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Musiktheater
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Simplicius Simplicissimus

Drei Szenen aus seiner Jugend
Musik von Karl Amadeus Hartmann
Text von Hermann Scherchen,
Wolfgang Petzet und vom Komponisten
nach dem Roman Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch (1669)
von Jakob Christoffel von Grimmelshausen

In deutscher Sprache mit deutschen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 1 1/2 Stunden (keine Pause)

Premiere am 8. Mai 2004
im Staatstheater Stuttgart

Homepage Staatstheater Stuttgart

(Homepage)

Der Menschheit Stimme

Von Christoph Wurzel


Grimmelshausens ausladendes episches Panorama über den Dreißigjährigen Krieg schildert in rund 150 Episoden die Geschehnisse dieser von an- und abschwellenden Kriegshandlungen gepeinigten Zeit. Als endlos muss den Menschen das Grauen vorgekommen sein und mehrere Generationen von Menschen müssen an den Folgen traumatisch gelitten haben, so dass der Dreißigjährige Krieg, der sich wie ein Leichentuch über ganz Mitteleuropa gelegt hatte, lange im Bewusstsein der Völker als Urbild einer Katastrophe aller menschlichen Zivilisation weiterlebte.

Nach eigenem Bekunden hat der neunundzwanzigjährige Karl Amadeus Hartmann 1934 auf Anregung des Dirigenten Hermann Scherchen Grimmelshausens Sujet als Opernstoff entdeckt, das ihn sofort in Bann geschlagen habe, denn "da war der einzelne hilflos der Verheerung und Verwilderung einer Epoche ausgeliefert". Hartmann muss darin das Schicksal der eigenen Zeit erkannt haben: etwa ein Jahr zuvor hatten die Nazis die Macht ergriffen. Für Hartmann stand von Anfang an fest, dass dies zu der Katastrophe eines neuen Krieges führen würde.

Hartmann, der aus einem sozialistisch gesinnten Elternhaus stammte, erwies sich damit als einer von (zu) wenigen Hellsichtigen, die der braunen Barbarei von Anfang an widerstanden haben. Bald nach der Errichtung der Diktatur und der Gleichschaltung des kulturellen Lebens, als andere Komponisten noch glaubten, sich den braunen Machthabern dienstbar machen zu müssen, wie etwa Richard Strauss als Präsident der Reichmusikkammer, entschied sich Hartmann für den Weg der radikalen Ablehnung in Form der inneren Emigration. Seine bisherigen Werke waren von den neuen musikalischen Richtungen beeinflusst, allem, was in der Weimarer Zeit als musikalische Avantgarde galt. Einem Aufführungsboykott der braunen Barbaren als "entarteter Künstler" wollte Hartmann zuvorkommen und sich in keiner Weise instrumentalisieren lassen. So schrieb er entweder Werke, die für die Aufführung im Ausland geeignet waren - wofür es aber nur wenige Anlässe gab - oder für die Schublade, wie eben die Oper Simplicissimus.

Er nahm damit ein hohes soziales Risiko auf sich und die dreiköpfige Familie konnte nur dank der Zuwendungen der Eltern seiner Frau materiell überleben. Der zu späte Entschluss zur Emigration musste an den fehlenden Mitteln zwangsläufig scheitern, so dass Hartmann im Laufe der zwölf Jahre Naziherrschaft in tiefe Depression fiel, die sein kompositorisches Schaffen zeitweise nahezu lähmte. Wie Emil Nolde seine "ungemalten Bilder", so vergrub Hartmann die Urschriften seiner Kompositionen in Blechdosen unter der Erde.

Erst nach dem Zusammenbruch des 1000jährigen Reichs konnte Hartmann wieder künstlerisch aufatmen. Viele seiner danach entstandenen zumeist großen sinfonischen Werke widmen sich den dunklen Seiten menschlicher Erfahrungen, nicht verwunderlich angesichts einer solchen Biografie. Im Januar 1945 muss er Augenzeuge des Todesmarsches der Dachauer KZ-Gefangenen geworden sein. Unter diesem Eindruck schrieb er - ähnlich wie einst Janacek anlässlich der blutigen Niederschlagung einer Demonstration in Brünn am "1.X.1905", die Klaviersonate "27. April 1945".

Auch in den Jahren des demokratischen Neuanfangs blieb Hartmann ein politisch wacher Kopf, der sich etwa gegen weiter wirkenden Antisemitismus oder gegen die globale Bedrohung durch Atomwaffen zu Wort meldete. Auch jetzt noch blieb er ein unabhängiger Geist. Eine Berufung in die DDR-Kunstakademie lehnte er ebenso ab wie den Ruf an die Musikhochschule in Köln.

Ruhmreich wirkte er in München als Organisator der "Musica viva"-Konzerte, in denen er im Laufe vieler Jahre zum Wegbereiter der neuen Musik wurde. Hans Werner Henze verdankt ihm zum Beispiel wichtige Förderung in dieser Zeit. Aber auch der unter der Diktatur verfemten Musik half er wieder Gehör zu verschaffen: Hindemith, Strawinsky, Schönberg setzte er rasch wieder auf die Programme und bei erster Gelegenheit erklang im Herbst 1945 in München wieder eine Sinfonie von Gustav Mahler.

Karl Amadeus Hartmann als Bekenntnismusiker zu bezeichnen, bedeutet demnach zuerst, seine auch in schwierigsten Zeiten aufrechte und durch nichts zu korrumpierende Haltung zu würdigen. Am 5. Dezember 1963 ist Karl Amadeus Hartmann in München gestorben, am gleichen Tag und im gleichen Monat übrigens wie sein Namensvetter Wolfgang Amadeus.

Als einen Akt des Widerstands mit künstlerischen Mitteln komponierte Hartmann 1934/ 35 also Des Simplicius Simplicissimus Jugend (so der Titel der Urfassung, die 1948 im München zuerst konzertant uraufgeführt wurde). Gemeinsam mit Scherchen hatte er drei Szenen aus Grimmelshausens Roman ausgewählt. Die erste spielt auf dem Bauernhof, auf dem der Knabe aufwächst und der von plündernder Soldateska verwüstet wird. Die zweite Szene führt in die Welt des Einsiedel. Der beschaulich zurück gezogene Mann nennt den Jungen ob dessen Einfalt "Simplicius" und lehrt ihn das Beten und die "Tugenden von den Lastern zu unterscheiden". Nach dem Tod des Einsiedels wird Simplicius von Landsknechten aufgegriffen und in die Gesellschaft des Gouverneurs verschleppt. Die dritte Szene stellt ein "Bankett in einem festlich geschmückten Saal" dar, ein Gelage, bei dem Offiziere und Kriegsgewinnler sich beim Saufen und Huren vergnügen. Seiner scheinbaren Einfalt wegen ernennt der Gouverneur Simplicius zum Hofnarren, worauf dieser in der Allegorie des Gesellschaftsbaumes ein Bild der gegenwärtigen Unterdrückungsordnung entwirft. Die Oper endet mit dem Überfall marodierender Bauern. Simplicius bleibt orientierungslos in einer solch entmenschlichten Welt allein zurück.

Die Autoren haben den Stoff auf wenige Motive verdichtet: die Arroganz der Kriegsherren und die Greuel, die sie ausüben auf der einen, die Leiden der einfachen Leute, die sie erdulden müssen, auf der anderen Seite und gleichsam als der rettende dritte Weg die Bewahrung der Güte, praktizierte Demut und das Mitleiden mit den Geschundenen.

Aus dieser Thematik allein ergeben sich schon Bezüge zur verhassten politischen Realität des etablierten Naziregimes, doch sind im Text selbst durch geschickte Auswahl zahlreiche Anspielungen enthalten, die eine subversive Aussage transportieren. Wenn der Chor von den Söldnern als wildgewordenen Horden berichtet, die in die Häuser stürmen und alles kurz und klein schlagen, dann sind Parallelen zur wüsten Sturmabteilung der Nazipartei nicht mehr nur zufällig. Im Gebet verdreht der einfältige Simplicius das Vaterunser zur "monoton geschrienen" Wahrheit dieser Zeit: " dein Wille geschehe im Himmel, also nicht auf Erden. Gib uns auch Schuld und führ uns in ein Versuchung, erlös uns von dem Reich." In grotesker Verzerrung schließlich wird der Offiziersstand gezeigt, bis er sich bis zur Kenntlichkeit selbst entlarvt.

Im Thema nah an der Gegenwart der Dreißiger Jahre, hält sich der Text über weite Passagen sehr eng an die volksnahe Sprache Grimmelshausens. Zweier Anleihen hat sich Hartmann für das elegische Zwischenspiel am Schluss des ersten Bildes bedient, wenn er - ähnlich wie Alban Berg im Violinkonzert - einen Satz Johann Sebastian Bachs (hier den Choral "Nun ruhen alle Wälder") in die Komposition verwebt. Danach wird eines der bewegendsten Klagelieder der deutschen Lyrik, das Sonett "Thränen des Vaterlandes" von Andreas Gryphius aus dem Jahre 1636 rezitiert.

Diese Szene, die Hartmann erst in seine 2. Fassung (erstmals 1957 in Mannheim realisiert) eingearbeitet hat, wurde in der Stuttgarter Produktion übernommen, die sich ansonsten weitgehend an die Urfassung hält. Gegenüber der späteren ist deren Orchestersatz lediglich für 12 Instrumentalisten geschrieben (5 Bläser, Xylophon, Schlagzeug und ein Streichquartett) und wirkt daher plastischer und drastischer als die symphonisch etwas angedickte und pathetischer wirkende zweite Fassung. Vor allem der Schluss vermag ungemein anzurühren, wenn vom Sprecher des epischen Rahmens die schreckliche Bilanz des Krieges Anno Domini 1648 gezogen wird: "Acht Millionen starben so dahin, zwei Drittel aller Deutschen verdarben", begleitet nur vom Ostinato des Schlagwerks und dem pppp-verklingenden tiefen Gong - welch seherische Kraft im Jahre 1934!

Hartmanns Stil zeigt sich in diesem Werk von vielfältigen Einflüssen geprägt, die von Strawinsky über Prokofjew bis Alban Berg reichen, aber auch Elemente der Volkstradition einbeziehen, wie zwei Lieder aus dem deutschen Bauernkrieg und den jüdischen Trauergesang "Elijahu ha-navi", den er in der Sterbeszene des Einsiedels einsetzt. Mit einer derartigen Behandlung von zur Nazizeit missliebigen musikalischen Quellen, die er fast schützend in den eigenen Kontext integriert, zeigt sich Hartmann, wie im Falle der textlichen Anspielungen auch, als ein enorm produktiver Widerständler mit den Mitteln der Ästhetik und wiederum als ein Bekenntnismusiker im besten Sinn.

Kwamé Ryan realisiert die schwierige Partitur mit den Orchestermusikern präzise und äußerst transparent. Die rhythmische Kraft von Hartmanns Musik dringt buchstäblich durch, ihre expressive Qualität vermag sich bewegend mitzuteilen. So setzt die Musik auf Unmittelbarkeit und dramatische Verve.

Die Szene dagegen setzt eher auf Stilisierung und Distanz. Wie nahe hätte angesichts der nahezu alltäglich gewordenen Kriegsbarbareien aller möglichen Seiten - auch gerade bis in die jüngsten Tage hinein - eine aktualisierende Bebilderung gelegen. Der Versuchung, diese Oper als plakatives Antikriegsstück auf die Bühne zu bringen, ist man in der neuen Stuttgarter Produktion jedoch aus dem Weg gegangen. Christof Nel hat zusammen mit Karl Kneidl (Bühne) und Silke Willrett (Kostüme) eine Form der Darstellung gefunden, die die Zuschauer nicht mit Schreckensszenarien überfällt, sondern ihnen zu denken gibt. Dem Charakter der von Hartmann ausgewählten Tableaus entsprechend werden nicht die zahllosen Kriegsgreuel als Aktionen gezeigt, sondern was diese schrecklichen Ereignisse in den Menschen auslöst, wird zum Gegenstand der Bühnenrealität: der Verlust von Menschlichkeit, wie es im Gedicht von Gryphius heißt, dass auch "der Seelen Schatz so vielen abgezwungen".

Vor dem grauen Bühnenhintergrund agieren die Personen präzise durchchoreografiert und körpersprachlich zumeist ausdrucksstark. Vor allem Claudia Mahnke in der Titelrolle füllt beeindruckend die Rolle des reinen Toren, des verständnislos verstehenden Knaben aus. Gesanglich meistert sie die anspruchsvolle Partie bewundernswert. Anrührend sind zutiefst ihre Gesten der nackten Angst bei der Vertreibung aus dem Paradies ihrer ländlichen Heimat, wenn sie ihre einzige Habe, die Sachpfeife, wie einen Rettungsanker umklammert, dann der hilflosen Einsamkeit nach dem Tode des Einsiedel und im Schlussbild, wenn die Bauern ihr voll Verachtung die Blätter mit den Freiheitsliedern vor die Füße werfen - eine unübersehbare Anspielung auf Hartmanns eigene Position als ungehörter Rufer in der Wüste. Im Libretto heißt es am Schluss "Simplicius geht langsam zu den Toten", doch hier zählt er die Lebenden: ein Schimmer Hoffnung in dunkelster Zeit.

Nicht alle Szenen sind freilich derart suggestiv gelungen. Der epische Bericht des Knaben von seiner Erziehung durch den Einsiedel im 2. Teil bleibt doch recht karg: an der Rampe zwischen Orchestergraben und Zuschauerraum sitzend trägt Simplicius seinen Text sprechend vor, der vom bescheidenen Alltagsleben handelt. Sicherlich ist auch hier wieder die Anspielung auf Hartmanns existentielle Not beabsichtigt, doch entwickelt diese Szene kaum emotionale Kraft. Etwas unbeholfen wirkt auch die Lösung, die Rolle des Sprechers, des epischen Chronisten auf die Orchestermusiker aufzuteilen.

Frank van Aken gestaltet einen eindrucksvollen Einsiedel, dessen Tod, dieser freiwillige Abschied aus einer unaushaltbaren Welt, zum Höhepunkt der Oper wird. Auch er meistert die vielfältigen Ansprüche der Gesangspartie zwischen deklamatorischem Sprechen und ariosem Gesang aufs Beste und füllt auch darstellerisch die Rolle überzeugend aus.

Die in Spiel und Gesang satirisch überspitzten Rollen des Gouverneurs und des Hauptmanns sind bei Heinz Göhrig und Mark Munkittrick in allerbesten Händen. Mit sparsamen aber deutlichen Accessoires hat Silke Willrett sie zu Karikaturen ihres Berufsstands gemacht. Das feucht fröhliche Couplet "Hei, lüderlich sind alle Weiber" stellen sie als Kabinettstück Potenz protzender Kraftmeierei aus. Michael Ebbecke gibt der Landsknechtrolle markant Gestalt.

Wieder in der bewährten Stuttgarter Qualität agiert der Chor stimmlich und gestisch auf höchstem Niveau. Zu Menschenskulpturen geformt stellen die Choristen die Kriegsopfer dar: Menschen zwischen Verfolgung, Folter und Ermordung. Auch ihre stilisierten Gesten wahren die unspektakuläre Distanz, verschaffen der Inszenierung aber eindrücklich ihre humanitäre Botschaft.

Eine stumme Rolle spielt die Grand Dame des Stuttgarter Balletts Márcia Haydée. Als "Dame" ist sie nicht nur - wie im Textbuch - Gespielin des Gouverneurs, sondern vielmehr noch schützender und führender Engel des irrenden Simplicius. Ihre drei Tänze zu Beginn des 3. Teils vor dem Gouverneur (eine Anspielung auf Salomes Schleiertanz) sind hier im Gegensatz zu der wild auffahrenden Musik auf ein trostloses, dazu absichtsvoll ungelenk vollzogenes Laufen im Kreis reduziert, eine szenische Verweigerung von Verfügbarkeit.

Schließlich die Bühne: sie ist als Einheitsraum gebaut, als Andeutung eines Salons mit Treppenaufgang nach rechts und Rundbögen nach der Hinterbühne. Ein geschlossener Raum jedenfalls, in dem sich das ganze fiktive Bühnengeschehen abspielt. Auch dies sicherlich ein deutliches Symbol für Hartmanns persönliche Lage zur Zeit seines Schaffensprozesses: Werk und Aussage sind auf den schützenden Raum der privaten Sphäre verwiesen. Der Ruf des Widerstands, die Stimme der Menschlichkeit wäre durch Öffentlichkeit gefährdet. Aber, "wer verharret bis ans Ende, der wird selig" - so des Einsiedels Appell an den Hoffnungsträger Simplicissimus.


FAZIT

Der überaus lange und herzliche Beifall für alle Beteiligten an der musikalischen Realisation war nur allzu berechtigt. Die wenigen schüchternen Buhs für das Regieteam mögen als Enttäuschung für eine Inszenierung erklärbar sein, die - für Stuttgarter Verhältnisse - streckenweise sehr zurück genommen erschien. Das Werk jedoch hat dadurch vermehrte, verdiente Beachtung gefunden.

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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Kwamé Ryan

Inszenierung
Christof Nel

Bühne
Klaus Kneidl

Kostüme
Silke Willrett

Chorleitung
Johannes Knecht

Dramaturgie
Klaus Zehelein,
Jens Schroth


Chor der Staatsoper Stuttgart

Staatsorchester Stuttgart


Solisten

Simplicius Simplicissimus
Claudia Mahnke

Einsiedel
Frank van Aken

Gouverneur
Heinz Göhrig

Landsknecht
Michael Ebbecke

Hauptmann
Mark Munkittrick

Bauer
Helmut Berger-Tuna

Dame
Márcia Haydée




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Da capo al Fine

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