophezeit. Erst die Gerechtigkeit kann die Furien und die Rache vertreiben. Dass dies nur Illusion ist, wird klar, als Meroë kurz darauf wirklich mit dem gezückten Dolch vor der Königin steht. So sind diese offensichtlichen Illusionen durchaus schlüssig. Über die Illusion am Ende des Stückes mit dem geköpften Tigranes und der enthaupteten Meroë kann man geteilter Meinung sein.

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Tomyris (Odilia Vandercruysse, links auf dem Flügel liegend) erscheinen im Traum die Rache (rechts) und die Gerechtigkeit (Mitte).

Das Bühnenbild von Lukas Noll zeigt einen Flügel mit einem kleinen Stück des Rumpfes eines abgestürzten Kampfflugzeuges,  das beim Absturz wahrscheinlich in einem Barocktheater gelandet ist, so dass man im Hintergrund die stark ramponierten Logen noch erkennen kann. Auch dieses Bühnenbild ist in sich stimmig. So wenig wie das Flugzeug ins Geschehen passt, entsprechen nämlich auch die Figuren der Oper nicht dem Barockrepertoire, da es keine hehren Helden gibt, sondern es sich bei allen Figuren um Barbaren handelt. Direkt bei der Ouvertüre rollt zu den martialischen Klängen der Kopf des Kyros, der dann als Mahnmal auf einem Pflock am rechten Bühnenrand ausgestellt wird. Mitten auf dem Flügel des Flugzeuges befindet sich ein goldener Sattel, der als Thron für Tomyris fungiert und einerseits wohl andeutet, dass die Messageten ein Reitervolk sind, andererseits aber auch symbolisiert, dass die Macht stets nur auf sehr wackeligem Boden steht und man sehr leicht abstürzen kann. Ganz barbarisch werden dann auch die Skalpe der Kriegsopfer als Trophäen auf dem Flugzeugflügel auf einer Stange aufgereiht.

Die Kostüme von Bernhard Niechotz sind sehr fantasiereich gestaltet und muten ebenfalls sehr barbarisch an. So werden der Chor und  die Tanzcompagnie  in schwarze Lederkostüme gesteckt und entsprechen mit ihren langen Mähnen und ihrem rohen Gebaren den stereotypen Vorstellungen eines unzivilisierten Volkes. Die Könige unterscheiden sich vom Volk nur darin, dass ihre Haare kürzer sind. Tigranes sticht als Feldherr durch eine blonde Mähne aus der Masse heraus. Und einzig Tomyris tritt in rotem Kleid auf, wobei das Rot zum einen ihre Liebe, zum anderen das Blut der zahlreichen Opfer symbolisiert, was die Blutspritzer auf dem Flugzeugflügel ebenfalls andeuten. Meroë, in grauer Hose gekleidet, trägt eine Kopfbedeckung in Form einer Kobra, was ihre Gefährlichkeit unterstreicht, aber auch ihrer Verkleidung als Wahrsagerin entspricht. Der tierische Aspekt wird bei ihrem Vertrauten Latyrus (Alexander Herzog) fortgesetzt, der das Fell eines Leoparden auf dem Kopf trägt.

Gesungen wird auf recht hohem Niveau mit nur zwei Gästen, Christian Zenker und Patrick Henckens. Christian Zenker legt die Rolle des Tigranes sehr lyrisch an. Die Koloraturen gelingen ihm sehr gut, wobei er neben dem stimmlichen auch starken körperlichen Einsatz beweist, wenn er sich gegen die beiden Rivalen um die Königin zur Wehr setzen muss. Besonders ergreifend gestaltet er die Kerkerszene, in der er beschließt, seine geliebte Meroë nicht zu verraten, und bereit ist, trotz seiner Unschuld den Tod eines Verräters zu sterben. Patrick Henckens als König Policares und Matthias Ludwig als König Doraspe liefern ein kongeniales Rivalenpaar ab. Dabei wird mit ironischen Seitenhieben nicht gespart, wenn bei der Blutsbrüderschaft der Bariton (Matthias Ludwig) sich ganz lässig den Arm ritzt, wohingegen der Tenor (Patrick Henckens, dessen Stimme ein wenig baritonal eingefärbt ist) sich vor Schmerzen krümmt oder er später im tenoralen Liebesschmerz sein Leid beklagt. Die beiden wechseln ständig zwischen Rivalität und Pseudo-Freundschaft, wobei ihr Gehabe etwas Brutales hat und man gut nachvollziehen kann, dass Tomyris keinen von den beiden Verehrern ehelichen möchte. Bei beiden ist, wie auch bei Christian Zenker, eine sehr hohe Textverständlichkeit lobenswert zu erwähnen. Etwas einzuschränken ist die Textverständlichkeit bei Carla Maffioletti (Meroë), die vor allem die Rezitative sehr scharf und nicht immer ganz präzise ansetzt. In den Arien kann sie dann aber mit klaren sauberen Koloraturen glänzen. Besonders stark sind die beiden Rachearien, in denen sie zum einen schwört, Tomyris zu töten, zum anderen die Furien herbeiruft, die ihr Vorhaben unterstützen sollen. Bewegend gestaltet sie ihre Verzweiflung im zweiten Teil, wenn sie den Geliebten Tigranes nicht sterben lassen will, mit ihrem Schuldeingeständnis jedoch ihren toten Vater verraten muss. Die Interpreten der kleineren Partien liefern ebenfalls eine solide Vorstellung ab.

Bild zum Vergrößern Tigranes (Christian Zenker) und Meroë (Carla Maffioletti) im Kerker.

Und dann bleibt noch die als indisponiert angekündigte Odilia Vandercruysse (Tomyris). Während man zu Beginn der Aufführung bei der Ouvertüre, als Kyros Kopf rollt und sie mit gezücktem Schwert auf dem Flugzeugflügel steht, noch nicht weiß, ob sie aufgrund ihrer Kreislaufprobleme etwas schwankt, ist man sich kurz darauf sicher, dass dieses Schwanken nur die innere Zerrissenheit der Rolle widerspiegelt, denn kurz darauf läuft sie recht flink über die Bühne und es wird ihr sehr viel abverlangt, weil sie sich ständig auf dem wackeligen Flugzeugflügel bewegen muss. Aber sie lässt keine Erschöpfung erkennen, weder im Spiel, noch in der Stimme. Ihr Sopran klingt strahlend klar und sie meistert die Arien mit Bravour, so dass man sich fragt, was denn wohl von dieser Partie gestrichen sein soll. Um das zu erfahren, muss man wohl eine weitere Aufführung besuchen. Erst beim Schlussapplaus wirkt Odilia Vandercruysse dann doch ein wenig erschöpft und man merkt ihr an, dass sie alles gegeben hat, aber jetzt auch dankbar ist, dass sie die Vorstellung so bravourös überstanden hat. Ganz großes Kompliment an eine so ambitionierte Sängerdarstellerin!

Da es sich um die zweite Vorstellung handelte, trat das Regieteam beim Schlussapplaus nicht noch einmal auf. Der Applaus und die Reaktionen des Publikums ließen aber vermuten, dass das Regieteam genauso begeistert aufgenommen worden wäre wie die Solisten, der Chor, die Tänzer und das hervorragend aufspielende Orchester.

 

FAZIT

Eine Opernrarität, deren Wiederentdeckung durchaus lohnenswert ist, vor allem wenn so ambitioniert in einer so ideenreichen Inszenierung gesungen und gespielt wird. Also, nichts wie hin nach Gießen!


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Michael Schneider

Inszenierung
Roman Hovenbitzer

Bühnenbild
Lukas Noll

Kostüme
Bernhard Niechotz

Choreographie
Tarek Assam

Licht

Manfred Wende

Chor

Jan Hoffmann

Dramaturgie
Christian Steinbock

 

Chor des Stadttheater Gießen

Mitglieder der

Tanzcompagnie Gießen

Ensemble Animus

Philharmonisches Orchester

Gießen



Solisten

Tomyris, Königin der Messageten
Odilia Vandercruysse

Doraspe,  König von Damaskus
Matthias Ludwig

Policares, König von Lydien
Patrick Henckens

Tigranes, Feldherr der Messageten
Christian Zenker

Meroë, Tochter des Perserkönigs Kyros

und Geliebte des Tigranes
Carla Maffioletti

Latyrus, Vertrauter Meroës
Alexander Herzog

Orontes, General der Messageten /

Götterbote
Tomi Wendt

Jupiter
Chi Kyung Kim

Die Rache
Neivi Martinez

Die Gerechtigkeit
Eun Mi Suk

 


Weitere
Informationen

erhalten Sie vom
Stadttheater Giessen
(Homepage)



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