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Bloß keine Sentimentalität
Ach, was waren das für Zeiten: Die Ausländer waren gut, die Reichen waren böse, die Alten waren Nazis (oder ganz, ganz selten antifaschistische Widerstandskämpfer), und die Arbeitslosen und Obdachlosen zwar Spinner, aber irgendwie total nett. Damals ist Volker Ludwig vom Berliner GRIPS-Theater hingegangen und hat ein Stück daraus gemacht, das Theatergeschichte geschrieben hat: Linie 1, eine musikalische Revue über das Lebensgefühl der Kreuzberger Szene im abgeschotteten Berlin. Da kommt ein biederes Mädchen aus der westdeutschen Provinz auf der Suche nach einem Musiker, in den sie sich verliebt hat, in die große Stadt und lernt dort das wahre Leben kennen. Seit dem 30. April 1986 fährt im GRIPS-Theater die imaginäre U-Bahn zur Musik von Birger Heymann nostalgisch unter Westberliner Terrain, und daran haben Wende und Abschaffung von Ostzone und Wessiland nichts geändert.
Aus Wessiland frisch im wirklichen Leben angekommen: Das Mädchen (Jennifer Breitrück) in Berlin
In Wuppertal, tief im Westen der Republik, gibt es keine U-Bahn - ganz im Gegenteil: Da fährt man in der Schwebebahn an einem Gerüst hängend ein paar Meter oberhalb der Erde. Irgendwie hat das auch symbolischen Gehalt: Regisseur Olaf Strieb, der die „musikalische Revue“ in das Wuppertaler Schauspielhaus gebracht hat, weiß mit der legendären Berliner U-Bahn-Linie nicht viel anzufangen. Den Zeitgeist der 80er-Jahre hat er nicht aufgreifen wollen, das war schon vorab in Interviews zu lesen – nur kommt man bei einem Stück, das ausschließlich diesem Zeitgeist verpflichtet ist, gar nicht daran vorbei, es sei denn, man wolle den gesamten Text streichen. Strieb versucht, die Figuren des Stückes zu typisieren, was sie bei Ludwig natürlich schon längst sind. Also geht Strieb noch einen Schritt weiter: Er modelt sie an vielen Stellen zu Kunstfiguren ohne Bodenhaftung um. Etliche Szenen werden in eine bestimmte Farbe getaucht: Die Obdachlosen haben gepflegtes Grau, die Punker ein aufreizendes Lila, die Schulschwänzer überdrehtes Pink, die Spießerfamilie giftiges Türkis und so weiter. Das macht sie allerdings nicht aufregender, sondern schafft größere Distanz: Das soll das richtige Leben sein? Da ist die Wuppertaler Provinz doch um einiges aufregender. U-Bahn-Feeling Auch der Musik trauen Strieb und sein Team nicht über den Weg. Natürlich ist Linie 1 ein Stück über (große) Emotionen, schließlich geht es um die große Liebe, und zwischendurch wirft sich ein Mensch aus Verzweiflung vor den Zug – ein Fall von Sentiment und Pathos, keine Frage. Genau das aber scheint das Regieteam geradezu in Panik versetzt zu haben. Der musikalische Leiter Matthias Flake hat die Musik von Birger Heymann neu arrangiert, Saxophon und Flöte weggelassen und dem ganzen einen härteren, rockigen Anstrich gegeben. Was trotz allem noch mit Gefühl daherkommen könnte, wird kurzerhand zur Parodie umgedeutet. Damit setzt Flake die Gesetze, nach denen ein solches Musical funktioniert, außer Kraft. Ergebnis: Die Musik wirkt langweilig und uninspiriert. Die vierköpfige Band (Klavier, Gitarre, Bass, Schlagzeug) spielt unter Flakes Leitung zudem viel zu brav und stereotyp; ist eine Nummer erst einmal „angeworfen“, gibt's weder im Tempo noch in der Lautstärke irgendwelche Nuancierungen. Die Schauspieler singen dazu, ohne den Eindruck zu erwecken, an der musikalischen Interpretation sei besonders gefeilt worden. Natürlich stehen hier keine ausgebildeten Sänger auf der Bühne, aber auch mit einem Schauspielensemble (nachweislich auch mit einigen Schauspielern dieses Ensembles) ließe sich sehr viel genauer musikalisch arbeiten. Wir Tanzkinder vom Bahnhof Zoo: Das Mädchen (Jennifer Breitrück) und Maria (Magdalena Helwig) Besser gelungen ist die schauspielerische Umsetzung. Neben zwei Damen (Julia Wolff und Ingeborg Wolff) und drei Herren (Andreas Ramstein, Hans Richter und Henning Strübbe) des hauseigenen Ensembles stehen sechs Nachwuchsschauspieler, die an der Folkwang Hochschule Essen und Bochum studieren, auf der Bühne, was sich als gute Mischung erweist und der Aufführung jugendliche Frische beschert. Der fliegende Rollenwechsel (11 Personen für über 60 Rollen) klappt überzeugend. Da entstehen - bei maßvollem Spieltempo und solide ausinszeniert - ein Reihe netter und amüsanter Genre-Szenen. Wobei sich das Berliner Kolorit in Grenzen hält. Und dann muss ja auch noch getanzt werden. Auch das beherrschen die Akteure im Prinzip ganz ordentlich, nur mit der Choreographie hapert es. Die ist laut Programmheft vom Ensemble selbst ausgearbeitet worden, und irgendwann sind offenbar die Ideen ausgegangen. In Musical oder Revue ist Tanzen dann doch mehr, als sich mehr oder weniger gekonnt zur Musik zu bewegen. Es gibt ein paar ganz hübsch gestaltete Nummern, aber auch viel auf-der-Stelle-tanzen, als sei die U-Bahn eine große Disco. Großer U-Bahnhof (Ensemble) Choreographie verschenkt, Musik eingeebnet, Handlung entschärft - viel bleibt also nicht übrig. Ganz ordentlich gespieltes Unterhaltungstheater ohne weitergehende Ansprüche. Vermutlich soll schon der Ruf, der dem Werk vorauseilt, das Schauspielhaus mit jungem Publikum füllen. Aber gerade dann wären die Wuppertaler Bühnen gut beraten, mehr als eine bestenfalls mittelprächtige Produktion auf die Beine zu stellen.
Man fragt sich nicht erst am ziemlich abrupten Ende: Was macht diese Linie 1 in Wuppertal, wenn fast alles, was das Stück ausmacht, gestrichen oder routiniert bis lustlos abgehandelt wird? Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühne
Kostüme
Choreographie
Dramaturgie
Solisten
Das Mädchen
Penner Erich, Vater, Sänger,
Krischi, Kleister, Mondo,
Uli, Bambi, Tamile,
Penner Mücke, 2. Kontrolleur,
Junge im Mantel, nervöser Typ,
Lady, türkische Ehefrau,
Pennerin Lola, Alte Frau,
Penner Schlucki, Türkischer Ehemann,
Lumpi, Bisi, Chantal,
Risi, Maria, Fremdenführerin
Stimme des Bahnhofsansagers
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- Fine -