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Der große Abend des William Saetre
Von Peter Bilsing
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Fotos von Rudolf Majer-Finkes
Vorhang auf: Wir blicken auf das großzügige Pausenfoyer des Gelsenkirchner Musiktheaters im Revier; kein geringerer als Ives Klein hat diesen wunderbaren Raum - natürlich blau in blau einst gestaltet. Eine Putzfrau mobbt noch mal kurz den Boden. Die Premiere ist wohl gerade zu Ende gegangen, denn man hört entfernt jubilierendes Klatschen und Bravo-Geschrei ohne Ende. Standing Ovations für den Regisseur und das Team sind zu vermuten. Ein Riesenerfolg wird hörbar gefeiert. Eine Sumpfnymphe als Titelfigur einer Oper: Platée (William Saetre)
Als erstes kommt der Held, unser Regisseur, persönlich hereingetorkelt, die Bierflasche selbstredend in der linken Hand; eine Prachtgestalt, quasi das Idealbild eines zeitgenössischen Opern-Inszenators, und fleischgewordene Verkörperung aller Vorurteile des modernen Regietheaters; Typ Frisör-gestorben: gammeliger ungepflegter Hippie-Haarschnitt, Alt-68er, natürlich Vollbart, schäbige Hornbrille, verdreckte Jeans und Gilb im Hemd, Kriegdienstverweigerer aber Springerstiefel an den Füßen! Ach, Sie kennen den Typ? Genau! Einer dieser Schweinepriester, die uns unsere heilige Opernwelt ständig kaputtmachen und den schönen Abend verderben.
Der Knabe hier ist fertig, nervlich kaputt, unglücklich und wirkt wie am Boden zerstört augenscheinlich war höchst überraschender Weise seine Inszenierung ein großer Erfolg beim Publikum. Tilman (das ist jetzt wirklich ein willkürlich gewählter Name er könnte auch Peter, Dietrich, Calixto oder Hans heißen) unser Jungregisseur, hat sich wohl schon Einiges reingekippt und ballert nun seine halbvolle Bierflasche mitten ins blaue sündteure Wanddekor des Herrn Klein, so wie es sich in diesen erlauchten Kreisen gehört. Dann sinkt er umnebelt und vom unerwarteten Erfolg sinnlich berauscht dahin. Von Amors Pfeil getroffen: Platée (William Saetre)
Ja und was macht Meisterdirigent Samuel Bächli da vorne? Wieso ist der Orchestergraben leer? Nun zieht der Maestro ein Disko-Jackett an und spielt einige Takte (Gluck oder Rameau?) auf dem rein zufällig links im Foyer stehenden Pianoforte. Diese holden Töne bringen nicht nur Steine, sondern auch unsere Herzen zum Weinen, schlimmer: sie locken diverse Musiker an, die sich darauf ei der daus ! na wo wohl? Genau! im Orchestergraben staunend versammeln. Der Maestro läßt sich natürlich nicht lange bitten, springt behände in den Orchestergraben, wo doch zufällig die Partitur eines gewissen Jean Philippe Rameau, betitelt Platée, liegt und die Oper beginnt. Oky doky! Die Geschichte dieser Götterburleske: Merkur spinnt eine Intrige, um der Göttergattin Juno ihre Eifersucht auszutreiben: Er redet der hässlichen alten Sumpfnymphe Platée ein, Jupiter sei in sie verliebt. Sogar die Hochzeit wird schon vorbereitet. Man steigt auf aus den Sümpfen in die Götterwelt; doch bei der Zeremonie wird die nicht uneitle Platée auf üble Weise schließlich Spott und Hohn preisgegeben. Sumpfblütenfeier
Eine böse Geschichte: Quelle tragédie lyrique! Und doch ist es eigentlich eine Parodie, ein Konglomerat der Stile und Genres seiner Zeit sogar das unvermeidliche Ballett fehlt nicht und wird doch, wie alles andere, aufs Köstlichste auf den Arm genommen. Rameau prägte für sein Stück den Untertitel Ballet boufon. Die einzig zutreffende Genrebezeichnung für solch unerhörtes Stück. Witzig und mutig zugleich war die Tatsache, daß solch Satire über die Hässlichkeit ausgerechnet zur Hochzeit des Thronfolgers mit der nicht gerade in üppiger Schönheit erstrahlenden Prinzessin von Navarra in Versailles aufgeführt worden war. Realsatire, mit der auch die blendende Inszenierung von Andreas Baesler am MiR 261 Jahre später beginnt, bevor sie ins Reich des Märchenhaften abtaucht. Besser, spannender, unterhaltsamer und charmanter kann man wohl eine Barockoper kaum inszenieren. Goldener Opern-Oscar! Und was Eckhard-Felix Wegenast da im Verlauf des Abends auf die kunterbunte und höchst mobile Bühne stellt, ist nicht nur von fesselnder Eleganz, brillantem Paillettenglanz und berauschendem Kostümzauber, sondern es läßt den vorne sitzenden Opernfreund gar erschaudern, insbesondere dann wenn das versumpfte und angegammelte Ancienne regime der Sumpfblütenwelt in seinem ganzen Modder und Schimmel auf Brokat sichtbar wird. Igittigitt! So hübsch-hässlich und geradezu ekelhaft realistisch nachgebaute Schimmelwelten habe ich wirklich noch nie gesehen. Empfindsame Kleenex-Seelen, Sauberkeitsfanatiker und Stauballergiker sollten unbedingt die ersten 15 Reihen des Hauses meiden, obwohl eigentlich keine Gefahr besteht. Angesichts so brillierenden Drecks müsste eine ordentliche deutsche Hausfrau eigentlich sofort in Ohnmacht fallen. Das ist regelrecht atemberaubend; atemberaubend wie das veritable Feuerwerk und die geradezu unfassbare Kostümvielfalt. Dabei spannt sich der Bogen vom Alltagsdress des Opernbesuchers, welches jedem Chormitglied geradezu individuell auf den Leib geschneidert wurde, über die opulente Glitzergötterwelt a la Hollywood da darf auch Elvis nicht fehlen bis hin zum Gammelbrokat und Gilb der Sumpfblütengestalten. Allein für die Gestaltung (Maske, Kostüm, Accessoire) der Platée, in die William Saetre wie in seine zweite Haut schlüpft, wäre auch ein Opern-Oscar fällig. Großes Froschballett
Ja es ist dieser grandiose William Saetre, der uns alle baff staunen macht. Es ist nicht nur sein perfekter Gesang dieser in den höchsten Tönen liegenden Partie, sondern auch jegliche Mimik, die Bewegung, Gestik und Ausdrucksstärke ob Augenzwinkern oder Schulterzucken, Fliegenfangen, der Watschelgang oder der natürliche Ausdruck naiver Kinderfreude dieser Künstler ist Platée vom Scheitel bis zur Sohle. Das ist Rollenidenfikation bis zur Selbstaufgabe. Welch ungeheure Leistung dieses vielseitigen und charmanten Sängers, den wir gerade noch in einer Musical-Stepp-Nummer (The Life) bewundern durften. Saetre ist ein Allround-Talent von beglückender Bühnenpräsenz. Da wird der nächste Opern-Oscar fällig, für die Interpretation der besten männlichen Hauptrolle in einer komischen Oper. Auch die anderen Sänger standen dieser Spitzenleistung in nichts nach. Sei es der grandiose Jupiter von Joachim Gabriel Maaß, der fulminante Elvis-Merkur von Anke Sieloff oder das Koloraturwunder Leah Gordon als Amor/La Folie. Ein pauschales Bravi noch für Nyle P. Wolfe (Satyr/Citeron), Claudia Braun (Thalia/Clarine), Elise Kaufman (Juno) und Günter Papendells Momus.
Die einzelnen Choreografien von Bernd Schindowski waren nicht nur multikunterbunte Untermalung, sondern auch köstliche Handlungsergänzung; absolutes Highlight: das Ballett der kleinen Frösche. Goldig! Zum Knuddeln. Fehlt nur noch Samuel Bächli exzellent wie immer, auch wenn die Musici der Neuen Philharmonie Westfalen sich dem richtigen Barock-Sound noch durchaus etwas einfühlsamer und mit noch mehr Engagement nähern könnten; aber was nicht ist, kann ja noch werden... Ein Sonderlob gehört den im Programmheft unbenannten und im Verborgenen schuftenden Damen und Herren von der Maske. Was für eine Leistung. 1 Ehren-Oscar! Bravi.
Sollten Sie, liebe Musikfreunde, bisher in Barockopern stets eingeschlafen sein oder ist Ihnen die Tiefe dieser Kunstform nie verständlich geworden? Hier werden Sie geholfen! Haben Sie bisher dieses prachtvolle Genre von Musiktheater gemieden, dann ist es Zeit: Auf nach Gelsenkirchen! Auf zu einer exemplarischen Aufführung! Besser und amüsanter wurden wir selten unterhalten. Es ist sicherlich auch für Kinder (ab 5 Jahren) ein optimaler Einstieg ins barocke Opernleben, auch wenn die Moral der Geschichte zwar den Zeitgeist realisiert, aber sonst durchaus verwerflich ist; immerhin humaner als jedes Märchen der Brüder Grimm. Der Kritiker vergibt 4 Opern-Oscars und 5 Sterne. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühne und Kostüme
Choreographie
Chor
Dramaturgie
SolistenLa FolieLeah Gordon
Clarine
Juno
Platée
Mercure
Cithéron
Momus
Jupiter
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