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Musiktheater
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Fidelio
Oper in zwei Aufzügen
Dichtung von Joseph Ferdinand Sonnleithner und Georg Friedrich Treitschke
frei nach dem französischen Libretto von Jean Nicolas Bouilly
Musik von Ludwig van Beethoven


In deutscher Sprache mit ungarischen Übertiteln

Premiere am 5. Oktober 2008 in der Staatsoper Budapest

Aufführungsdauer: ca. 3 h (eine Pause)


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Staatsoper Budapest
(Homepage)
Schlechte Zeiten für Utopien

Von Stefan Schmöe


Ein Minister, der Rettung und Gerechtigkeit bringt und die Bösen dieser Welt beseitigt – das muss im gegenwärtigen Ungarn, das von einer Regierungskrise in die nächste schlittert, eine höchst unrealistische Vorstellung sein; verbleiben doch Minister nur deshalb im Amt, weil die Opposition als vormalige Regierungspartei ebenso diskreditiert ist wie die aktuellen Machthaber. Das Freiheitspathos des Fidelio scheint 20 Jahre nach dem Ende des Sozialismus in einem tagespolitischen Kontext von Politikverdrossenheit, kleinkariertem Parteistreitigkeit und Reformstau seltsam fremd und unpassend. Gerade dieses Werk dennoch als Eröffnungspremiere der Ungarischen Staatsoper anzusetzen, folgt da (wie im hervorragend konzipierten, auch in deutscher und englischer Sprache herausgegebenen Programmheft angedeutet) dem Wunsch des neuen Chefdirigenten Ádám Fischer, der die in Budapest lange wenig erfolgreiche Oper dem ungarischen Publikum nahe bringen möchte – für den Regisseur Balázs Kovalik, gleichzeitig künstlerischer Leiter des Hauses, eine nicht unproblematische Herausforderung.

Am Beginn der gemeinsamen Amtszeit von Fischer und Kovalik programmatisch ein künstlerisches Ausrufezeichen zu setzen - unter dieser Perspektive ist die Produktion in ebenso spektakulärer wie ambivalenter Manier gelungen: Sie verankert die Budapester Staatsoper, vor nicht allzu langer Zeit arg verstaubter Hüter einer vergangenen Theatertradition, mit den mitunter groben Mitteln des Regietheaters wie mit bravouröser musikalischer Qualität nachdrücklich in der europäischen Theaterszene - und dürfte gleichzeitig die Abneigung manches Besuchers gegen das Werk vergrößern. Denn Kovalik versucht gar nicht erst, das inhaltlich schwierige Stück zu glätten oder gar zu „retten“, sondern hebt mit grellen Strichen die Widersprüche und die werkimmanente Problematik hervor. Vor allem dem universal gültigen Freiheitsgedanken misstraut er. Überhaupt ist das mit den Idealen so eine Sache: Was gerade noch gut und her war, kann im nächsten Moment, politisch wechselnder Windrichtungen plötzlich falsch und schlecht sein. Sichtbar wird dies in der Gefangenenszene, in der Gefangene und Bewacher plötzlich die Rollen tauschen, mit wenigen Handgriffen aus dem Mörder ein Opfer wird und umgekehrt. Die Kostüme legen Assoziationen an den Irak-Krieg nahe, wo die komplizierte Befreiungsthematik für die mitteleuropäischen Gesellschaften, gleichzeitig Befreier wie Unterdrücker, konkret greifbar wird.

Kovalik inszeniert das Stück als Ideendrama im Kopf Leonores. Die steht den ganzen Abend über im Kleid unten an der Rampe, darüber bauen sich vier Stufen in abstrakt-tristem Beton als eigentliche Spielfläche auf. Fidelio, Leonores alter ego in der Opernhandlung, wird von einem Schauspieler verkörpert (was theaterpraktisch den großen Vorteil mit sich bringt, dass hier nicht wie so oft eine peinliche Verkleidungsposse zum Unglauben des Publikums gespielt werden muss). Reales Geschehen und Ideendrama sind also getrennt. Dabei arbeitet Kovalik stark bildhaft-assoziativ; wenn etwa Marzelline ein zukünftiges Familienglück besingt, kommt eine Frau mit Kinderwagen vorbei; zu Jaquino gesellt sich ein Soldat, der Orden verleiht, zu Roccos Geld-Arie erscheinen drei Prostituierte mit finanzkräftigen Freiern.

Das allein wäre nur vordergründig illustrativ; einen tieferen Sinn erhält es dadurch, dass Leonores Erlösungsutopie durch die Christus-Figur symbolisiert wird: Wenn sie sich als Erlöserin empfindet, trägt Fidelio das Kreuz. Derartige Bilder variiert Kovalik vielfach. Leonore als mater dolorosa, Fidelio als Christus, dazu in einer dem späten und verkitschten 19. Jahrhundert nachempfunden (mit dramatisch leuchtendem Herz) – das ist oft ästhetisch starker Tobak (und in dieser grellen Überzeichnung, die mitunter nach allzu billiger Provokation aussieht, liegt auch die größte Schwäche der Inszenierung). Es gelingen aber auch große Bilder, etwa wenn im Kerker Florestan sein Henkersmahl bekommt, Brot und Wein, und daraus die Abendsmahl-Emblematik sichtbar wird.

Wenn Kovalik die Heils- und Erlösungshoffnung vom politischen in den religiösen Bereich transzendiert, so hinterfragt und verallgemeinert er die Botschaft der Oper gleichermaßen. Dass die (intelligenten) szenischen Zumutungen aber nicht als bloßer Gag verpuffen, das liegt am Spannungsverhältnis zwischen Szene und Musik. Mag auf der Bühne auch der skeptische Zweifel an Utopien aller Art wachsen, so klingt aus dem Graben eine andere, rational nicht fassbare Wahrheit. Ádám Fischer dirigiert einen durch und durch romantischen Beethoven, der bei allen (auch hier mit Hang zum Plakativen ausmusizierten) Knalleffekten in den leisen Tönen lebt – und in den harmonischen Modulationen, mit denen Beethoven hier ein ganzes Universum durchmisst. Da gelingen Fischer und dem ordentlichen, im Detail aber keineswegs überragenden Orchester manche Wunder. Fischer disponiert weiträumig über mehrere Szenen hinweg, denkt auch in den Szenen im Singspielton schon an das große Drama. Und wenn auch die Ouvertüre am Premierenabend recht undifferenziert geriet, spätestens zu Beginn des zweiten Aufzugs im Vorspiel zur großen Szene Florestans, auch später in der eingeschobenen „dritten“ Leonoren-Overtüre, ist die Oper ganz großes Musik-Drama aus symphonischem Geist.

Die Leonoren-Overtüre (die Beethoven im Rahmen der ersten Überarbeitung 1806 neu komponierte, in einer späteren Fassung aber durch die heute allgemein gespielte „Fidelio-Overtüre“ ersetzte) wird in dieser Produktion unmittelbar vor dem Finale eingeschoben, und sie markiert eine Zäsur. Eigentlich ist mit der Ankunft des Ministers die Rettung da und die Geschichte zu Ende. Kovalik lässt kurz die Saalbeleuchtung aufleuchten und sofort wieder abdunkeln – und dann kommt als einziger Moment, an dem die Utopie tatsächlich auch auf der Bühne ungebrochen gefeiert werden darf, das Duett „O namenlose Freude“ (von Fischer sehr zurückgenommen als Jubel im Pianissimo dirigiert). Darauf schließt sich die genannte Ouvertüre „Leonore 3“ an, dramaturgisch plausibel bei geschlossenen Vorhang gespielt. Doch kaum wähnt man sich im schönsten symphonischen Befreiungsglück, so kommt das große Chorfinale wie eine kalte Dusche: Sehr heutige Menschen im Familienverbund feiern lautstark und klatschen sogar hin und wieder den Takt der Musik mit – und die Betonstufen des Gefängnisses sehen plötzlich so aus wie die Tribüne eines Stadions. Zum Schluss fügen sich die knallbunten Kostüme zum Regenbogen, und die Assoziation spielt auf die Regenbogenfahne mit dem eingeschriebenen „Pace“ an, die Friedensaktivisten in aller Welt vereint – auch eine Utopie, die der Regisseur in einem Atemzug zitiert und äußerst skeptisch hinterfragt. Die böseste Pointe freilich spielt sich an der Rampe ab, wo Leonore reichlich deprimiert den schlappen Florestan im Arm hält. Als Held und Erlöserin mag das Paar taugen, an ein bürgerliches Eheglück glaubt der Regisseur nicht.

Bei aller Vielfalt der Bilder werden die Sänger keineswegs in den Hintergrund gedrängt – vielmehr inszeniert Kovalik recht genau auf die Musik hin. Thomas Moser, als Weltstar angekündigt, schleift zwar manchen hohen Ton etwas weinerlich von unten an, aber die Substanz der warm leuchtenden, kraftvollen Stimme ist in der Tat imponierend. Der eigentliche Star aber ist die Leonore von Tünde Szabóki, die mit glasklar leuchtender, auch im Piano und Pianissimo Raum greifender Stimme fast mühelos die Partie mit enormer Präsenz bewältigt. Der solide Rocco von Friedemann Kunder mutet zunächst etwas konventionell an, bekommt aber in der Kerkerszene beklemmende Zwischentöne, als werde die Figur sich selbst zunehmend unheimlich. Béla Perencz (der in Dortmund einen beeindruckenden Siegfried-Wanderer gesungen hat – unsere Rezension) gestaltet einen kraftvoll zupackenden, jugendlichen Pizarro ohne ganz schwarze Farben, dafür mit der Eloquenz gegenwärtiger Bösewichter. Gábor Bretz ist ein sehr junger und charmanter Minister mit durchaus großer Stimme, Zita Váradi eine tadellose, nicht zu leicht besetzte Marzelline. Nicht ganz auf diesem Niveau ist der unscheinbare Jaquino von Attila Fekete. Der Chor besticht mit samtweichen leisen (allerdings rhythmisch eine Spur ungenauen) Tönen im Gefangenenchor, mit kraftvollem Klang im apotheotischen Jubelfinale, das ruhig lärmen durfte. Einhelliger Jubel vom Publikum für die Musiker, heftig polarisierte Reaktionen auf die Regie.


FAZIT
Großes Musiktheater in Budapest: Ein tiefschwarzer Abgesang auf alle Ideale. Und dennoch ein Fünckchen Hoffnung in der Musik. Ein durch und durch europäischer Fidelio mit Widersprüchen und Widerhaken.


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Produktionsteam


Musikalische Leitung
Ádám Fischer

Inszenierung
Balázs Kovalik

Bühne
Balázs Kovalik
Angelika Höckner

Kostüme
Mari Benedek

Dramaturgie
Máté Mesterházi

Choreinstudierung
Máté Szabó Sipos
Gyöngyvér Gupcsó (Kinderchor)



Statisterie der Staatsoper Budapest

Chor der Staatsoper Budapest

Orchester der
Staatsoper Budapest


Solisten

* Besetzung der Premiere

Don Ferrando
* Gabor Bretz /
Krisztián Cser

Don Pizarro
* Béla Perencz /
István Berczelly

Florestan
* Thomas Moser /
Mathias Schulz

Leonore
* Tünde Szabóki /
Szilvia Rálik

Rocco
* Friedemann Kunder /
Péter Fried

Marzelline
* Zita Váradi /
Júlia Hajnóczi

Jaquino
* Attila Fekete /
Szabolcs Brickner

erster Gefangener
* Gergely Boncsér /
Józef Mukk

zweiter Gefangener
* Kázmér Sárkány /
Csaba Szegedi



Weitere
Informationen

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Staatsoper Budapest
(Homepage)



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