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Wozzeck im Baumarkt
Von Bernd Stopka / Fotos von Matthias Creutziger Eine wild durcheinander nummerierte Stuhlreihe steht vor einer Glasfront. Dahinter eine belebte Einkaufsstraße, die durch eine Filmprojektion in das Bühnenbild eingefügt wird. Ein laufendes Werbespruchband zeigt abwechselnd Werbeslogans und Bibelzitate. Hinter der Glasfront befinden sich ein Abfalleimer mit Aschenbecher und ein Geldautomat, Später erfahren wir, dass das Schaufenster zur neu eröffneten Filiale einer Baumarktkette gehört. Aus großen orangen Buchstaben wird dann HORNBAC auf das Dach gestellt. Das H bleibt unten auf der Straße stehen.
Wozzeck (Andreas Schmidt),
Rechts auf der Bühne steht das Modell einer Kirche auf einer überdimensionalen Tomatenmarkdose. Ein verdrehtes Zeichen auf dem Modell könnte entsprechend zurechtgerückt sowohl Kirche, als auch Frau bedeuten. Wir sind in der Dresdner Semperoper und denken an die Frauenkirche. Aber ob das Produktionsteam dabei auch an selbige gedacht hat? Sebastian Baumgarten zeigt in seinen Regiearbeiten immer sehr eigene Blickwinkel und Gedankegänge und manchmal auch nur freie Assoziationen zum Thema. Vor einem guten Jahr hatte seine Inszenierung von Alban Bergs "Wozzeck" an der Semperoper Premiere. Mit Frank Philipp Schlößmann als Bühnenbildner und Michael Graessner als Kostümbilder hat er die Geschichte in die Gegenwart geholt und stellt Wozzecks Schwierigkeiten als soziale Konflikte zwischen Konsumorientierung und Werbungsterrorismus dar. Kein Wunder, dass ein einfältiger Kopf mit einer sensiblen Seele wie Wozzeck damit überfordert ist. Sein Hauptmann schikaniert, piesackt und demütigt ihn genauso wie der Doktor, der mit ihm ernährungstechnische Experimente macht. Sind es im Original Bohnen, so sind es hier Konservendosen (vielleicht ja auch Bohnen) und Wozzeck ist nicht der einzige Proband: Es gibt sechs weitere, sie sich ihre Ration von einer Europalette auf einem Hubwagen holen und sie dann im Kreis sitzend verdrücken. Es sind genau die sechs, die als Terrorgruppe ACEDIA das Kirchenmodell anzünden (!).
Mehrfach versucht Wozzeck sich gegen die verbale Überlegenheit der anderen zu behaupten. Doch gerade dann gelingt es ihm nicht, sich zu artikulieren. Er stammelt stumm, schlägt die Hände zusammen und rennt weg. Wozzeck (Andreas Schmidt)
Wie lautlose Kampfroboter bewegen sich die karierthemdig uniformierten Baumarktmitarbeiter. Selbst sie sind für Wozzeck bedrohlich. Eigentlich möchte er selbst gern dazugehören. Verzweifelt schreibt er auf die Schaufenster "Gebt mir ein Zeichen". Die Szene, die eigentlich in der Schenke spielt, zeigt das Eröffnungsfest der Marktfiliale. Ein dicker, albern tanzender Clown findet sich "Lustig, lustig". Wozzeck demonstriert das Teppichmesser, mit dem er Marie im Schaufenster erstochen hat. Er sieht sich bedroht. Die Kundschaft wird zu Freaks. In einen großen Kasten eingesperrt wird er mit projizierter Werbung geradezu erschlagen, sein Gesicht ist schmerzverzerrt, er verliert die Haare und kommt erlöst und befreit im Baumarkt-Mitarbeiter-Outfit wieder hervor. Marie wirkt eher nuttig als bühnentypisch ärmlich. Das zeigt eine aktuelle Form von Armut und sozialer Unangepasstheit. Ihr Sohn ist kein kleines Kind mehr. Er schleppt ihr ständig übergroße Plastik- und Einkaufstüten hinterher. Das Hab und Gut von Obdachlosen? Die Begegnung mit dem Tambourmajor ist hier eine kurze, aber brutale Vergewaltigung auf offener Straße. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Ehebrecherin aus dem neuen Testament, die Marie das Gewissen schwer macht, passt allerdings wenig in diesen szenischen Kontext. Andreas Schmidt bringt für den Wozzeck viele schauspielerische Fähigkeiten mit, die ihn diesen geschundenen und benachteiligten aber im Grunde seiner Seele lieben Menschen bewegend darstellen lassen. Mit seinem erfahrungsreichen Bariton gestaltet er die Partie sehr eindringlich. Für die erkrankte Anne Schwanewilms ist Angela Denoke als Marie eingesprungen. Mit ihrer ansprechenden Bühnenerscheinung und ihrem sehr präsenten, klaren und klangschönen Sopran konnte sie restlos begeistern. Wolfgang Schmidt bewährt sich seit einiger Zeit im Charakterfach. Sein heller, hier oft frech keifender Tenor ist geradezu ideal für den Hauptmann. Christa Mayer ist eine zugleich sinnliche und zickige Margret, Oliver Ringerhahn ein sympathischer Andres, Reinhard Dorn ein bassgewaltiger Doktor. Als Tambourmajor klingt Douglas Nasrawi ein wenig angestrengt. Asher Fisch wird mit der Staatskapelle sowohl den romantisch-elegischen als auch den harten brutalen Klängen gerecht - und allen ihren Zwischenstufen, die sich in dieser Musik ausgiebig entfalten.
Wozzeck (links) nach dem
Baumgarten zeigt eine eigenwillige Anpassung der Handlung an die heutige Zeit. Packend, fesselnd, desillusionierend, wenn auch nicht immer werkerhellend. Auf die ursprüngliche Handlung darf man dabei allerdings keinen Wert legen. Ein spannender Abend, aber nichts für Puristen.
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Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühnenbild
Kostüme
Dramaturgie
Chor
Video
Licht
SolistenWozzeckAndreas Schmidt
Marie
Tambourmajor
Andres
Hauptmann
Doktor
1. Handwerksbursch
2. Handwerksbursch
Narr
Margret
Mariens Knabe
Soldat
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