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Cardillac
Oper in drei Akten (vier Bildern)
Text von Ferdinand Lion nach der Novelle
"Das Fräulein von Scuderi" von E. T. A. Hoffmann
Musik von Paul Hindemith (Urfassung von 1926)


in deutscher Sprache

Aufführungsdauer: ca. 1h 40' (keine Pause)

Premiere im Opernhaus Bonn am 5. März 2006



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Theater Bonn
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Espressivo der neuen Sachlichkeit

Von Stefan Schmöe / Fotos von Thilo Beu


Paul Hindemith muss selbst erschrocken gewesen sein, als er nach der Katastrophe des Nationalsozialismus und des 2. Weltkriegs auf die kompromisslose Radikalität seines 1926 uraufgeführten Cardillac zurückblickte. Ein Künstler, der in seiner fanatischen Fixierung auf das von ihm geschaffene Objekt buchstäblich über Leichen geht, brauchte nach 1945 eine moralische Rechtfertigung. Der unter den Nazis als „entartet“ aussortierte Hindemith schuf paradoxerweise als Distanzierung vom Herrenmenschen der NS-Zeit eine Zweitfassung des Werkes mit vollständig neuem Libretto, die den kompromittierten Stoff entschärft (in Bonn spielt man, wie seit den 60er-Jahren allgemein üblich, die Urfassung). Das zweite Paradoxon des Cardillac ist der Rückgriff des neusachlichen Komponisten auf ein erzromantisches Sujet, nämlich E. T. A. Hoffmanns Novelle Das Fräulein von Scuderi von 1819. Die Geschichte des Goldschmieds Cardillac, der seine Kunstwerke per Raubmord zurückholt, wird im Libretto von Ferdinand Lion allerdings verdichtet auf die Hauptfigur der Oper, neben der alle weiteren Figuren namenlos bleiben. Die vordergründig romantische Parabel auf den um Autarkie ringenden Künstler wird sozusagen ihrer Romantik entkleidet, zumal die Musik sich auf „sachliche“ barocke Formen wie Fuge oder Passacaglia zurückzieht.


Vergrößerung in neuem Fenster Von der eigenen Kunst besessen bis zum Mord: Cardillac (Andreas Scheibner)

In Klaus Weises vielschichtiger Bonner Neuinszenierung ist die Handlung einer konkreten Raum- und Zeitzuordnung enthoben. Anklänge an des Expressionismus der Entstehungszeit sind vorhanden, drängen sich aber nicht in den Vordergrund. Das düstere-klare Bühnenbild von Martin Kukulies mit abstrakten, verschiebbaren Elementen in gravitätischem Schwarz gibt effektvoll die Spielfläche für den glatzköpfigen Cardillac ab, der durch die Präsenz des trotz einer Indisposition überragenden Andreas Scheibner scharfe (aber eben nicht erklärend psychologisierende) Konturen bekommt – ein Dämon, dessen Triebkraft die bürgerliche Vernunft nicht deuten will und kann. Schreibner, mit gar nicht einmal besonders große Stimme, singt ganz im Sinn der strengen Partitur stets kontrolliert und mit großer Genauigkeit. Kluge Phrasierung und genaue Nuancierung verleihen der Figur das erforderliche musikalische Format.


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Das schöne Tier: Die Dame (Asta Zubaite) wird im Käfig präsentiert; der Kavalier (Mark Rosenthal) steht obenauf.

Die verschiedenen Sphären der Oper und ihrer Rezeptionsgeschichte sind neben der zeitlos monumentalen Titelfigur (die im Lederkostüm aber auch faschistoide Züge andeutet) in den Personen präsent, die um Cardillac wie Planeten um das Gravitationszentrum herumkreisen. Carmen Fugiss als „die Tochter“ ist eine 20er-Jahre-Schönheit, stimmlich agil und höhensicher, aber für die Rolle etwas zu leicht besetzt. Das Schwarz-Weiß-Rot ihres Kleides mag man, etwas bemüht, mit den Reichsfarben in Verbindung bringen (ebenso wie die ästhetisch verunglückten Phantasieuniformen von „Offizier“ und „Kavalier“, die diesen Farbcode variieren). Ihr Liebhaber, der „Offizier“ (der Cardillac letztendlich zur Strecke bringen wird), wird von Timothy Simpson mehr kraftvoll tenoral gestemmt als ausgesungen, wie auch der „Kavalier“ von Mark Rosenthal. Beide Figuren (im gleichen Stimmfach) haben es allein wegen ihrer Rollenkonzeption her schwer, sich neben Cardillac zu profilieren. Einfacher hat es Martin Tzonev als Goldhändler, hier als (sympathische) Karikatur des buckligen Juden angelegt, der mit hintergründigem Humor die verhältnismäßig kleine Partie bewältigt.


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Hoher Besuch: Der König (ungenannter Statist) erscheint in Cardillcs Werkstatt

Klangbeispiel Klangbeispiel: "Mag Mondlicht leuchten" (Auszug Nr. 13 - "Arioso", 2. Akt) - Cardillac (Andreas Scheibner)
(MP3-Datei)


Die „Dame“, in der späteren Fassung zu einer Sängerin aufgewertet, wird von Weise noch radikaler entindividualisiert als schon bei Hindemith. Der Regisseur vervielfacht sie durch mehrere Statistinnen, und auf den schwarzen Kleidern sind die Umrisse des weiblichen Körpers comichaft gezeichnet – so wird die „Dame“ ganz zum Sexualobjekt reduziert. Dass sie im Käfig hereingefahren wird, kann man als Reminiszenz an Bergs rund 10 Jahre später entstandene Lulu auffassen, deren Prolog das Zirkusambiente aufgreifen wird. Asta Zubaite singt die Partie ordentlich, im Spagat zwischen abstrahierender Sachlichkeit und der trotzdem erforderlichen Sinnlichkeit bleibt letztere etwas auf der Strecke, auch der etwas unbestimmten Intonation wegen. Solide singt Mark Morouse den Führer der Prévoté.


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Apokalyptisches Finale: Cardillac rühmt sich vor dem Volk seiner Mordtaten im Dienste der Kunst

Klangbeispiel Klangbeispiel: "Geheimnis bleibt mein eigen" (Auszug aus Nr. 17 - "Wechselgesang", 3. Akt); Cardillac (Andreas Scheibner), Volk (Chor)
(MP3-Datei)


Wirkungsvoll verfremdet wirkt der Auftritt des (stummen) Königs, der sehr kindlich und samt Gefolge in Kostümen des 17. Jahrhunderts erscheint. Die Spannung zwischen der hier eindeutigen zeitlichen Zuordnung des Monarchen (in der Darstellung durch ein Kind aber gleich wieder gebrochen) und der abstrahierenden Zeichnung des Cardillacs hält die Inszenierung im Schwebezustand. Dieses „nichts ist eindeutig“ (das mit romantischer Verschwommenheit aber nichts zu tun hat) wird auch in der Darstellung des Volkes durch den exzellent von Sibylle Wagner einstudierten, klangvollen und spielerisch wie sängerisch jederzeit präsenten Chor deutlich. Vor die Gesichter halten sich die Sänger wie fratzenhafte Masken großformatige fotografische (Selbst-)Portraits. So wird das eigene Gesicht zur Fassade. Im Schlussbild werden diese Masken um den sterbenden Cardillac abgelegt – Zeichen der Befreiung? Wie vieles in der Inszenierung verweigert sich das eindrucksvolle Bild einer eindeutigen Interpretation.


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Das Ende: Tochter (Carmen Fugiss) und Offizier (Timothy Simpson) finden den vom Volk gelynchten Cardillac (Andreas Scheibner)

Die Spannung der rund 100-minütigen, sehr kompakten Aufführung resultiert nicht zuletzt aus dem unter der Leitung von Erich Wächter konzentriert und mit hohem Nachdruck spielenden Beethoven Orchester Bonn. Trotz ihrer polyphonen, „sachlichen“ Struktur hat Hindemiths Musik durch die vorantreibende Rhythmik einen sehr expressiven Zug, den Wächter vor allem im zupackenden, nur ganz selten lärmenden Forte hörbar macht. Überzeugend kontrastiert wird dies durch schöne Piano- und Pianissimo-Passagen. Etwas unscharf ist der Bereich dazwischen, der prägnanter konturiert und in den solistisch geführten Passagen mehr durchgestaltet sein könnte. Auch Hindemiths Raffinesse bei der Behandlung der Orchesterfarben könnte noch plastischer hörbar gemacht werden. Gut gelungen ist die Klangbalance zwischen Solisten, Chor und Orchester.


FAZIT

Beeindruckende, auch musikalisch weitgehend überzeugende Inszenierung, die nicht zuletzt deshalb geglückt ist, weil sie Hindemiths Oper ihre Rätsel lässt.


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Erich Wächter

Inszenierung
Klaus Weise

Bühne
Martin Kukulies

Kostüme
Fred Fenner

Licht
Thomas Roscher

Choreinstudierung
Sibylle Wagner

Dramaturgie
Martin Essinger


Statisterie des Theater Bonn

Chor und Extrachor
des Theater Bonn
Beethoven Orchester Bonn


Solisten



Cardillac
Andreas Scheibner

Seine Tochter
Carmen Fuggiss

Der Offizier
Timothy Simpson

Der Goldhändler
Martin Tzonev

Der Kavalier
Mark Rosenthal

Die Dame
Asta Zubaite

Der Führer der Prévoté
Mark Morouse



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