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Hänsel und Gretel

Märchenspiel in drei Bildern
Text von Adelheit Wette
Musik von Engelbert Humperdinck

in deutscher Sprache

Premiere am 16. November 2007 im Theater Dortmund

Aufführungsdauer: ca. 2h 30' (eine Pause)


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Theater Dortmund
(Homepage)
Wölkchen am Märchenhimmel

Von Stefan Schmöe / Fotos von Andrea Seifert / Stage Picture Gmbh

Märchen sind, das lehrt die nicht mehr ganz moderne Literaturwissenschaft, beileibe nicht einfach nur Märchen, sondern dahinter verbirgt sich viel, viel mehr. Zum Beispiel im Fall von „Hänsel und Gretel“ ein, so kann man auf den Internet-Seiten des Theater Dortmund nachlesen, „Initiationsritus zweier Kinder, die ihr Elternhaus verlassen, die Gussform der Erziehung sprengen und eine neue Heimat in ihrem eigenen Leben finden.“ Bezogen ist das in diesem Fall ganz konkret auf die Opernfassung von Engelbert Humperdinck und darf insofern wohl als programmatisch für die Neuinszenierung von Dominik Wilgenbus gelten. Prompt öffnet sich zu den ersten Tönen des Vorspiels der Vorhang einen Spalt, und man sieht zwei adrett gekleidete Kinder aus dem wohlhabenden Bürgertum, die sich mit Lumpen aus einer Kiste verkleiden. Hänsel und Gretel als Spiel im Spiel? Na ja, warum nicht. Irritierender ist, dass der gerade geöffnete Vorhang gleich wieder geschlossen wird und dies auch die nächsten fünf Minuten bleibt. Wenn schon eine szenisch bebilderte Overtüre, dann doch wenigstens konsequent, werden sich nicht nur die etwas ratlosen Kinder im Publikum gedacht haben.

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Hier spielen Kinder reicher Leute: Hänsel (Franziska Rabl) und Gretel (Martina Schilling) verlieren sich am Kamin in Märchenwelten

Wenn die Bühne dann endlich frei gegeben wird, sieht man den Salon einer Villa am Weihnachtsabend (ein neues Dortmunder Leitmotiv? Siehe dazu unsere Rezension von Salome). Im Vordergrund spielen zwei Kinder, und ziemlich bald fahren von allen Seiten Bäume in den Raum und die Wände bewegen sich nach hinten weg (wenn sie sich nicht irgendwo verheddern, was ziemlich häufig passiert an diesem Abend). Mit ausreichender Opernerfahrung lässt sich spekulieren, dass hier zwei im Spiel versunkene Kinder in das Reich ihrer Phantasie abtauchen – die Inszenierung selbst gibt keinen erkennbaren Aufschluss. Nach und nach geht das großbürgerliche Personal marionettenhaft ab, und auch Möbel und Wände werden kunstvoll – immer vorausgesetzt, die Bühnentechnik funktioniert – entfernt, bis die Bühne komplett vom Wald eingenommen ist. Natürlich hat der Regisseur Recht, wenn er das Märchen im Bürgertum verankert; über die Brüder Grimm als Begründer der Märchenforschung und Humperdincks Oper als sicher populärste Vertonung eines Märchens hat das Bürgertum das Volksmärchen vereinnahmt und unsere heutige Sicht darauf entscheidend geprägt. Nur wird dieser Gedanke in der Inszenierung nicht fortgesponnen; das gesamte bürgerliche Ambiente wird, kaum ist es verschwunden, nicht im geringsten vermisst, und wenn im Finale das Anfangsbild noch einmal zitiert wird, dann offenbar mehr des formalen Rahmens als einer schlüssigen Logik wegen. Auch einen Initiationsritus hätte man inszenieren können; der müsste sich dann im irgendwie veränderten Verhalten der Kinder Hänsel und Gretel widerspiegeln – aber auch davon keine Spur. Die Personenregie bleibt an diesem Abend unscheinbar. Stattdessen überlässt der Regisseur seiner Ausstatterin Sandra Linde das Feld.

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Niedlich anzuschauen: Pilze, die laufen können

Die macht aus dem Stück ein überbordendes Ausstattungsspektakel. Die Statisterie wird nicht nur für die Großfamilie der Eingangsszene aufgeboten, sondern auch für die Darstellung von Bäumen, Erdbeersträuchern, Nebelfrauen, Pilzen, einem Baustumpf und einem Tisch. Dazu gibt es ein Eichhörnchen und einen Raben – es ist allerlei los auf der Dortmunder Bühne. Genau das wird aber schnell zum Problem: Es passiert zu viel, die Aktionen lenken störend ab von der eigentlichen Geschichte. Exemplarisch der berühmte „Abendsegen“ mit dem großen instrumentalen Nachspiel: Da kommen zunächst 14 engelsgleiche, sicher sehr brave Mädchen mit meist langen und meist blonden Haaren, ein gedeckter Tisch wird hereingefahren, von oben werden Engelsflügelchen hinuntergelassen, die sich die Mädchen überstreifen, das Eichhörnchen kommt vorbei und darf auch mit an den Tisch, von irgendwo ist die Rückwand der Villa zurückgeholt worden, das alles übrigens ohne Bezug zur gerade erklingenden Musik, und wenn sie dann schließlich alle am Tisch sitzen, dann kommen vom Himmel ein paar Wölkchen und fahren mechanisch auf und nieder. Wölkchen am Märchenhimmel, die endgültig zu viel des vermeintlich Guten sind.


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"Abends, wenn ich schlafen geh', vierzehn Engel um mich steh'n" - diese Engel bevorzugen statt des öden Herumstehens zu Füßen und Häuptern schlafender Kinder ein opulentes Mahl, zu dem auch ein Eichhorn (hier nicht im Bild) geladen ist.

Der Wald ist mit in die Tiefe gestaffelten Prospekten dargestellt, was man als Reminiszenz an barockes Maschinentheater oder auch die Gepflogenheiten zur Zeit der Uraufführung der Oper (1893) sehen kann – die Wiener Opernrevolution durch Gustav Mahler und Alfred Roller, die mit dieser antiquierten Ästhetik aufzuräumen versuchte, kam erst ein paar Jahre später. Auch hier hakt der eine oder andere Vorhang. Ziemlich enttäuschend ist das Hexenhaus, Modell „Baumstumpf mit integrierter Doppelgarage“ in der preisgünstigen Pappmaché-Ausführung. Auf den Lebkuchen sind überdimensionierte Haribo-Lakritzbonbons aufgeklebt – im benachbarten Wuppertal hat Johannes Weigand das vor anderthalb Jahren ähnlich, nur viel besser und witziger vorgemacht (unsere Rezension; die Inszenierung steht noch auf dem Spielplan). In Wuppertal funktioniert es auch, die Hexe durch die Luft reiten zu lassen – in der Dortmunder Premiere scheitert der Versuch kläglich, weil, die unvermeidbare Wiederholung dieser Bemerkung bitten wir zu entschuldigen, offenbar die Technik nicht richtig funktioniert. Die Hexe ist ein unangenehmer Transvestit, was die Kinder im Publikum vermutlich mehr stört als regietheatererprobte Rezensenten – dafür verschwindet sie unerwartet schnell im Ofen, der (anders als im Programmheft angekündigt) nicht explodiert. Ziemlich verunglückt ist das Erscheinen der Lebkuchenkinder, die das Regieteam einfach nicht auf die Bühne bekommt. Also Vorhang zu, Musik etwas dehnen, was aber nicht reicht – die ersten Zuschauer applaudieren zögerlich, weil sie glauben, das Stück sei vorbei, also schnell Vorhang wieder auf, da steht der Kinderchor, räkelt sich kurz (man hat schließlich laut Libretto geschlafen), wirft bunte Kissen (die wie Smarties aussehen) in die Luft, ganz schnell das Eröffnungsbild wiederherstellen, und aus ist die Oper. Würde nicht der aus drei Chören bestehende Kinderchor mit viel stimmlicher Präsenz traumhaft schön singen, dieses Finale wäre eine unfreiwillige Lachnummer.

Neben dem exzellenten Chor überzeugen vor allem die Sänger von Hänsel und Gretel. Martina Schilling (Gretel) hat eine mädchenhaft klare, ungekünstelte und im positiven Sinn „naiv“ klingende Stimme, die vor allem dem Singspielcharakter der Oper hervorragend gerecht wird, zumal sie auch noch Reserven für die emphatischeren Passagen hat – nicht unbedingt mit großer Lautstärke (sie wird vom zu lauten Orchester schnell zugedeckt), aber mit Nachdruck und kluger Gestaltung. Franziska Rabl kontrastiert als Hänsel mit leicht abgedunkeltem, dadurch „jungenhaftem“ und raumfüllendem Klang. Das wäre eine Idealbesetzung für das Geschwisterpaar, wenn der Dirigent mitziehen und sich auf diese leichten, beweglichen Stimmen und einen Singspielgestus einließe. Günter Wallner aber sucht im Wagner-Adepten Humperdinck die Spur des Bayreuter Meisters und dirigiert manche Passage, als sei sie aus dem Parsifal, Siegfried oder den Meistersingern. Das gelingt stellenweise auch ganz gut, und es gibt auch durchaus Argumente für eine an Wagner orientierte, symphonisch geprägte musikalische Interpretation (siehe dazu unseren nicht ganz neuen, aber immer noch aktuellen Vergleich verschiedener CD-Einspielungen des Werks), nur bräuchte man dazu andere Sängertypen.

Vergrößerung in neuem Fenster Gerne hätten wir ein Bild vom Hexen-Transvestit oder des Hexenhauses gezeigt, aber die gibt's leider nicht. Als Ersatz das Taumännchen (Julia Novikova), das alle Freunde extraterrestrischen Lebens begeistern dürfte: Die Augen befinden sich, wie man leicht erkennt, an den Handinnenflächen.

Ein anderer Sängertyp in diesem Sinn ist Ji Young Michel, die die Mutter singt (in welcher Sprache eigentlich?), als sei es die Kundry, mit geheimnisvoller Tiefe und eruptiven Ausbrüchen (wofür die Stimme dann doch zu klein ist). Brian Dore stellt mit schlanker, dennoch tragender Stimme den Vater dar, wobei sich seine klare und saubere, aber pauschale Phrasierung zu wenig am Text orientiert. Julia Novikova ist ein musikalisch affektiertes Sand- und Taumännchen mit glockenhellem Sopran. Bei der Hexe von Hannes Brock kommt es angesichts dessen Travestieshow auf schöne Töne nicht weiter an; daher ist der karikierend derbe, sehr präsente Gesang rollendeckend. Die Dortmunder Philharmoniker zeigen schöne Einzelleistungen, insbesondere in den Holzbläsern; im Zusammenklang würde man sich noch fließendere, weichere Übergänge wünschen – und etwas mehr Sogkraft in den großen symphonischen Passagen, die das Ziel der musikalischen Entwicklung zu wenig erkennen lassen.

FAZIT

Haben Hänsel und Gretel nun einen Platz im eigenen Leben gefunden? Man weiß es nicht. Statt ein Traum von einem Märchen eher ein Alptraum für die Bühnentechnik. Der Wille zur kindgerechten, gleichzeitig intellektuell durchdachten Inszenierung ist erahnbar, aber auf der Bühne triumphieren Kulisse und großes Statisterieaufgebot sich verselbstständigend über Humperdincks Oper, die zudem musikalisch disparate Eindrücke hinterlässt. Zum Glück ist die Musik an sich unverwüstlich.


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Günter Wallner

Inszenierung
Dominik Wilgenbus

Bühne und Kostüme
Sandra Linde

Choreinstudierung
Željo Davutoviæ

Dramaturgie
Verena Harzer


Opernkinderchor

Frauenstimmen des
Jugend-Kammerchor der
Chorakademie am
Konzerthaus Dortmund

Dortmunder Philharmoniker


Solisten

* Besetzung der Premiere

Peter, Besenbinder
Brian Dore

Gertrud, seine Frau
* Ji Young Michel /
Andrea Rieche

Hänsel
Maria Hilmes /
* Franziska Rabl

Gretel
* Martina Schilling /
Lydia Skourides

Knusperhexe
Hannes Brock

Sandmännchen / Taumännchen
* Julia Novikova /
Keiko Matsumoto



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Da capo al Fine

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