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Musiktheater
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Mefistofele

Oper in einem Prolog, vier Akten und einem Epilog
Nach der Tragödie "Faust" (I und II) von Johann Wolfgang von Goethe

Text und Musik von Arrigo Boito


in italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 2 h 50' (eine Pause)

Premiere im Großen Haus des Musiktheaters im Revier am 24. September 2010


Homepage

Musiktheater im Revier
(Homepage)

Und Gott spielt E-Gitarre!

Von Thomas Molke / Fotos von Pedro Malinowski


"Mefistofele" von Arrigo Boito ist sicherlich nicht die bekannteste Faust-Vertonung in Deutschland, folgt aber im Gegensatz zu Gounod, Berlioz und Spohr Goethes Vorlage wesentlich exakter. So vertont der häufig nur als Verdi-Librettist bekannte Boito neben dem ersten Teil auch den zweiten Teil der Tragödie und überträgt einzelne Passagen nahezu wortwörtlich ins Italienische. Warum diese Oper in Deutschland relativ selten zu sehen ist - in NRW wagte sich als letzte Bühne Wuppertal im Jahr 1990 mit einer kongenialen Inszenierung an dieses monumentale Werk - ist sehr bedauerlich, da es musikalisch keinen Vergleich mit den großen Verdi-Opern scheuen muss. Was musikalische Effekte und Arienaufbau betrifft, hat sich Boito wohl stark von Verdi inspirieren lassen. Was jedoch den Einsatz des Chors betrifft, hat Boito Verdi in vieler Hinsicht übertroffen, so dass man dieses Werk als monumentale Choroper bezeichnen kann. Hierin liegt vielleicht der Grund für die relativ seltene Aufführung dieses Werkes. Wenn ein Haus mittlerer Größe wie Gelsenkirchen mit einem solchen Brocken die Spielzeit eröffnet, ist das sicherlich ein Wagnis. Doch der Mut wird belohnt mit einer umjubelten musikalischen Umsetzung durch Rasmus Baumann, einem unglaublich stark spielenden und singenden Chor und einer in jeder Hinsicht stimmigen Inszenierung vom Hausherrn Michael Schulz, der dieses Projekt zur Chefsache erklärt hat (angeblich inspiriert von der Bitte eines Zuschauers, der ihn bezüglich seiner Ring-Inszenierung in Weimar angesprochen habe, doch als Intendant in Gelsenkirchen unbedingt einmal dieses selten gespielte Stück auf die Bühne zu bringen).

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Mefistofele (Dong-Won Seo, rechts) und Faust (Ray M. Wade, Jr., linkst) schließen den Pakt.

Dabei ist die Inszenierung weit von einer klassischen Umsetzung entfernt. Die erste Irritation trifft den Kenner des Stückes beim Durchlesen der Besetzungsliste, die als erste Person Gott (Rüdiger Frank) nennt. Gott singt keinen einzigen Satz in der ganzen Oper, aber musikalisch ist er fast immer präsent. Diese musikalische Präsenz macht Michael Schulz sichtbar, indem er Rüdiger Frank auf die Bühne stellt. Dieser entspricht optisch sicherlich nicht den allgemeinen Vorstellungen des Allmächtigen, wenn man überhaupt eine Vorstellung davon hat. Wie Rüdiger Frank aber in grauem Anzug mit grauem Filzhut, häufig einen kleinen Sitzhocker tragend und einen Einkaufswagen ziehend, die Bühne beherrscht, ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen, ist nahezu göttlich, wenn auch ironisch gebrochen. Da schweben bei dem Prolog im Himmel zwei Erzengel mit riesigen weißen Flügeln in weißer Hose und durchtrainiertem nacktem Oberkörper vom Schnürboden herab, ziehen eine meterhohe rot bespannte Treppe mit einem Thron auf dem obersten Absatz für den Allmächtigen herein, und der pfeift dann auf den Thron und nimmt doch lieber auf seinem Klapphocker Platz. Da ist er den Menschen näher und kann besser mit Mefistofele (Dong-Won Seo) verhandeln. Überhaupt ist er den Menschen sehr nah. So sitzt er in der Gartenszene zwischen Faust (Ray M. Wade, Jr.) und Margherita (Petra Schmidt) und kommentiert mimisch Fausts Äußerungen zur Religion. Auch ist er es, den Margherita im Kerker Hilfe suchend ansingt, als Faust versucht, sie zur Flucht zu überreden. Wie er in dieser Szene der verzweifelten Margherita die Kraft gibt, Faust zu widerstehen, ist ganz große Schauspielkunst. Mefistofele, der durchaus die Übermacht seines Gegners bemerkt, versucht, ihn zu imitieren (herrliches mimisches Spiel zwischen Dong-Won Seo und Rüdiger Frank), während Faust und Margherita in ihrem Duett "Lontano, lontano, lontano" ein letztes Mal von einer gemeinsamen glücklichen Zukunft träumen. Im antiken Griechenland nimmt Rüdiger Frank die gleiche Position zwischen Elena (Majken Bjerno)  und Faust wie in der Gartenszene ein und kommentiert mimisch mit einiger Skepsis Elenas Visionen der "Forma ideal", dem mythischen Land Arkadien. Am Ende ist er es, der Faust zu den Klängen des Chores aus Mefistofeles Fängen befreit und ihn auf dem gen Bühnenhimmel fahrenden Thron Platz nehmen lässt. So kann man sich nach der Vorstellung eine Inszenierung ohne Gott bzw. ohne Rüdiger Frank gar nicht mehr vorstellen, was zum einen dem hervorragenden Darsteller, zum anderen aber auch den genialen und stimmigen Regieeinfällen von Michael Schulz zu verdanken ist. Dass Rüdiger Frank, wenn er schon in dem ganzen Stück kein einziges Wort sagt, wenigstens zwischen den Szenen Gitarre spielen darf, ist wohl ein kleines Zugeständnis an den Mimen, wobei die E-Gitarren-Einlage als Vorbereitung auf den Hexensabbat am Brocken gar nicht so unpassend ist.

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"Wie hältst du's mit der Religion?" Faust (Ray M. Wade, Jr.) mit Margherita (Petra Schmidt) im Garten (in der Mitte: Gott (Rüdiger Frank)).

Das Bühnenbild von Dirk Becker erinnert sehr an das epische Theater à la Brecht. Die Bühne ist in erster Linie Bühne, so dass Umbauten teilweise während des Stückes vor den Augen der Zuschauer vorgenommen werden, um zu zeigen, dass alles nur Spiel ist. So schlurft während der Ouvertüre ein Hausmeister oder Küster (laut Programmheft ein Engel) auf die Bühne, um eine umgekippte Nummerntafel aufzustellen, auf der er dann, wie in der Kirche, die Nummern der zu singenden Choräle einschiebt. Auf einer Schiefertafel schreibt er vor den jeweiligen Szenen an, wo die nächste Szene spielt bzw. worum es in dieser Szene geht. Der Himmel ist recht spartanisch gehalten. Auf die leere Bühne wird lediglich von den beiden Erzengeln die oben erwähnte rote Treppe mit dem Thron auf die Bühne gefahren. Im Hintergrund ist eine Aufzugstür, bei der die Leuchtschrift jeweils andeutet, auf welcher Etage man sich befindet: Himmel (H) oder Erde (E). Mefistofele entsteigt dem Bühnenboden mit allerlei Feuerzauber. Die Gartenszene wird mit einer Leinwand, die eine impressionistische Wiese zeigt, illustriert, was kitschig wirken könnte, wenn nicht davor ein Vorhang wie bei einem Kasperletheater hängen würde. Für den Hexensabbat wird die Bühne hochgefahren und mit Nebel- und grünen Lichteffekten (Jürgen Rudolph) ein wahrer Höllenzauber entfacht. Die Kerkerszene spielt wieder auf einer leeren Bühne, auf der jede Menge Kinderwagen stehen, die Margherita anzuklagen scheinen. Bei der klassischen Walpurgisnacht wird eine riesige Gondel auf die Bühne gefahren, die von denselben Bühnenarbeitern gezogen wird, die dann hinterher auch die Darsteller mit Sackkarren von der Bühne transportieren. Nur der Epilog wird nicht mehr ironisch gebrochen, wenn Faust auf dem Thron des Allmächtigen sitzend gen Bühnenhimmel gefahren wird. Diese heile Welt gönnt man dem Zuschauer dann doch.

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Hexensabbat am Brocken: Mefistofele (Dong-Won Seo) mit dem Chor und dem Extrachor.

Die Kostüme von Renée Listerdal unterstützen die Inszenierung in jeder Hinsicht. So treten Margherita und Marta (Almuth Herbst) in ihrer ersten Begegnung mit Faust in wunderschönen Rokoko-Kostümen auf, Margherita natürlich ganz in unschuldigem Weiß. Im antiken Griechenland wird dieser Aspekt noch stärker hervorgehoben, wenn Elena und Pantalis (Almuth Herbst) in noch aufwändigeren Kostümen mit Rokokofrisur und ausladendem Reifrock in einer Gondel auf die Bühne gezogen werden. Aber dass dies alles nur Illusion ist, wird klar, wenn Nereo (Piotr Prochera) den Frauen den Reifrock wegreißt und darunter eine geschlechtsneutrale Schaufensterpuppe sichtbar wird. So ist alles nur Schein. Mefistofele mutiert vom nur mit einem roten Handtuch bekleideten gefallenen Engel, bei dem auf dem Rücken noch die Narben der fehlenden Flügel sichtbar sind, zu einem immer tierischer werdenden Teufel, wobei seine Hörner und Haare im Verlauf des Stückes immer  länger werden und sich schwarzes Fell vom Pferdefuß in der Gartenszene später über den ganzen Unterleib ausbreitet. Umgekehrt ist die Entwicklung beim Faust, der vom alten Mann in beige-farbenen Tönen zum Herrn in den besten Jahren mit weißem Hemd und schwarzem Anzug einer Operngala wechselt.

Die eigentliche Hauptperson des Stückes ist der Chor, der, erweitert um den Extrachor (Einstudierung: Christian Jeub) und den Kinderchor (Einstudierung: Alfred Schulze-Aulenkamp) hier sowohl sängerisch, als auch szenisch Unglaubliches leistet. Musikalisch unwahrscheinlich homogen, kann der Gelsenkirchener Chor wieder einmal sehr große Spielfreude und Bühnenpräsenz  zeigen. Während die himmlischen Heerscharen im Prolog noch aus dem 2. Rang schallen, treten die Chormitglieder beim Osterspaziergang als rüstige Rentnerschar mit Wanderstöcken auf, deren Treiben man - wie Faust auch - schlecht nachvollziehen kann. Wieso ein Großteil des Chores aufgesetzte Fliegenaugen hat, bleibt Spekulation. Vielleicht soll damit die Vergänglichkeit der Masse als quasi Eintagsfliege beschrieben werden. In der Walpurgisnacht entfacht der Chor eine regelrechte Teufelsmesse, die nicht mit der einen oder anderen Perversion geizt. Parallel zu diesen sexuellen Ausschweifungen im unteren Teil der hochgefahrenen Bühne sieht man auf dem oberen Teil die verzweifelte Margherita mit ihrem Neugeborenen herumlaufen, um es in dem Moment, in dem im unteren Bereich einer scheinbar schwangeren Frau der Bauch aufgeschnitten wird, in den Abgrund zu werfen. Ein abscheuliches Bild, aber in seiner ganzen Abscheulichkeit hervorragend inszeniert. Erst im Epilog darf der Chor dann im strahlenden Weiß Mefistofele machtvoll von der Bühne singen.

Bild zum Vergrößern Faust (Ray M. Wade, Jr.) im Duett mit Elena (Majken Bjerno), rechts und links flankiert von den Erzengeln (Kevin Krysik und Baycan Sarcan) (in der Mitte wieder Gott (Rüdiger Frank)).

Die Solisten singen auf hohem Niveau. Dong-Won Seo gibt szenisch einen sehr glaubhaften Mefistofele ab. Gerade im Wechselspiel mit Rüdiger Frank kann er mimisch sehr gut mithalten. Man spürt bei ihm, wie sehr es Mefistofele ärgert, dass er dem Allmächtigen nicht das Wasser reichen kann. Deswegen hat man am Ende schon fast ein wenig Mitleid mit ihm, wenn er Faust dann wirklich an den Himmel verliert und vom Chor regelrecht von der Bühne geschrieen wird. Stimmlich verfügt Dong-Won Seo über einen sehr schönen Bass, dem aber leider (noch) das Diabolische fehlt. Deshalb wirkt er stimmlich zu brav für die Rolle und die Wirkung seiner Glanzarie "Son lo spirito" (Ich bin der Geist, der stets verneint) verpufft ein wenig, zumal es in der Premiere nicht richtig mit dem Pfeifen geklappt hat. Ray M. Wade, Jr. hat als Faust einen sehr lyrischen Tenor, der in den Höhen bisweilen ein bisschen eng wird, so dass er dort doch sehr pressen muss. Ansonsten legt er die Partie mit sehr breiten Legato-Bögen an. Im szenischen Bereich wirkt er eher passiv, was aber durchaus auch der Rolle entspricht.

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Mefistofele (Dong-Won Seo) hat die Wette gegen Gott (Rüdiger Frank) verloren.

Den stimmlichen Glanzpunkt in der Solistenriege setzen die Sopranistinnen Petra Schmidt als Margherita und Majken Bjerno als Elena. Szenisch verkörpert Petra Schmidt den Wandel vom naiven Mädchen zur verzweifelten Kindsmörderin sehr glaubhaft und schafft es, in ihrer Wahnsinnsarie "L'altra notte in fondo", in der sie von dem Tod ihres Kindes und ihrer Mutter singt, von ganz leisen Piano-Tönen zum hochdramatischen Flehen um Vergebung zu wechseln, so dass der Zuschauer bei dieser Intensität des Gesangs und des Spiels eine wahre Gänsehaut bekommt. Majken Bjerno vermag es vor allem, die Künstlichkeit der Figur Elena herauszuarbeiten. So treibt sie die divenhafte Gestik bewusst auf die Spitze, versucht Faust dazu zu bringen, die gleichen Bewegungen durchzuführen wie sie, singt von Liebe, will aber keinesfalls, dass Faust ihr dabei zu nahe kommt, und wenn er dann sogar noch auf ihr Kleid tritt, schubst sie ihn ein wenig zickig fort, bevor sie  erneut in die selbstverliebten Gesten verfällt. Ihr Auftrittsduett "La luna immobile", welches sie mit Almuth Herbst als Pantalis in der Gondel singt, erinnert stark an die Barcarole aus Offenbachs Hoffmann. So spielt sie nicht nur die Diva, sondern singt sie auch divenhaft schön.

Auch Piotr Prochera, erst als Wagner im Rollstuhl, dann als Nereo im antiken Griechenland, und Almuth Herbst als Marta und Pantalis wissen in ihren Rollen sowohl szenisch, als auch gesanglich zu überzeugen.

Bleibt noch das Orchester unter der Leitung von Rasmus Baumann. Um die sphärische Musik des Prologs und des Epilogs herauszuarbeiten, spielt das Blech aus dem 2. Rang. Das ergibt einen unglaublichen Gesamtklang, der ruhig noch ein wenig wuchtiger hätte sein können. Trotz allem schafft Rasmus Baumann mit der präzise aufspielenden Neuen Philharmonie Westfalen einen Hörgenuss im Prolog und Epilog, der nahezu himmlisch wirkt. Ebenso arbeitet er während der einzelnen Akte die feinen Nuancen der Partitur exakt heraus, so dass die Musik dem Zuschauer mehrmals eine Gänsehaut beschert.

So steht am Ende tosender Applaus für das Orchester, den Chor und die Solisten, Bravorufe - mit einigen vereinzelten Buhs - für das Regieteam.
 

FAZIT

Ein furioser Spielzeitauftakt mit hervorragend einstudiertem Chor, umjubeltem Orchester, sehr guten Solisten und einer stimmigen Inszenierung, die man nicht verpassen sollte.

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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Rasmus Baumann

Inszenierung
Michael Schulz

Bühne
Dirk Becker

Kostüme
Renée Listerdal

Licht
Jürgen Rudolph

Chor
Christian Jeub

Kinderchor
Alfred Schulze-Aulenkamp

Dramaturgie
Anna Grundmeier

Wolfgang Willaschek



Opernchor und Extrachor des
Musiktheater im Revier

Statisterie des
Musiktheater im Revier

Gelsenkirchener Kinderchor

Neue Philharmonie
Westfalen


Solisten

Gott
Rüdiger Frank

Mefistofele

Dong-Won Seo

Faust

Ray M. Wade, Jr.

Margherita
Petra Schmidt

Wagner / Nereo
Piotr Prochera

Marta / Pantalis
Almuth Herbst

Elena
Majken Bjerno

Engel
Baycan Sarcan

Kevin Krysik

Deniz Perez-Barragan




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