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Orpheus in der Unterwelt

Opéra-bouffon in zwei Akten
Text von Hector Crémieux und Ludovic Halévy
Fassung von 1858 mit Ergänzungen aus der Fassung von 1874
Musik von Jacques Offenbach



Aufführungsdauer: ca. 2 h 30' (eine Pause)

Premiere im Aalto-Theater Essen am 3. Dezember 2005

Rezensierte Aufführung: 15. Dezember 2005


Logo:  Theater Essen

Theater Essen
(Homepage)
Eine Geschichte vom Ende des bürgerlichen Theaters

Von Stefan Schmöe / Fotos von Thilo Beu


„Für das Theatre du Petit Olympe war es der tollste Tag und, berauscht von Musik, Tanz und Wein, konnte am Ende keiner mehr unterscheiden zwischen Maskerade und Wahrheit, zwischen Wirklichkeit und Theater“.

Szenenfoto Körperlicher Gewaltakt: Orpheus (Thomas Piffka) spielt Eurydike (Astrid Kropp) ein Violinkonzert vor.

KlangbeispielKlangbeispiel: Duett Orpheus - Eurydike (Astrid Kropp, Thomas Piffka)
(MP3-Datei)


„Das Theater des Monsieur Jupin – Eine Montage von Dietrich Hilsdorf“ ist der Text überschrieben, der das Programmheft zu Hilsdorfs Neuinszenierung von Orpheus in der Unterwelt komplett füllt und der mit dem oben zitierten Satz schließt. Dort erzählt Hilsdorf die – fiktive, aber in künstlerischem Sinn umso wahrere und mit vielen historisch korrekten Anspielungen unterfütterte – Geschichte eines Pariser Theaters. Auf der Bühne inszeniert er das letzte Kapitel dieser Geschichte, das 1913 am Vorabend des ersten Weltkriegs spielt. Man ahnt die Bomben, unter denen die Gesellschaft verbrennen wird. Es ist ein Untergangs-Szenario, für das man nicht in die Unterwelt hinabsteigen muss. Im französischen Original heißt die Opera-bouffe Orphée aux enfers, aber „l'enfer, c'est les autres“ („Die Hölle, das sind die anderen“): Sartres Verdikt müsste nicht eigens zitiert werden, es hängt allgegenwärtig in der Luft.

Szenenfoto Suizidgefährdet: Pluto (kniend: Rainer Maria Röhr) vor Theaterdirektor Jupin alias Jupiter (sitzend: Christoph Homberger)

KlangbeispielKlangbeispiel: Pluto (Rainer Maria Röhr)
(MP3-Datei)


Einmal mehr hat Dietrich Hilsdorf für eine Klassiker-Inszenierung ein eigenes Handlunsszenario entworfen und kommt der Wahrheit des Werkes gerade dadurch umso näher. Alle Operettenheiterkeit hat er ausgemistet, sich kabarettistische Aktualisierungen (wie sie zuletzt in Köln kläglich gescheitert sind – siehe unsere Rezension) strikt untersagt. Zwar gibt es viele komische Momente, aber diese sind durchweg doppelbödig. Hilsdorf zeigt das Gewaltpotential, das in den Beziehungen der Figuren nicht einmal verborgen, sondern ganz offen liegt. Jupiter, hier umgedeutet in den Theaterdirektor Jupin, wird von Christoph Homberger als despotischer Machtmensch angelegt, dessen (im wahrsten Wortsinn) joviales Auftreten jederzeit umschlagen kann. Homberger zeigt das als eindrucksvolle Charakterstudie. Orpheus' Violinkonzert ist ein Gewaltakt, bei dem er, anstatt zu spielen, Eurydike an den Haaren reißt; Thomas Piffka (mit solide geführtem, höhensicherem Tenor) lässt hinter der eloquenten Fassade einiges Aggressionspotential aufblitzen. Und Astrid Kropp ist als Eurydike nicht nur eine äußerlich blendende Erscheinung mit viel Sex-Appeal, sondern trumpft nach etwas verhaltenem Beginn mit einer sehr beweglichen und zunehmend strahlenden Stimme auf: Eine Frau, die ihre Reize gezielt einzusetzen weiß.

Szenenfoto Die Schöne und die Fliege: Eurydike (Astrid Kropp) spielt mit Jupiter (Christoph Homberger)

Die Unterwelt ist der Souffleurkasten, aus dem Stichwortgeber Simon Masque alias Pluto heraufsteigt. Rainer Maria Röhr gibt ihn als mephistophelischen Strippenzieher mit scharf konturiertem Tenor; auch im Untergang ein eleganter Conferencier. Der kleinwüchsige Schauspieler Rüdiger Frank (der schon als Puck in Brittens Midsummer Night's Dream brillierte) führt den John Styx als körperlich wie seelisch deformierte Kreatur vor und macht beinahe eine Hauptrolle daraus – Verletzbarkeit und Zerstörungswut liegen hier nahe beieinander. Die „Öffentliche Meinung“ ist – endlich! – einmal nicht die Vertreterin des lokalen Klatschblattes, sondern ein Putzfrau und damit am unteren Ende der sozialen Skala angesiedelt; Eva Tamulenas verleiht ihr etwas von der Unheimlichkeit einer Seherin. Aus dem Götter-Clan ragt Marie-Belle Sandis als stimmlich sehr agiler, leuchtender Cupido heraus.

Szenenfoto Die Schöne und der Zwerg: Eurydike (Astrid Kropp) weist den liebestollen John Styx (Rüdiger Frank) ab.

Dieter Richter hat einen melancholisch schönen Bühnenraum geschaffen; einen Ballettsaal (mit Bühne), der deutliche Zeichen des Verfalls aufweist und der irgendwo zwischen Unterbühne und Foyer (beides ist an den Seiten angedeutet) angesiedelt ist. Das ist kein realer Raum, aber real genug, um das eingangs erwähnte Wechselspiel zwischen Maskerade und Wahrheit in Gang zu setzen. Die Konstellation des „Theaters auf dem Theater“ nutzen Hilsdorf und seine Choreographen James de Groot und Paul Kribbe immer wieder für Überblendungen. Innerhalb der Geschichte wird eine frivole Revue geprobt, was Anlass für Tanzszenen liefert; aber die Trennlinie zwischen Revue und Rahmenhandlung verschwimmt. Die gesamte Aufführung trägt Züge einer großen Revue, und so „funktioniert“ die Inszenierung jenseits der etlichen, oft sehr komplexen Anspielungen und Querverbindungen auch auf einer vordergründigen Ebene: Wer „nur zum Schauen“ gekommen ist, kommt auf seine Unterhaltungs-Kosten. Auch das zeichnet diese großartige Inszenierung aus, nämlich dass man sie von verschiedenen Standpunkten aus betrachten (und genießen) kann, ohne dass sich die Ebenen widersprechen. Mit Hilsdorfs Worten gesprochen: „Am Ende kann keiner mehr unterscheiden zwischen Maskerade und Wahrheit.“

Szenenfoto Man ahnt den Weltenbrand des Krieges: galop infernal

KlangbeispielKlangbeispiel: Chor
(MP3-Datei)


Trotz des gedanklichen Überbaus liegt der Schwerpunkt der Inszenierung klar auf der Musik (anders als zuletzt in Köln, wo die Musik in einer vom Schauspielerischen dominierten Inszenierung an den Rand gedrückt wurde). Hilsdorf hat Gespür für das richtige Tempo, und so läuft die Inszenierung immer auf die nächste Musiknummer zu. Neben dem exzellent agierenden Ensemble, Chor und Tänzer eingeschlossen, die Hilsdorfs punktgenaue Personenführung hervorragend umsetzt, ist Dirigent Stefan Soltesz mit den ausgezeichneten Essener Philharmonikern Stütze des Erfolgs. Weitab jeglicher Operettenseligkeit liefert das Orchester schlanken, vielschichtig konturierten Offenbach mit manchen fahlen und aufgerauten Klangfarben. Musikalische und szenische Interpretation greifen ineinander. So trägt der berühmte „galop infernal“ die infernalischen Züge, die auf den Absturz hindeuten. Nicht zuletzt deshalb geht dieser Orpheus unter die Haut.


FAZIT

Selten wird Operette so ernst genommen wie hier: Dietrich Hilsdorf und Stefan Soltesz zeigen mit einem hervorragend disponierten Ensemble ein grandioses Untergangs-Spektakel.


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Stefan Soltesz

Inszenierung
Dietrich Hilsdorf

Bühne
Dieter Richter

Kostüme
Renate Schmitzer

Licht
Jürgen Nase

Chor
Alexander Eberle

Dramaturgie
Norbert Grote



Chor und Statisterie des
Aalto-Theaters Essen

Die Essener Philharmoniker



Solisten

Orpheus
Thomas Piffka

Eurydike
Astrid Kropp

Die Öffentliche Meinung
Eva Tamulenas

Jupiter
Christoph Homberger

Juno
Margarita Turner

Pluto
Rainer Maria Röhr

Cupido
Marie-Belle Sandis

Venus
Marie-Helen Joel

Diana
Bea Robein

Minerva
Marion Thienel

Mars
Michael Haag

Merkur
Albrecht Kludszuweit

John Styx
Rüdiger Frank

Tänzerinnen
Karin van Sijda
Ekaterina Khozieva
Valentina Khozieva
Debora Formica
Heather Shockley
Ramona Kunze






Weitere Informationen
erhalten Sie vom
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Da capo al Fine

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