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Rastloses Schieben, Hüpfen, Drehen, Stampfen
Von Ursula Decker-Bönniger
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Fotos von Ursula Kaufmann und Pedro Malinowski
Die weiße, nackte Raufasertapete des Bühnenraumes erstrahlt in kalter, indirekter Sparlampenbeleuchtung. Abwechslung bietet dem Auge einzig die vergrößerte Maserung der Tapetenstruktur. Regungslos, wie zu Kunstsäulen erstarrt, aber geordnet hintereinander aufgereiht sitzen bzw. stehen die mit einem einfachen weißen Hemd bekleideten, barfüßigen 14 Tänzerinnen und Tänzer des Ballett Schindowski an der rechten und linken Bühnenwand. Bis auf das gedruckte Gesicht auf der Vorderseite des Hemdes sowie Haare und Gesichtszüge gibt es keine persönliche Note, keine geschlechtliche Unterscheidung. Ganz anders die Henze-Musik des Liederzyklus Voices. Die aus zweimal 11 Liedern bestehende Sammlung trägt den Untertitel „Stimmen der Völker“ und wird aufgrund ihrer Vielseitigkeit auch als „Mikro-Universum“ verschiedenster vokaler und instrumentaler Verfahrensweisen, Tonfälle, Stilmittel, Genre, Text-, Musik-, Kontextbezüge beschrieben. Die Chance, ein Gesamtkunstwerk entstehen zu lassen, hat das Henze-Projekt des MiR vertan. In den Vordergrund gerückt wurde hier die choreographische, bewegungsästhetische Auseinandersetzung mit der die politischen Befreiungsbewegungen der 1970er Jahre unterstützenden, avantgardistischen Henze-Komposition.
Die Musiker, also Dirigent, Mezzosopran und Tenor sowie die mehr als 15 Orchestermitglieder sind hinter dem Publikum erhöht auf den ehemaligen Rängen des Kleinen Hauses platziert. Das ausgefallene Instrumentarium - bestehend aus etwa 70 verschiedenen Klangkörpern - darunter E-Gitarre, Mandoline, Andenflöte, Maultrommel, Waldteufel, Donnerblech, Vibraphon, Celesta, Hammondorgel u.v.a.m. - bleibt unsichtbar. Ebenfalls nicht sichtbar werden in der choreographischen Gelsenkirchener Fassung der Voices die zahlreichen Aktionen der Musiker, das aus Mauricio Kagels Werken der 1960er Jahre bekannte „instrumentale Theater“, mit dem Henze seine 1974 in London uraufgeführte Liedersammlung ausstattet: Die Instrumentalisten spielen auch andere Instrumente, sollen sich vokal betätigen, mit einem String-Yoyo hantieren oder auch Luftballons fliegen lassen. Henze betont den Zykluscharakter der 22 Lieder umfassenden Sammlung, lässt aber ausdrücklich neue Zusammenstellungen und Einzelaufführungen zu. Bei dem in Gelsenkirchen zusammengestellten Lieder-Zyklus, dessen choreographische Bearbeitung den Tänzern 90 Minuten pausenlose, körperliche Höchstleistung abverlangt, fehlt das Heine-Gedicht „Heimkehr“, aus dem Henze die beiden letzten Strophen verwendet und das im Anschluss an die beiden Gedichte zum italienischen Widerstand „Caino“ und „Il Pasi“ die Unmöglichkeit einer Heimkehr nach dem Exil thematisiert. Ausgespart bleiben auch die beiden Texte von Brecht und Padilla, die von Frauengestalten, sich entblößenden, weiblichen Körpern und sinnlicher Befreiung handeln. Desweiteren fehlen Frieds Gedicht „Recht und Billig“, in dem Zeitungsmeldungen und Dokumente über Folterungen, das Massaker von My Lai und Waffenverherrlichung im US-Marinekorps zusammengestellt sind, sowie das Gedicht des kubanischen Autors Miguel Barnet „Patria“, in dem er die Liebe zu seinem Land und die Bereitschaft zu solidarischem Handeln beschreibt.
Die oftmals akrobatische Bewegungssprache Schindowskis stellt den Dichter-Themen von Widerstand, Folter, Unterdrückung und befreiten Lebenswelten, den komplexen, vielfältigen Klangphantasien Henzes mehrdeutige Körperhaltungen gegenüber. Es sind stilisierte Gesten, die an Kampfhandlungen erinnern, sich Sekunden später dann in ein kommunikatives Miteinander verwandeln können, aber auch Fantasiebilder, bei denen das Gleichgewicht auf den Kopf gestellt zu sein scheint. Dabei kommt man nicht aus dem Staunen heraus angesichts der rastlose Beweglichkeit der Tänzer, über den - trotz Wiederholungen – beeindruckenden Variantenreichtum der Gesten. Gliedmaßen wie Hände, Beine, Füße, aber auch andere Gelenkstellen werden ständig gedreht, gestreckt, angewinkelt. Mal in Partnerkonstellationen, mal im Solo entstehen im Nu neue, leicht veränderte Kombinationen, wird die Materie „Körper“ reorganisiert. Selbst beim Thema Widerstand, wo das gestärkte Zusammengehörigkeitsgefühl als kraftvolle Becken- und stampfende Beinbewegung unmittelbar hörbar wird, ist man verwirrt. Bewegt sich ein Automat, eine Maschine auf der Bühne und kein menschlicher Körper oder ein menschlicher Körper mit automatisierten, maschinenähnlichen Gliedmaßen?
Scheinbar wahllos erscheint an der hinteren Bühnenwand mal eine zitierte Gedichtzeile, mal der übersetzte Titel. Der Bewegungs-, Ton- und Wortbezug würde erleichtert, wenn dem Zuhörer, Zuschauer die Texte zur Verfügung stünden oder die jeweilige Szene eindeutig in einen historischen, gesellschaftlichen Zusammenhang gestellt wird, wie z.B. während der Performance zu „Electric Cop“ oder die sinnreiche Verbindung von kräftigen weiblichen Schenkelbewegungen mit der an die Wand projizierten Textzeile „Warum, deutscher Soldat?“. Andere Bezüge wie die Darstellung der Laotse entrissenen Weisheit mittels Kritzelbewegungen in der Luft wirken dagegen eher oberflächlich oder unverständlich, wie auch die fast sakral anmutende Entkleidungs- und Folterszene, deren Wundmale auf einem Schweißtuch verewigt werden. Klangbeispiel: "42 Schulkinder" (Text: Erich Fried) - Uwe Stickert, Tenor (MP3-Datei)
Sehr effektvoll hingegen sind die Schattenprojektionen an der Wand zu den instrumentalen Schrei-Motiven in dem Lied „Screams“. Oder der Beginn, wo es zum Montageprinzip der Musik im Gedichttext heißt „die kubanischen Dichter schlafen nicht mehr“ und ein aufeinanderliegendes Menschenknäuel sich wie in Zeitlupe löst und dabei in langsame, schiebende, ziehende, ja, hüpfende Bewegungen überwechselt.
Die Rastlosigkeit, mit der die bewegten Lieder ineinander übergehen, mag den Zykluscharakter der Komposition hervorheben, aber hier und da hätten ein stehendes Bild, mehr Ruhepunkte der Kreation gut getan. Denn in vielen Liedern – das machte das engagierte Spiel der Neuen Philharmonie Westfalen und der beiden Solisten deutlich, illustriert der sprechende, eigenständige Charakter der Musik mehr, als Bewegungen zu evozieren vermögen.
Bernd Schindowskis Ansatz, die Voices als Ballett tänzerisch auszugestalten, ist sicher nicht ohne Reiz - Henzes künstlerisch politischem Anspruch wird er damit allerdings nicht gerecht. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung und Choreographie
Choreographische Mitarbeit
Bühne
Kostüme
Licht
Chor
Dramaturgie
Solisten
Mezzosopran
Tenor
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