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Kuss der Spinnenfrau
(Kiss of the Spider Woman)


Musik von John Kander
Buch von Terrence McNally
Liedtexte von Fred Ebb
basierend auf dem Roman von Manuel Puig
Deutsch von Michael Kunze

in deutscher Sprache

Premiere am 24. Januar 2009 im Theater Dortmund

Aufführungsdauer: ca. 3h (eine Pause)


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Theater Dortmund
(Homepage)
Hochkarätige NRW-Erstaufführung einer Musical-Rarität

Von Thomas Tillmann

Glaubt man Thomas Siedhoff und seinem "Handbuch des Musicals", dann wurde Kiss of the Spider Woman nach dem Roman von Manuel Puig nicht am 20. Oktober 1992 am Shaftesbury Theatre im Londoner West End erstaufgeführt, sondern bereits am 14. Juni 1992 am St. Lawrence Centre for the Arts, Bluma Appel Theatre, im kanadischen Toronto (Siedhoff weiß auch von einer allerersten Fassung, die mit der Choreografie von Susan Stroman in Purchase nahe New York im Performing Arts Centre der New York State University am 1. Mai 1990 flopte). Am Broadway, wo das Stück vom 3. Mai 1993 bis zum 1. Juli 1995 gespielt wurde, kam das Werk über den Sieg von Liebe, Würde und Fantasie über Brutalität und Verrat auf beachtliche 904 Vorstellungen und wurde mit 7 Tony Awards ausgezeichnet, die deutschsprachige Erstaufführung fand am 28. November 1993 im Wiener Raimund-Theater statt und erlebte 201 Abende. Die Popularität wie andere Ebb-Kander-Hits wie Cabaret und Chicago hat die Spinnenfrau allerdings nie erreicht (der Verlag verweist auf erfolgreiche Produktionen in Coburg und Pforzheim in 2002, am Theater an der Rott Eggenfelden ein Jahr später sowie in Halberstadt und Eisenach in 2005, und im Jahre 2000 gab es die Schweizer Erstaufführung in der Regie von Peter Zeug in St. Gallen, die Hannes Brock gesehen und die ihn inspiriert haben könnte, der Dortmunder Intendanz eine Neuproduktion vorzuschlagen), die Musik ist weniger eingängig und ärmer an Höhepunkten (wie viel mehr macht da das nach Ebbs Tod im Jahre 2007 herausgekommene Curtains her, und es soll da auch noch ein Projekt namens The Visit nach Dürrenmatts Besuch der alten Dame geben, das Kander hoffentlich zuende bringen wird!), auch das südamerikanische Kolorit ist nicht jedermanns Sache, der Stoff komplex, die schwule Thematik weniger unterhaltsam aufgearbeitet wie in dem ewig beliebten La cage aux folles.

Der Abend beginnt mit einem Dialog zwischen den beiden männlichen Protagonisten, Molina, dem schwulen Schaufensterdekorateur, und Valentin, dem heterosexuellen Regimegegner, die sich einige Zeit eine Zelle in einem argentinischen Staatsgefängnis geteilt und sich schätzen und lieben gelernt haben. Die beiden Männer unterscheiden sich durch ihren Umgang mit der Realität: Während Molina nur das sieht, was er sehen möchte - diese Rückzugsmöglichkeiten hat er als schwuler Außenseiter bereits vor dem Knastaufenthalt entwickelt -, sieht Valentin der Realität ins Auge, denn er will sie verändern. Und so träumen beide von einer besseren Welt, was die Möglichkeit einer Annäherung birgt.

Regisseur Klaus Dieter Köhler legt die Geschichte als Erinnerung Valentins an, der dem Folterterror offenbar entkommen ist, inzwischen mit seiner Marta liiert ist und ihr in ihr bürgerliches Leben gefolgt ist - am Ende legt das arrivierte Paar, das am Anfang mit einem Blumenbouquet über die Bühne schreitet, den Strauß am Bühnenrand nieder, der so als Molinas Grab erscheint. Dieser Ansatz ist nicht ungeschickt, denn in einer solchen Erinnerung müssen nicht alle Ereignisse chronologisch erzählt werden, da können sich Folterszenen mit Showacts, Visionen und Alpträumen nahtlos aneinander anschließen und überlappen. Ich persönlich hatte dennoch Schwierigkeiten, nach den sehr intensiven, beklemmenden Momenten der Gewalt (etwa wenn Molina von den - schwach besetzten - Gefängniswärtern Raimund Wissing und Simon Karsten gezwungen wird, sich unter Tränen selbst als "Stück Scheiße" und "schwules Arschloch" zu bezeichnen), den intensiven Gesprächen zwischen diesen grundverschiedenen Menschen, die die Not zusammenführt und zusammenrücken lässt, etwa wenn Valentin mit Durchfall auf das vergiftete Essen reagiert und ihn Molina sauber macht (wie schön, dass die wenigen Lacher im Publikum nach und nach verstummten, irgendwann hatte wohl auch der Letzte kapiert, wie ernst gerade diese Szene ist), auf den Aurora-Glamour umzuschalten, was keine Kritik an der Inszenierung bedeutet, sondern in Terrence McNallys Buch begründet ist (manche vergleichen die Filmerinnerungen Molinas nicht zu Unrecht mit den Vaudevillenummern aus Cabaret, die die eigentliche Handlung spiegeln, was sicher richtig ist, in dem früheren Werk aber besser, organischer gelungen ist).

Technisch ist das alles perfekt gelöst, das Gefängnis ist von Bühnenbildner Wolf Wanninger sehr realistisch gestaltet, die Zelle des Paares lässt sich leicht herunterfahren, um die Bühne unter anderem für die Showszenen frei zu haben, die Jürgen Heiss überzeugend choreografiert hat, exzellentes Licht sorgt für die jeweils richtige Atmosphäre, gleiches gilt für die Projektionen (in vielen Szenen ziehen sich auf diese Weise Stacheldraht oder Maschendrahtzaun über die Bühne oder werden Hintergründe für die Shownummern auf einer kleinen Bühne hinten kreiert).

Gelungen fand ich auch den Einfall, das Stück historisch zu fixieren, das heißt die Handlung in die Zeit der Fußballweltmeisterschaft in Argentinien zu verlegen - wie die Nazis die Olympischen Spiele 1936 für ihre Zwecke instrumentalisierten und erfolgreich wie nie waren, so bediente sich die argentinische Armee des Ereignisses von 1978, wie Peter Burghardts Artikel im Programmheft erklärt (Molina stimmt als Nationalhymne kurz "Don't Cry For Me, Argentina" an, na ja). Nicht zuletzt war damit auch der Rahmen abgesteckt für Ruth Großs Kostüme, von denen natürlich die mondänen Filmroben Auroras das größte Aufsehen erregten. Richtig ist die Entscheidung, das Stück komplett in deutscher Sprache zu bringen, ansonsten hätte man vermutlich noch mehr Zuschauer abgehängt, die ohnehin mit dem schnellen Hin und Her der Gefängnis- und der Showszenen und der merkwürdigen Spinnenfrau-Figur an Grenzen kamen (dass man das eine oder andere Mal den Kopf schüttelt über weniger gelungene Übertragungen von Michael Kunze, fällt da weniger ins Gewicht).

Und Hannes Brock? Jeder weiß, was für ein großartiger Musicaldarsteller er ist, man erinnert sich an mehr als an die großartige Zaza in La cage aux folles, aber eben doch vor allem an sie - und ich persönlich an die hohe Gesangskultur, mit der er diese Glanzpartie, aber auch die neue Rolle des Molina adelt. Brock ist eben ein Künstler, der nicht nur einen Workshop absolviert hat, sondern der das Singen wirklich gelernt hat und ja auch auf eine glanzvolle Opernkarriere zurückblicken kann. Und er ist ein exzellenter, vielschichtiger Schauspieler, der wirklich berührt, wenn er hier etwa von der Erfahrung mit dem Minderjährigen im Kaufhaus berichtet, die ihn ins Gefängnis gebracht hat, von seiner Liebe zu dem verheirateten Kellner (Stephan Boving bewies einmal mehr, wie viel man aus kleineren Rollen machen kann, wenn man sie ernst nimmt, und konnte auch kurz mit seiner schön timbrierten, prägnanten lyrischen Tenorstimme punkten), von seinen Träumen, und auch die Flucht der Figur in die Technicolor-Welt, die er als Gegenentwurf zu einem Leben der Zurückweisung, des Hasses, der Gewalt entwickelt hat, versteht der Künstler glaubhaft zu transportieren, er identifiziert sich mit seiner Filmgöttin und bewegt die Lippen zu ihren großen Songs (und ist Vedette Tatjana eine wunderbare Lisette). Nicht zuletzt gelingt es Brock und seinem Bühnenpartner, die Liebesszene völlig unbefangen, sehr natürlich und dezent zu spielen, da lacht nun niemand mehr. Und doch ist dieser Molina ein Verwandter von Albin und Zaza, wenn er seinen Aufenthalt in der Krankenstation mit "Männliche Schwestern und Morphium - es war herrlich!" kommentiert und Valentin beinahe tragikomisch beim Abschied ein "Rot ist deine Farbe!" mit auf den Weg gibt. Noch etwas Übung braucht vielleicht der letzte Umzug (raus aus den Gefängnisklamotten, rein in den weißen Showfrack, das alles auf offener Bühne hinter einer Reihe von Tänzern, man beneidet ihn nicht), nicht aber der Tango mit Aurora, der sitzt perfekt.

Andreas Wolfram ist ein attraktiver, viriler, ruhig-zurückhaltender Valentin, seine Musicalstimme hat ihre Meriten vor allem in der durchdringenden Höhe, die er im geschickt präsentierten "Am Tag danach" wunderbar präsentieren konnte und damit erwartungsgemäß abräumte (Liza Minnellis im Jahre 1993 erschienene Maxi-CD mit ihrer glamourösen Version dieses vielleicht einzigen Hits aus der Show im englischen Original und Übersetzungen von Charles Aznavour und Gloria Estefan, deren Einnahmen der American Foundation for AIDS Research zugute kamen, kennen die Fans natürlich), aber er wirkte an der Seite von Hannes Brock doch etwas blaß und in den vokalen wie darstellerischen Mitteln begrenzt.

Die schlanke, fast hagere, durchtrainierte und ungemein bewegliche, mitunter tatsächlich wie eine Spinne sich verrenkende Gilda Rebello gibt alles, um eine perfekte Interpretin der Titelrolle zu sein, sie sieht hinreißend aus, sie hat auch einige charaktervolle, charismatische Töne, aber es fehlt dieses letzte bisschen Divaqualität, sie beherrscht nicht wirklich die Bühne und zieht nicht wirklich in ihren Bann, die angestrebte und erreichte Perfektion bleibt allzu kühl, zu routiniert, zu kalkuliert, jedenfalls für meinen Geschmack. Natürlich darf sie auch ein bisschen Akzent haben, das passt zur Rolle und gelingt ihr auch problemlos (das Publikum freut sich besonders über die russische Färbung in den Tatjana-Szenen, in denen sie herrlich überspielt und wirklich komisch ist trotz tragischer, hochdramatischer Attitüde), aber mitunter würde man doch gern mehr vom Text verstehen, gerade bei dieser zwielichtigen, rätselhaften Figur.

Sehr überzeugend in ihrer ganzen Schlichtheit gestaltete Margareta Malevska Molinas Mutter ihr Bekenntnis zu ihrem schwulen Sohn, der ihr nie Schande gemacht habe. Vera Semieniuk sah als Marta entzückend aus, Kammersänger Andreas Becker verstand es, die Spießigkeit und Beschränktheit des Bösen erschreckend natürlich umzusetzen. Ein paar Proben mehr hätten meines Erachtens die Herren des Chores gebraucht, die nicht nur mit einigen Einsätzen kämpften, sondern auch einen Männergesangverein-Ton einbrachten, der in professionellen Musicalproduktionen wie ein Fremdkörper wirkt.

Ralf Lange hatte den Abend musikalisch hervorragend im Griff; an manchen Stellen hätte man sich den Orchestersound vielleicht etwas weniger wuchtig, etwas intimer und "dreckiger" gewünscht, aber da gibt es sicher Vorgaben (und Präferenzen der Musiker offenbar, die vor Beginn des zweiten Teils zum Einspielen Motive aus Wagners Ring intonierten). Der Sound an sich war hervorragend, was ja kein unwesentlicher Punkt für gelungene Musicalproduktionen ist.


FAZIT

So sehr man sich freut, dieses nicht uninteressante, in mancherlei Hinsicht bemerkenswerte Werk von Ebb und Kander gesehen zu haben, so sehr man sich freut, dass das Theater Dortmund sich zurückmeldet mit einer Musicalproduktion, die den Vergleich mit den Häusern der Umgebung keinesfalls scheuen muss, so sehr der Einsatz für die schwule Sache auch 2009 noch wichtig und nötig ist - der ganz große Wurf ist der Kuss der Spinnenfrau als Stück für mich nicht.


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Ralf Lange

Inszenierung
Klaus Dieter Köhler

Bühnenbild
Wolf Wanninger

Kostüme
Ruth Groß

Choreinstudierung
Granville Walker

Dramaturgie
Klaus Angermann

Dramaturgie
Helene Sommer

Choreografie
Jürgen Heiss

Choreografische
Assistenz
Adriana Naldoni


Herrenchor und Statisterie
des Theater Dortmund

Dortmunder Philharmoniker


Solisten

* Besetzung der Premiere

Molina
Hannes Brock

Valentin
Andreas Wolfram

Aurora, die Spinnenfrau
Gilda Rebello

Molinas Mutter
* Margareta Malevska /
Johanna Schoppa

Marta
Vera Semieniuk

Gefängnisaufseher
KS Andreas Becker

Gabriel/
Beobachter von
amnesty international
Stephan Boving

1. Gefangener,
Aurelio
Bernhard Modes /
* Christian Pienaar

2. Gefangener,
Emilio
* Thomas Günzler /
Johannes Knecht

3. Gefangener,
Carlos
* Hans Werner Bramer /
Carl Kaiser

4. Gefangener,
Raymondo
Gerontij Cernysev /
* Georg Kirketerp

5. Gefangener,
Hernandez
* Henry-Ryall Lankester /
Darius Scheliga

6. Gefangener,
Rodriguez
Frederik Bergsma /
* Edward Steele

7. Gefangener,
Fuentes
* Michael-Silvan Scheel /
Thomas Warschun

8. Gefangener,
Paz
Min Lee /
* Martin Müller-Görgner

Esteban,
Gefängniswärter
Simon Karsten

Marcos,
Gefängniswärter
Raimund Wissing

Gefangene (Tänzer)
Ivaldo De Castro
Alexeider Abad Gonzalez
Ivica Novakovic
Claudio Gustavo Romero
Carlos Sampaio
Michael Schnizler
Jason Sherri





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