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Musiktheater
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Orest

Oper in drei Akten von Georg Friedrich Händel
nach einem Libretto von Giovanni Gualberto Barlocci
Deutsche Textfassung von Werner Hintze und Bettina Bartz
in einer Einrichtung der Komischen Oper Berlin
mit Texten von Giorgio Agamben, Georges Bataille, Alexander Kluge und Jean-Charles Masséra


in deutscher Sprache

Aufführungsdauer: ca. 2h 15' (keine Pause)

Premiere an der Komischen Oper Berlin am 26. Februar 2006
(rezensierte Aufführung: 5. März 2006)


Homepage

Komische Oper Berlin
(Homepage)
Postkommunistisch, postdramatisch, postfastidiös

Von Artie Heinrich / Fotos von Monika Rittershaus

Oreste ist eine kaum bekannte Oper Georg Friedrich Händels, was wohl auch darin begründet sein mag, dass es sich hierbei um ein Pasticcio handelt, also eine Zusammenstellung bereits vorhandener Arien zu einem neuen Ganzen. Diese Art der Komposition hatte seit der Romantik den Ruch des Un-Künstlerischen - das Pasticcio wurde nicht als vollwertiges Werk betrachtet, sondern als sinn- und wertloses Sammelsurium.

Vergrößerung

Iphigenie (Maria Bengtsson),
Orest (Charlotte Hellekant),
Pylades (Finnur Bjarnason)

Wie geht man nun in moderner Zeit mit einem solchen Stück um? Das Programmheft zur Orest-Aufführung der Komischen Oper Berlin gibt darauf sogleich Antwort. Regisseur Sebastian Baumgarten sieht in der Pasticcio-Form "eine offene Dramaturgie im modernen Sinne. Man kann in die Struktur des Stückes eingreifen, kann Arien verschieben, sie wiederholen oder Zitate einfügen. Man kann in die Handlung verändernd eingreifen."

Dazu noch den Hinweis der Spieldauer von nur zweieinviertel Stunden (ohne Pause!). Das Gefühl, es jetzt gleich mit etwas zu tun zu bekommen, das treffend mit dem Wörtchen ‚radikal' zu beschreiben ist, steigt. Die Befürchtung, ob das dann noch etwas mit einer Barockoper zu tun hat, allerdings auch. Aber immerhin ist ja mit Thomas Hengelbrock hier ein Dirigent am Werk, der um die Nuancen alter Musik und ihre kunstfertige Präsentation weiß - oder? ODER?

Vergrößerung von links: Artemis (Carolin Mylord),
Orest (Charlotte Hellekant),
Iphigenie (Maria Bengtsson)

Der erste Blick auf die Bühne lässt schon erahnen, dass hier alles anders gemacht werden soll: das Orchester ist ganz hinten, hinter der Szenerie und den Sängern postiert; Stühle, Tische und multifunktionale Quader auf dem abgedeckten Orchestergraben ergeben ein Bühnenbild, das ein wenig an eine Schultheateraufführung erinnert. Sie soll einen sozialen Brennpunkt im post-kommunistischen Ostblock darstellen - nur gut, dass man dem Einführungsvortrag vor der Vorstellung beigewohnt hat - so ohne weiteres hätte sich einem das nicht erschlossen. Obwohl, wenn dann die ersten Flaschen Wodka auf der Bühne verschüttet werden, dann hätte man es wohl auch so gemerkt.

Was folgt, sind zweieinviertel Stunden ‚Pasticcio' im schlimmsten Sinne. Man nehme eine Barockoper, polistisches Theater und Experimentalgroteske und vermenge das Ganze zu einem zähen Brei, der in etwa so ansprechend ist, wie das Gemisch aus Blut, Schleim und Knochen, das die Göttin Artemis in der parallel zum ersten Akt ablaufenden Video-Installation zusammenrührt. Überhaupt wird man den Eindruck nicht los, hier müsse alles radikal anders gemacht werden und so viele Versatzstücke und Ideenansätze wie möglich nebeneinander gestellt werden. Nur ausgeführt und zu Ende gedacht wird so gut wie nichts. So etwa in der mit wackeliger Handkamera auf die riesige Leinwand hiner dem Orchester übertragenen Arie des Pylades, die im Stile eines El-Kaida-Entführungsvideos daherkommt. Schock und Provokation kann durchaus sinnvoll sein und ein starkes Mittel - wenn man etwas damit aussagen will. An diesem Abend leider bleibt es reiner Selbstzweck. Naja, es ist wohl gerade in, provokant zu sein. Aber dann bitte richtig! Das bisschen Blut und abgenagte Knochen (wie schön - ein Kannibalismusansatz) entlocken dem medial überfütterten Zuschauer kaum noch ein Schaudern. Da sollte Baumgarten wohl noch ein bisschen Schlingensief studieren.

Vergrößerung

Iphigenie (Maria Bengtsson)

Und so folgt Schlaglicht auf Schlaglicht: Artemis, die EU-kritische Texte salbadert; eine kindische Lesung; der intensive Einsatz eines Tackers; Videomätzchen - und so wirr, wie das hier klingt, ist es auch auf der Bühne.

So sucht man denn Rettung in der Musik - vergebens! Auch Hengelbrock meinte wohl, unbedingt anders sein zu müssen. Die Besetzung des Continuo etwa mit Balalaika und Akkordeon klingt auf dem Papier noch recht skurril. In der musikalischen Realität wird dadurch sowohl mit Händel als auch dem restlichen Orchesterklang gründlich gebrochen. Und wenn dann das Akkordeon auch noch eingesetzt wird, um minutenlang den unerträglich trommelfellmarternden Ton einer Mikrofon-Übersteuerung zu imitieren, fragt man sich wirklich, auf wessen Mist so etwas gewachsen ist. Aber Respekt vor der Musik hat sowieso keiner: da versanden Arien im Nichts; da wird in den Gesang und die Musik hineingesprochen und -gequakt, dass es nur so eine Freude ist (nein, nicht wirklich!). Und um auf die Aufführungsdauer von zweieinviertel Stunden zu kommen, schlägt Hengelbrock ein Tempo an, das die Musik nur noch gehetzt und kurzatmig klingen lässt. Das überträgt sich natürlich auf die Sänger: die Stimmen klingen gleichsam unentwickelt, gepresst, verzittert. Und die Positionierung weit vor dem Orchester ohne Möglichkeit der gegenseitigen Kontaktaufnahme führt desöfteren zu mehr oder weniger ohrenfälligen Abstimmungsschwierigkeiten und auch der gelegentlichen intonatorischen Detonation.

Lediglich am Ende des zweiten Aktes kann ein musikalischer Höhepunkt durchscheinen: im langsamen, getragenen (endlich!) Abschiedsduett von Orest und Hermione blitzt klanglich purer Händel auf - man bekommt einen kurzen Eindruck dessen, was hätte sein können. Mag auch daran liegen, dass in diesem Moment auf der Bühne endlich einmal gar nichts passiert - dass die Musik Raum und Zeit bekommt, zu wirken. Leider bleibt diese Szene der einsame große Moment dieses Abends.

Vergrößerung Orest (Charlotte Hellekant), Pylades (Finnur Bjarnason)

Und dann gelingt es dem Duo Infernale Baumgarten/Hengelbrock doch glatt auch noch, den Schluss der Oper zu versauen: der Finalchor endet im gesprochenen Durcheinander der Akteure - kein Ritornell, keine erlösende Kadenz - einfach nur eine ungenießbare Pastete.


FAZIT

Respekt - so gründlich habe ich noch keinen Händel in den Sand gesetzt gesehen. Man ahnt, warum das Stück ohne Pause aufgeführt wird. Aber Kunst darf ja bekanntlich alles - hier wird sie eben dem fragwürdigen Ideal eines post-dramatischen Experimentierertums geopfert. Immerhin lässt sich sagen, dass Baumgarten mit seiner Auslegung polarisiert. Das verschafft zwar dem Zuschauer keinen schönen Opernabend, aber dem Regisseur gute Chancen für seine weitere Karriere - denn damit bringt er sich und sein Haus ins Gespräch. Beim Fernsehen würde man wohl sagen: Quote um jeden Preis. Und so soll er nur munter weitermachen - nur bitte nie mehr mit Händel!


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Thomas Hengelbrock

Inszenierung
Sebastian Baumgarten

Bühne
Robert Lippok
Ronald Lippok

Kostüme
Valerie von Stillfried

Video
Stefan Bischoff

Licht
Franck Evin

Dramaturgie
Ingo Gerlach



Orchester der Komischen Oper Berlin

Continuo:
Thomas Ihlenfeldt, Theorbe/Barockgitarre
Margret Köll, Barockharfe
Lutz Kohl, Cembalo/Orgel

Juri Tarasenók, Akkordeon
Olaf Opitz, Balalaika


Solisten

Orest
Charlotte Hellekant

Hermione
Valentina Farcas

Iphigenie
Maria Bengtsson

Pylades
Finnur Bjarnason

Thoas
James Creswell

Philoktet
Maria Streijffert

Artemis
Carolin Mylord






Weitere Informationen
erhalten Sie von der
Komischen Oper Berlin
(Homepage)



Da capo al Fine

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