Er hat über 60 (!) Opern geschrieben und ist damit auch bei seinem Publikum gelandet. Und dennoch kennt ihn heute, jenseits eines eingeschworenen Kreises von Anhängern, kaum noch jemand. Immer Mal versucht sich ein Opernhaus an einem Werk von Johann Simon Mayr (1763-1845). Dabei erringt der Komponist durchaus Anerkennung, vor allem für seine Fertigkeit, die wortreichen Monologe arios zu umspielen. Und auch, dass der in Bayern geborene, dann aber in Italien zu Ansehen gekommene Mayr ein Lehrer von Donizetti war, also in der italienischen Operngeschichte bemerkenswerte Spätfolgen zu verantworten hat, das lässt sich durchaus nachvollziehen, wenn man hört, wie er seine Protagonisten fordert und ausstattet. Das gilt auch für seine Medea.
Ramón Vargas (Giasone), Elena Tsallagova (Creusa)
Die Bayerische Staatsoper in München hat sich jetzt Giovanni Simone Mayrs (das Programmheft, das selbst wie eine aufgestöberte Ausgrabung aussieht, verwendet die italienische Form des Vornamens) Medea in Corinto angenommen und dabei weder musikalischen noch szenischen Aufwand gescheut. Ivor Bolton war schon unter Nikolaus Bachlers Vorgänger Sir Peter Jonas, am Pult des Bayerischen Staatsorchesters zu einem Gutteil für die Triumphe vor allem der Händel-Produktionen jener Jahre verantwortlich. Natürlich kitzelte er auch aus Mayrs, 1813 uraufgeführter Musik alles heraus, was darin an Originalität, z.B. bei der Begleitung von einzelnen Stimmen durch Soloinstrumente, oder an Opulenz, beim oratorischen Aufrauschen der Chöre, enthalten ist. Bei seinem Versuch, die Dramatik dieses exemplarischen Stoffes in den Ausbrüchen und Wendungen der Titelheldin zu fokussieren hat er zudem mit Nadja Michael eine Sängerdarstellerin zur Verfügung, der die gestalterische Überzeugungskraft allemal wichtiger ist als das makellose Gelingen aller Spitzentöne. Da die Stimmenfreaks (vor allem in Berlin) mit ihr immer besonders unnachsichtig sind, ist ihr der Szenenapplaus in München nicht nur zu gönnen, er hat sie wohl zu der beeindruckendsten Gesamtleistung des Ensembles animiert. Jedenfalls überzeugte sie deutlich mehr, als der etwas blasse Ramón Vargas als Jason.
Nadja Michael (Medea)
Viele der Nicht-Mayr-Fans trieb allerdings nicht nur die musikalische (Wieder-)Entdeckerlust ins Haus am Max-Josefs Platz, sondern die Neugier darauf, was dem Regie-Altmeister Hans Neuenfels in der aparten Kombination mit einer Raumerfinderin wie Anna Viebrock einfallen würde, um der etwas selbstgenügsam und selbstverloren vor sich hinrauschenden Musik (die manchmal nicht nur von Ferne an Mozart oder Beethoven erinnert, sondern die Sehnsucht danach weckt) die exemplarische Tragödie abzugewinnen.
Kenneth Roberson (Evandro), Elena Tsallagova (Creusa), Alastair Miles (Creonte), Chor und Statisten der Bayerischen Staatsoper
Anna Viebrocks Bühne ist diesmal keine Variation ihrer beklemmend genialischen Kleinbürgerhöllen, sondern eine Art offene Palastfassade. Gemeinsam mit den Kostümen von Elina Schnizler setzt sich die Optik dieses Korinth vor allem über die Abgrenzung von Epochen hinweg. Die Damen der korinthischen Oberschicht tragen stilisierte Eleganz, die Herren einen Uniformmix aus allen Zeiten und Regionen. Der alte König Creonte (markant: Alastair Miles), der wie eine Moliere-Figur mit Rigoletto-Buckel herumtigert und schlechte Laune verbreitet, der galauniformierte Jason, der von Jansons neuer Flamme Creusa (mit schlanker Präsenz: Elena Tsallagova) versetzt Egeo (der eindringlich schmachtende Tenor Alek Shrader) und seine smarten Begleiter in einem Schickimicki-Musketier-Look scheinen sich eher im Operettenfundus bedient zu haben, während diverse Bodyguards, Eingreiftruppen und auch die Heldin selbst auf die optische Sparsamkeit tiefschürfenden Regietheaters festgelegt sind. Neuenfels setzt bei der im Titel vorgegebenen Verortung Medeas in Corinto an. Er entlarvt mit seinem souverän eingesetzten Instrumentarium von Zusatzpersonal und aufgehelltem, auf der Szene verdeutlichtem, psychologischem Subtext vor allem die vermeintlich zivilisierte Gesellschaft von Korinth.
Nadja Michael (Medea), Kinderstatisten (Medeas Kinder), Denys Mogylyov (Amor)
Er ist also Christa Wolfs Lesart gar nicht so unähnlich und deutlich mehr am gesellschaftlichen Kontext interessiert, als Marellie kürzlich bei der Grillparzer folgenden Medea Uraufführung von Aribert Reimann in Wien. Doch vor dem Palast von Korinth gehört der öffentlich zelebrierte Ritual-Mord oder das Abknallen bei diversen Putschversuchen ebenso zum gesellschaftlichen Konsens wie das Dulden von Folterspielchen mit Gefangenen oder die Zwangspaarungen der ausdrücklich als Neger gekennzeichneten dienenden Unterschicht. Das ist als enthüllender Blick hinter die Fassade einer geschlossenen Gesellschaft eindrucksvoll, nimmt aber dem Kindermord am Ende dann doch seine exemplarische Dimension. Hier sind es halt zwei Morde mehr. Alle beklagen am Ende den blutigen Tag, und die mit einem Häuschen verkleideten Pferde auf dem Palastdach entschwinden Richtung Schnürboden, weil die Welt nun aus den Fugen ist.
Der Beifall war einhellig. Bis Hans Neuenfels kam. Der kassierte seine Buhs und entschwand Richtung Bayreuth, wo sein mit Spannung erwarteter Lohengrin die diesjährigen Bayreuther Festspiele eröffnen wird. Da wird dann mit Sicherheit auch die Musik etwas mehr im Gedächtnis bleiben.
FAZIT
Die Bayerische Staatsoper hat für ihre Ausgrabung zum Abschluss der Spielzeit große musikalische und szenische Sorgfalt walten lassen. Am Urteil der Rezeptionsgeschichte wird da im Falle dieser Medea gleichwohl dennoch nichts ändern. .
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