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Musiktheater
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Die Meistersinger von Nürnberg

Oper in drei Aufzügen von Richard Wagner
Dichtung vom Komponisten

Aufführungsdauer: 6 Stunden (zwei Pausen)

Premiere im Opernhaus des Staatstheaters Kassel am 13. Februar 2010

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Staatstheater Kassel
(Homepage)

Die Rückkehr der Clowns

Von Bernd Stopka / Fotos: Dominik Ketz

Sie haben eine lange und schwere Geschichte. Man hat sie gefeiert und verflucht, geliebt und gehasst, bejubelt und ausgebuht und sich immer wieder mit den Schlüssel- und Reizwörtern des Textbuches schwer getan. Dabei liefern Richard Wagners „Meistersinger von Nürnberg“ nicht ansatzweise den Sprengstoff, den ihnen die Rezeptionsgeschichte aufgehalst hat – wenn man den Text genau liest und der Musik ebenso genau zuhört. Regisseur Lorenzo Fioroni hat das getan, hat sich vom größten Teil des Ballasts der Historie befreit und erzählt in Bühnenbildern von Paul Zoller und Kostümen von Katharina Gault am Staatstheater Kassel eine etwas andere Geschichte.

Vergrößerung in neuem Fenster Auf den Ruinen der Poesie


Hier zunächst der Versuch einer Inhaltsangabe:
Während des Vorspiels wird der Tempel der Poesie durch eine Explosion zerstört. Auf den Resten der Grundmauern soll ein neues Gebäude errichtet werden. Mit der festlichen Grundsteinlegung beginnt der erste Akt. Magdalene und Eva reichen Wein und Schnittchen, Stolzing und Eva kommen sich näher. Nach der Zeremonie nimmt eine Gruppe alt gewordener Künstler die Ruine in Besitz, und obwohl das Areal sauber aufgeräumt zu sein scheint, entdecken sie voller melancholischer Erinnerungen Insignien und Requisiten aus der Vergangenheit des Gebäudes – und aus dem eigenen Leben.

Die großen Clowns der Vergangenheit wurden hier gefeiert. Der Vorhang ist nur noch ein Fetzen, die Fotographien sind vergilbt, die Kostüme verschlissen, die Requisiten zerbrochen. Die Sitzkisten tragen Aufkleber, die Strahlung oder Verstrahlung symbolisieren. Ist hier eine größere Katastrophe geschehen? Obwohl die Baustelle vom Nachtwächter regelmäßig kontrolliert wird, treffen sich hier heimlich die Freunde der alten Poesie auf den Trümmern ihrer Kunst (selbst dem „Singestuhl“ fehlt ein Bein). Eine Versammlung wurde einberufen. Einer steht Schmiere.

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Versuch einer Begleitmusik


Etwas heruntergekommen erscheint man im Alltagsdress mit Gitarre und Aktentasche. Der Protokollführer singt die Regeln und begleitet sich dazu auf seinem Instrument. Das Ritornell spielen alle mit.
Mit einer langatmigen, von den anderen zunächst unbeachteten Ansprache lobt Herr Pogner seine Tochter als Preis für einen Wettstreit aus. Ein Bewerber, der der Geheimgesellschaft beitreten möchte, um den Preis zu gewinnen, fällt mit seinem Song durch – die anderen wollen ihn auf ihren Instrumenten begleiten, scheitern aber, weil er sich nicht an ihre Regeln hält. Dem Regelrichter Beckmesser platzt beinahe der Schädel unter den Kopfhörern, denn der Gesang wird als Beleg auf Band genommen. Die Fehler streicht er auf einer wahrhaftigen Schiefertafel mit Kreide an. Ausgerechnet jetzt fängt es auch noch an zu regnen. Stolzing lässt eine weiße Taube fliegen, bevor er flüchtet und die anderen in ihren Trümmern einsperrt, in dem er den Bauzaun verschließt. Einzig der Schuhmacher Sachs hat die Chance erkannt, dass das Alte durch Neues (wieder)belebt werden könnte.

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Im Innenhof der Mietskaserne

Im Innenhof einer Mietskaserne. Am Treppenaufgang windet sich ein fliederfarbenes Ranggewächs nach unten, das von Sachs gepflegt wird. Evas Fenster im ersten Stock ist hochzeitlich geschmückt, doch die verzweifelte, aber durchaus energische und selbstbewusste junge Frau wirft ihre Brautschuhe aus dem Fenster. Ihre Haltung wiedergewinnend, kommt sie mit dem Schuster ins Gespräch - glücklicherweise hat sie ihn nicht getroffen. Während sie plaudern sieht man in den Fenstern Szenen des Alltagslebens. Der junge Herr Stolzing, den Eva bei der Grundsteinlegung kennenlernte, jammert über sein Scheitern beim Vorsingen und wird von Eva mit leidenschaftlichem Körpereinsatz getröstet. Die Meisterclowns erscheinen als Geister in den Fenstern – und ganz real betritt ein Mitbewerber um Eva im Clownskostüm die Szene: Herr Beckmesser. Eva und Stolzing verstecken sich auf dem Treppenaufgang und reißen sich die Kleider vom Leib.

Schuster und Clown geraten aneinander, spielen sich jedoch gegenseitig Respekt vor. Der Sänger singt – von Sachs gestört – sein Lied, während die als Eva verkleidete Nachbarin Lene neben Ihm auf der Bank sitzt. Als sie in die Wohnung flüchtet, klettert er auf die Laterne, wird von David, der mit Magdalene verbandelt ist, erwischt und von einer Straßengang brutal zusammengeschlagen. Magdalene hat Mitleid und kümmert sich um den am Boden liegenden Beckmesser. Auch ein Kind aus der Nachbarschaft schaut nach ihm. Sachs wird denunziert und zusammen mit seinem Schlafgast Stolzing von der Bereitschaftspolizei abgeführt. Der Nachtwächter im Fenster der ersten Etage bläst nicht in sein Horn, sondern bläst sich mit einer Pistole das Hirn aus dem Schädel.

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In der Ausnüchterungszelle:
Hans Sachs (Wolfgang Brendel)

Am nächsten Morgen findet sich Sachs in einer Ausnüchterungszelle wieder – ganz realistisch ohne Gürtel und ohne Schnürsenkel, aber mit seinen Regelbüchern. Spätestens hier darf nicht unerwähnt bleiben, dass der Schuhmacher eine ausgeprägte Leidenschaft für Hochprozentiges hat, ohne dabei heruntergekommen zu wirken.  Er macht eher den Eindruck eines Intellektuellen, der sich überfordert fühlt und glaubt, den Anforderungen nur mit Hilfe des Alkohols gerecht werden zu können. Die Schnapsflasche ist das einzige, was er dem Präsentkorb entnimmt, den sein Auszubildender David bei seinem Besuch in den Bau mitbringt.

Auch Stolzing findet sich in der Zelle wieder. Und da die Bücher nun mal da sind und Zeit sowieso, dichtet er vorsichtshalber doch ein Lied für den Wettkampf. Sachs schreibt mit und pinnt die Blätter an die Zellenwand. Während Stolzing zum Verhör geholt wird, erscheint Beckmesser, körperlich und psychisch in desolatem Zustand. (Versehentlich hat man seinen Clownshut hierher mitgenommen. Den will er wohl holen). Er klaut die Blätter mit den Liedstrophen, gerät erneut mit Sachs in Streit - und erhält das Lied geschenkt. Dass er eines der Blätter an der Wand hängen lässt, wird ihm zum Verhängnis: Mit dem unvollständigen Werk kann er nur scheitern.

Sachs und Stolzing werden freigelassen, das Lied bekommt seinen Namen – für den sich allerdings nur Sachs interessiert. Die beiden Paare (David und Lene, Eva und Stolzing) kümmern sich beim Absingen des Taufgesangs nur um das Wesentliche: um sich.

Vergrößerung in neuem FensterDer Kongres tanzt

Inzwischen ist die Clown-Kultur in aller Welt wieder auferstanden und man versammelt sich unter dem restaurierten, zur Flagge stilisierten alten Vorhangrest, um sich zu feiern. Die mitgebrachten Koffer dienen nicht nur als Sitzgelegenheiten, sie bergen auch die eigenen Clownskostüme und können daher nicht im Hotel gelassen werden. Ein neuer Vorhang nach altem Muster wurde hergestellt. Es erscheinen – viel bejubelt – die großen Clowns der Geschichte. Durch seinen unplanmäßigen Aufenthalt unter dem Dach des Gesetzes, kommt Sachs zu spät zum Kongress, wird aber mit einem gewaltigen Geburtstagslied begrüßt. Er ist wer in dieser Gesellschaft – und auch, wenn er in seinem Kostüm als der tragisch-traurige Clown erscheint, bleibt er doch der einflussreiche Drahtzieher.

Beckmesser scheitert mit zerfetztem Kostüm, zerfetzter Seele und zerfetztem Lied. Stolzing begeistert mit seinem in Schlagerstarattitüde vorgetragenen Gesang das Publikum, während Eva mit dem Suchscheinwerferlicht spielend dazu tanzt. Ein Clown will der Smokingträger aber nicht werden. Er zieht zusammen mit Eva den Vorhang einfach zu und geht mit ihr durch den Zuschauerraum ab – ohne sich um das zu kümmern, was Herr Sachs nun singt. Der versucht verzweifelt, die Ordnung zu beschwören, zunächst mit bitterem Ernst, dann durch eine clowneske Szene. Mit seinem gralsähnlich erstrahlten Clownshut verlässt er schließlich die Bühne, während der Schlusschor bei wieder geöffnetem Vorhang aus der Tiefe der schwarzen Bühne erklingt.

Vergrößerung in neuem FensterDie Meistclowns

Das klingt nur ansatzweise nach Wagners Meistersingern, ist aber gar nicht so weit von der Grundidee entfernt. Sieht man von den unlogischen Momenten im großen Rahmen der Handlung ab – also die, die uns dann immer als „interessante Brüche“ verkauft werden – dann erlebt man viel Erhellendes, Spannendes und Unterhaltsames. In einem solchen Handlungsrahmen wird beispielsweise die Absurdität des Verschacherns einer Tochter als Wettbewerbsgewinn umso deutlicher. Ganz stark ist die Szene, in der die Meister die Gesänge von Kothner und Stolzing auf den Gitarren begleiten. Unbefriedigend und nicht überzeugend bleibt die Idee das Ganze in den Rahmen einer Clown-Gesellschaft zu stellen. Besonders befremdet die Situation, dass hier eine untergegangene Kunst wiederbelebt wird. Der Meistergesang in Wagners Libretto steht in voller Blüte.

Die ganz große Stärke dieser Regiearbeit besteht in einer haargenauen Analyse des Textes, der mit geistreicher Präzision durch Mimik und Gestik verdeutlicht wird. Diese Sänger wissen was sie singen. (Ein Satz, der sich nur auf den ersten Blick banal liest…). Da werden Dialoge zu spannenden Gesprächen und die Szenen erhalten Kammerspielqualitäten. Jede Figur ist ganz individuell charakterisiert, auch die „kleinen“ Meister – als Mensch und im dritten Akt als Clown (Paradebeispiel: Geani Brad als Konrad Nachtigall im Kostüm des Charlie Rivel). 

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Beckmesser (Espen Fegran)

Eine überbordende Fülle von Ideen bereichert und ergänzt die Handlung. Keine tiefsinnbeladene Textstelle bleibt unbeachtet, keine ironische Bemerkung verpufft unbemerkt. Wenn Stolzing im zweiten Akt singt „Die Alte ist’s“ richten sich die Blicke zwar auf die verkleidete Eva – doch eine Treppe höher wirft ihm Magdalene für diese Bemerkung einen zickig-bösen Blick zu. Worte, die ansonsten „für sich“ gesprochen werden, richten sich konkret an Menschen. „Da ist er bös’, wenn er nicht spricht“ – singt David zum Gefängniswärter. Und immer wieder richtet Sachs seine Weisheiten direkt an das Publikum.

Andererseits vermeidet der Regisseur jede Spur von pathetischer Emotionalität. Es erscheint einleuchtend, dass Sachs seine Taufrede nachhaltig ins Publikum singt, während die anderen Protagonisten ihn überhaupt nicht beachten, sondern erst einmal die neuesten Neuigkeiten austauschen. Aber das während des Quintetts ein Kind auf der Bühne aktiv wird, sich verkleidet und die Wand mit einer Clownszeichnung bemalt, das zeugt von einer Unterminierung oder Verweigerung des musikalischen Genusses, für die es im Laufe des Abends immer wieder Beispiele gibt.

Auch musikalisch kommen diese „Meistersinger“ nicht als bombastische Festoper daher. Nach einem wenig schwungvollen, seltsam zerfallenen Vorspiel wird im Laufe des Abends Patrik Ringborgs musikalisches Konzept deutlich: Er vermeidet festliches Pathos und betont die lyrischen, sanften, nachdenklichen Töne. Ganz leicht, fast schon tänzerisch lässt er den Choral zu Beginn des dritten Aktes erklingen. Hier und an vielen weiteren Stellen lässt er die Partitur in ungewohnt seidigem Glanz strahlen. Faszinierend. Das Staatsorchester Kassel folgt seinem GMD gern und präzise, die vereinigten Kasseler Chöre fügen sich zu einem harmonischen Ganzen. Kleinere Ungenauigkeiten zwischen Bühne und Graben verzeiht man bei dem außergewöhnlich hohen Engagement aller Beteiligten gern.

Vergrößerung in neuem FensterStolzing (Erin Caves),
Eva (Sara Eterno)

Wolfgang Brendel bringt als hochrangiger Gast viel Erfahrung mit. Er hat den Sachs bis ins Mark durchdrungen und steht auch stimmlich auf dem sicheren Grund, der ihn die hier geforderte außergewöhnliche Charakterzeichnung wie selbstverständlich darstellen lässt. Und das macht ihm ganz offensichtlich auch Vergnügen. Der Schuster lebt. Und wie! Und er singt. Und wie!

Eine Entdeckung ist Erin Caves als Stolzing. Ein jugendlich-dramatischer Tenor mit ausgeprägten lyrischen Qualitäten, wunderschön timbriert und farbenreich, kein hochgepeitschter Bariton, sondern ein echter Tenor, der seine absolut überzeugende Leistung mit phänomenalen Spitzentönen im Preislied krönt. So einen Stolzing erlebt man selten!

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Trauriger Clown: Hans Sachs (Wolfgang Brendel)

Espen Fegran verleiht dem Beckmesser die Mitleid erregende Verzweiflung eines sich benachteiligt fühlenden Mittelständlers. Er ist sich nicht zu schade, seine üppigen stimmlichen Mittel der Interpretation zu unterwerfen und sich vom kultiviert singenden Regelverwalter zum psychisch und körperlich gebrochenen Mann zu entwickeln. Dabei würzt er die Partie zuweilen ganz reizvoll mit einem leichten Sprachfehler. 

Nicht als ein Evchen, sondern als selbstbewusste Eva lässt Sara Eterno ihren kraftvollen Sopran mit stählernem Glanz strahlen. Tobias Schabel brilliert mit Stimmkultur als Kothner. Ausgiebig lässt Mario Klein seinen Bass als Pogner dröhnen. Johannes An ist ein schon recht männlicher David, was der Partie durchaus bekommt und sie sogar etwas aufwertet. Lona Culmer-Schellbachs dunkel-gaumig timbrierte Magdalene hat als Nachbarin auch stimmlich den Hauch einer kupplerischen Frau Marthe. Ungemein individuell gestalten die „kleinen“ Meister ihre Partien, jeder darstellerisch und stimmlich ein Unikum.


FAZIT

Diese Inszenierung ist eigenwillig, aber exakt und klug, ja ausgesprochen geistreich gearbeitet. Die Qualität liegt im Detail,  der große Rahmen lässt Fragen offen. Ob’s gefällt oder nicht muss jeder selbst entscheiden. Lang oder gar langweilig wird der Abend jedenfalls nicht - auch, weil auf hohem Niveau gesungen wird.



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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Patrik Ringborg

Inszenierung
Lorenzo Fioroni

Bühnenbild
Paul Zoller

Kostüme
Katharina Gault

Kampfchoreographie
Klaus Figge

Chor
Marco Zeiser Celesti

Licht
Albert Geisel

Dramaturgie
Ursula Benzing


Staatsorchester Kassel

Opernchor und Extrachor
des Staatstheaters Kassel

Kinderchor Cantamus

Konzertchor Kassel

Mitglieder der Kantorei
Kirchditmold

Statisterie des
Staatstheaters Kassel

Solisten

Hans Sachs
Wolfgang Brendel

Veit Pogner
Mario Klein

Kunz Vogelgesang
János Ocsovai

Konrad Nachtigall
Geani Brad

Sixtus Beckmesser
Espen Fegran

Fritz Kothner
Tobias Schabel

Balthasar Zorn
Adrian Cave

Ulrich Eisslinger
Jürgen Appel

Augustin Moser
Jörn Lindemann

Hermann Ortel
Sebastian Kroggel

Hans Schwarz
Krzysztof Borysiewicz

Hans Foltz
Dieter Hönig

Walther von Stolzing
Erin Caves

David
Johannes An

Eva
Sara Eterno

Magdalene
Lona Culmer-Schellbach

Ein Nachtwächter
Igor Durlovski



Weitere Informationen
erhalten Sie vom
Staatstheater Kassel
(Homepage)




Da capo al Fine

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