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Musiktheater
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Carmen

Oper in vier Akten von Georges Bizet
Libretto von Henri Meilhac und Ludovic Halévy
nach der Novelle von Prosper Merimée


in französischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 3h 15' (eine Pause)

Premiere am 15. April 2007
im Großen Haus des Musiktheaters im Revier Gelsenkirchen


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Musiktheater im Revier
(Homepage)

Carmen die "schwarze Dalie"
Fesselnde Bizet-Inszenierung am MiR in Gelsenkirchen

Von Peter Bilsing / Fotos von Rudolf Majer-Finkes


Während an der Deutschen Oper am Rhein und anderswo in diesem Land (außerorts sogar von New York bis Wien beispielsweise!), immer noch bei Bizets Oper Carmen Ansichtskarten-Arrangements à la Zeffirelli und Otti Schenk noch die Bühne beherrschen, wo die Folklore blüht und der Stier röchelt, zigarettenrauchende Chordamen rhythmisch mit den Hüften wackeln und verlogene Zigeunerromantik das Lager befeuert, bringt die NRW-Opernszene in dieser Saison gleich in kurzem Abstand zwei überragende Produktionen mit intelligenten völlig anderen Konzepten; in Wuppertal schuf vor zwei Woche Francois de Carpentries eine bemerkenswerte Neudeutung (OMM-Rezension) und nun Regisseur Immo Karaman eine weitere spannungsreiche Umsetzung am Gelsenkirchener MIR.

"Musiktheater im Revier" nennt sich das Gelsenkirchener Stadttheater zurecht, denn was hier an interessantem und anspruchsvollem Musiktheater wieder einmal, heuer: Carmen, geboten wird ist umwerfend - im wahrsten Sinne des Wortes auch für einige Opernbesucher! Zwar schlägt das Herz des Zuschauers bis zum Hals und beklemmende Atemlosigkeit respektive Herz-Rhythmusstörung ist angesagt, aber für manche eben nicht aus eben den Gründen, die den Rezensenten vollkommen begeistert vereinnahmt haben.

Vergrößerung in neuem Fenster Carmen, Typ 1 (Anna Agathonos)

Doch holla, mutig ist es auf jeden Fall (und der Stadtkämmerer grollt) einer der meistgespielten, stets ausverkauften und vom Abonnement hochbegehrten Opern nicht nur das Mallorcinische Stierkampfambiente und jene wild wuchernde Zigeunerromantik à la Troubadour zu entziehen, sondern sie auch noch aller vom Publikum doch so heißgeliebten spanischen Folkloristik zu entbinden. Wer so etwas anstellt, dem droht erfahrungsgemäß nicht nur der Ärger konservativer Opern-Fans, sondern auch enttäuschter Gelegenheits-Op(e)risten, die hier mal wieder vergeblich auf ihren Stier warten müssen.

Stattdessen bringt uns Karaman das pralle (Opern-)Leben pur und ohne floristischen Haugout; er verlegt die ja eigentlich zeit- und prospektlose Geschichte von Liebe, Leidenschaft und Tod in eine Welt bar jeder Räuber-Romantik; als befänden wir uns in einem Film der schwarzen Serie (von überall her könnte jederzeit eine Humphrey Bogart Type auftauchen) in der rüdes Gangstertum in farblosen US-Straßenkreuzern der 40er-Jahre die Szene belebt.

Vergrößerung in neuem Fenster

Carmen, Typ 2 (Anna Agathonos)

Karaman und sein Choreograph Fabian Posca stellen die Geschichte in Bilder und Szenen, die sowohl aus bösen Comics oder auch düsteren Filmvorlagen entsprungen sein könnten. Bei den großen Ensembles schimmert Pina Bauschs "Kontakthof" ebenso durch wie die nekrophile Düsternis eines Frank Miller Groschenhefts. Die Geschichte gewinnt eine unerwartete Dichte und belemmende Physis; die Titelheldin Carmen geriert zu einer Art "schwarzen Dalie" - einer "femme fatale", mehr Lulu als Luder; Frauen dieser Art überleben nicht, sie werden zerstückelt oder, wie hier, am Ende regelrecht massakriert; Mord als sexuelle Ersatzhandlung. Wie unschön!
Dass ist und war erkennbar starker und unerwarteter Tobak fürs holde Opernvolk.

Das diese Deutung beim Schlussapplaus aber durchaus mehrheitlichen Beifall fand (die Buhs fürs Regieteam gingen im finalen Jubel schließlich und unendlich unter), lag an einem Kunstgriff, einem "Coup de Theatre", den das Regieteam bravourös gesetzt hatte; es wurde Don Jose in einer Doppelrolle sowohl als Sänger und Agierenden, als auch als retrospektivem Erzähler zusätzlich eine wohlakzentuierte Sprechstimme (Daniel Drewes) aus dem Off an den Stellen der sonst übl(ich)en Rezitative verpasst. So gelang es, anhand dieser eingefügten, wohlausgesuchten Merimée-Originaltextpassagen, eine Handlungsstringenz und überzeugende Logik von wirklich nervenaufreibender Spannung derartig konsequent in die Geschichte zu implementieren, daß diese 3 Stunden-Oper wie im Flug verging. Hier und jetzt mehr Details zu verraten, würde die Freude und Hochspannung an dieser begnadeten Inszenierung beträchtlich schmälern. Nur soviel: dichter und härter an der Originalvorlage wurde "Carmen" selten inszeniert. Das ist wahre (!) Werktreue; im Vergleich zur sonst üblicherweise und leichter zu rezipierbaren Warenwerktreue.

Vergrößerung in neuem Fenster Chordamen beim Carwash

Klangbeispiel Klangbeispiel: Terzett Carmen, Frasquita, Mercédès
Anna Agathonos , Leah Gordon, Birgit Brusselmans
und Chor
(MP3-Datei)


Erfolg hat bekanntlich viele Väter, die auch benannt werden sollten, und daher müssen neben der präzis outrierten Choreographie auch die typologisierten und vielfältigen Kostüme von Andreas Meyer genauso gewürdigte werden wie die bravouröse Bühnekonstellation fahrbarer Wände von Johann Jörg, die einen permanenten Szenenwechsel von fast nahtlos filmischer Überblendungsreife und -Fokussierung ermöglichte. Welch ungeheurer Aufwand wurde allein in den permanenten Kostüm- und Maskenwechseln geleistet, wirklich phänomenal! Alles ist permanent in Bewegung. Alle beherrschen ihr Handwerk.

Was die Choristen, vornehmlich die Damen (teilweise sogar solistisch beschäftigt), in dieser Inszenierung leisten, ist sicherlich an kaum einem anderen Haus so realisierbar. Daß Chor- und Extrachor (Leitung: Nandor Ronay) gut singen, ist fast der Normalfall, aber was hier (natürlich regiegewollt!) an geradezu frappierendem darstellerischen Exhibitionismus auf die Bühne gebracht wurde, war schlichtweg sagenhaft. Wer so darstellerisch agiert, steht voll hinter dem Regie-Konzept, da stimmte die Chemie, und man muß hier die Statisterie komplett mit einbeziehen; der künstlerinterne Jubel nach dem letztem Vorhang über die doch letztlich sehr positive Publikumsakzeptanz solch mutiger Leistung war unüberhörbar - hier ist sicherlich vielen - laut hörbar - ein Stein vom Herzen gefallen.

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Carmen & Escamillo (Anna Agathonos & Melith Tepretmez)

Mehr als beglückend war auch die musikalische Seite; wobei vorrangig das Dirigat von Cosima Sophia Osthoff benannt werden muß; sie entlockt dem Orchester stellenweise eine Düsternis und beklemmende, bisher unerhörte Klangwelt, das dem Zuhörer fröstelte. Dabei zeichnete ihr Dirigat ein verbindliches Profil, daß perfekt mit der Inszenierung und dem Bühnengeschehen harmonierte. Frau Osthoff atmete mit dem Orchester Bizets Musik und deren Pulsschlag, aber interpretierte auch mit stellenweise federnder Leichtigkeit und spannte mit furiosem Herzschlag die hochdramatischen Bögen, ganz ohne Bombast. Selten war es für den Zuhörer geradezu körperlich spürbar, daß des Komponisten brillante Musik, die ja von Anfang an schon Tod verheißt, solche Tiefe hat. Welch eine Interpretation von geradezu traumatischer Tiefe; die Neue Philharmonie Westfalen folgte ihr perfekt und spielte so gut und konzentriert wie selten. Bravissimo!

Vergrößerung in neuem Fenster Carmen, Typ 3 + Don Jose (Anna Agathonos & Christopher Lincoln)

Bei Anna Agathonos´ Carmen-Interpretation weiß der Rezensent nicht, was er mehr bewundern soll: ihre makellos respektable und kultivierte Stimme (der Fachwechsel ins Dramatische ist hervorragend gelungen) oder ihre unglaubliche, facettenreiche Variabilität und Darstellungskunst. Sie phrasiert nicht nur mit einer enormen Musikalität und intelligenten Textgestaltung, fern der üblichen Chlichées, sondern überzeugt auch durch enorme sängerische Ernsthaftigkeit, fern aller sonst üblichen und bekannten Carmencita-Meriten.

Von Christopher Lincoln wird in diesem schwierigen Don Jose-Konzept, sowohl körperlich als auch gesanglich, enorm viel verlangt; gestreng der Merimée Vorlage überzeugt er vollends, ob als charismatischer Außenseiter, Choleriker oder als Gewalttäter, dem - fern allen braven-Soldaten-Bübchen-Clichées - die Integration ins Gangstermilieu absolut keine Probleme bereitet. So sah man einen "Don Jose" selten! Dabei entwickelt er eine enorme Bühnenpersönlichkeit und zeigte bemerkenswertes vokales Format.

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Finale (Anna Agathonos & Christopher Lincoln)

Von Größe zeigten sich auch die kleineren Partien: Hrachuhi Bassenz bot eine bestechend schön singende Micaela, vielversprechend füllt sie auch bei leisen Stellen mühelos den Raum - eine große Option auf die Zukunft! Melih Tepretmez war ein sicherer Matador und auch der junge Günter Papendell (Dancaire, Morales, Schmuggler) war von stimmsicherer Statur. Überzeugend William Saetre (Remendado, Schmuggler), Leah Gordon (Frasquita, Zigeunerin) und Birgit Brusselmans (Mercedes). Wolf Rüdiger Klimm (Zuniga, Leutnant) war Etraklasse.


FAZIT

Das ist "Musiktheater at it´s best" - auf der Höhe der Zeit. Das MiR zeigt hier eine Produktion, die vielleicht zu den Besten in der jetzt leider bald endenden und auf vielfältigen Ebenen höchst erfolgreichen Ära Theiler zu zählen ist. Wer Bizets Oper einmal mit anderen Augen, hier als hochspannend dramatischen Reißer, erleben und hören möchte, sollte diese Inszenierung keinesfalls verpassen.

Opernpuristen, Ersatzmatadore, Corridafans, "Hohes C"-Zähler und Folklore-Freaks seien allerdings gewarnt: das wird hart; trotz gelegentlicher Brutalität jugendfrei, denn geschossen wird mit Platzpatronen - nur das Theaterblut ist echt!


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Cosima Sophia Osthoff

Inszenierung
Immo Karaman

Choreografie
Fabian Posca

Bühne
Johann Jörg

Kostüme
Andreas Meyer

Chor
Nandor Ronay

Dramaturgie
Johann Casimir Eule



Statisterie des
Musiktheater im Revier

Chor und Extrachor des
Musiktheater im Revier

Neue Philharmonie
Westfalen


Solisten

*/ Alternativbesetzung
GE-carmen.mp3 Don José
Christopher Lincoln

Sprecher Don Josés
Daniel Drewes

Carmen
Anna Agathonos
*/ Anke Sieloff

Micaela
Hrachuhí Bassénz
*/ Noriko Ogawa-Yatake

Escamillo
Melih Tepretmez
*/ Jee-Hyun Kim

Remendado
William Saetre

Dancaïre, Moralès
Günter Papendell
*/ Tobias Scharfenberger

Zuniga
Wolf-Rüdiger Klimm
*/ Charles Moulton

Frasquita
Leah Gordon

Mercédès
Birgit Brusselmans



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