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Die Schnecke

Sing- und Tanzspiel in zwei Akten von Moritz Eggert
Libretto von Hans Neuenfels

Aufführungsdauer: ca. 2 ½ Stunden (eine Pause)

Uraufführung am Nationaltheater Mannheim: 13. Juni 2004
Besuchte Vorstellung: 12. Juli 2004


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Nationaltheater Mannheim
(Homepage)
Durch die Finger gesehen

Von Edith Klee und Claus Huth


"In die Gummizelle sollte man ihn stecken" ereifert sich die Dame, die an der Garderobe, kaum dass der letzte Ton verklungen ist, wutschnaubend ihren Mantel einfordert. "Unverschämtheit!". Währenddessen beklatscht im gut besetzten Saal des Nationaltheaters Mannheim das begeisterte Publikum die vierte Aufführung eines Werkes, das erst knapp einen Monat zuvor an gleicher Stelle uraufgeführt wurde: "Die Schnecke", ein Sing- und Tanzspiel von Moritz Eggert (Musik) und Hans Neuenfels (Text).

Gummizelle für die Autoren? Davon kann keine Rede sein. Oberflächlich wird eine fast typische Operngeschichte erzählt: Der "gute" Sohn Manfred (Tenor) ist ein vermeintlicher Versager und wird daher von den Eltern (Alt und Bass) verstoßen, während dem "bösen" Edgar (Bariton) als Lohn für seine Leistungen das gesamte Vermögen der Familie überschrieben wird. Dieser verstößt kurz darauf seine Eltern aus dem Haus und steigt zum bewunderten Volksidol auf - doch zuletzt rächen sich die Eltern an ihm und seiner Freundin, gleichzeitig übt auch Manfred an seinen Eltern Rache. Viele Tote. Oper eben.

So einfach kann es natürlich nicht sein. Schließlich gibt es daneben noch einen "Ball liberall", der in der Mitte des Werkes steht und nach dem alles nicht mehr so ist, wie vorher: Männer werden zu Frauen, Frauen nehmen männliche Verhaltensmuster an, die Geschlechterrollen verschwimmen - wie bei den Hermaphroditen, zu denen die Schnecke aus Sicht der Biologen gehört. Zwischen Edgar und der Mutter scheint sich eine ödipale Beziehung anzubahnen. Als zweite Handlungsebene, die sich mehr und mehr mit der ersten verschränkt und vermischt, gibt es die Geschichte um Hermann, einen Hirten, begleitet vom Einzelgänger Herbert, der auf der Suche nach seiner Bestimmung ist. Herrmann hütet fünf schneckenähnliche "Figuranten", das letzte tanzartige Element, dass in dieser Inszenierung von dem angekündigten "Tanzspiel" noch übriggeblieben ist. Und zu allem Überfluss entdeckt Manfred dann auch noch das Wort, das den Leser desselben auf der Stelle tot umfallen lässt.

Hans Neuenfels hat, nach dem Libretto zu Adriana Hölzkys "Giuseppe e Sylvia", bereits zum zweiten Mal ein Textbuch für ein Musiktheaterwerk verfasst. Fast meint man, er sei damit der Aufforderung einiger "Regietheater"-Gegner nachgekommen, diese Regisseure ("in die Gummizelle mit ihnen!") sollten sich doch lieber ihre Texte selbst schreiben. Neuenfels beweist, dass er das durchaus kann, auch wenn die Qualität des Textes, den er für "Die Schnecke" verfasste, nicht beim ersten Durchlesen aufscheint: Alles wirkt zwanghaft gereimt, zwanghaft kindisch, zwanghaft provokant. "Ich mach mich nass! - Ich werde Bass!" heißt es gleich am Anfang, und "anal" reimt sich schon mal auf "fatal". Beherzt greift Neuenfels in die Reimkiste, und nimmt dabei in Kauf, dass die Verse sich dem Nonsens annähern. Doch schnell wird einem klar, dass dies pure Absicht ist: Da singt der Chorsopran "Wir meinen, dass das Reimen uns ekelt wie das Schleimen" und der Alt entgegnet "Wir hören das zum ersten Mal und finden diesen Vorwurf schal!". Der Text nimmt sich selbst nie ernst, ja, er reflektiert immer wieder seine eigene unerträgliche Reimerei und führt immer wieder selbst vor, in was für absurde Abgründe diese bisweilen führt. Und, ja, auch die Libretti der großen italienischen Opern reimen sich oft.

Die Story, die Neuenfels entwickelt, ist aus vielen Vorbildern zusammengemischt, ein wenig Ödipus hier, ein paar Goethezitate da, ein Schuss aus Shakespeare's Hamlet und ein Spritzer Ibsen schadet auch nicht. Aber genau darin, dass er das nie ernst nimmt, sondern höchst virtuos mit den Traditionen jongliert und sie am Ende zu einem überraschenden Ganzen zusammensetzt, liegt die Qualität seines Textes. Gewiss wirkt das alles kindlich, naiv und spielerisch - aber wollen wir nicht alle (zumal in Zeiten des Jugendwahns) das Kind in uns am Leben erhalten?

Was Moritz Eggert musikalisch aus Neuenfels Vorlage macht, kann man sicher als kongenial bezeichnen. Kongenial insofern, als dass die Musik Eggerts die wesentlichen Züge von Neuenfels Text auffasst und auf ihre Art umsetzt: Die doppelbödige Ironie, bei der sich hinter der Fassade immer wieder Abgründe auftun, und die Verspieltheit, durch die Ernst und Komik, Wahrheit und Lüge, echt und falsch immer gleichzeitig vorhanden zu sein scheinen. Damit tut Eggert dem Text in zweierlei Hinsicht einen Gefallen: Er nimmt ihn nicht ernster, als der Text das selber tut, und er versucht dennoch, ihm in jeder Nuance gerecht zu werden. Eggert folgt keineswegs einer bestimmten "Schule", sondern stellt scheinbar disparate Elemente zusammen. Eine Unmenge verschiedenster Musikrichtungen wird im Schmelztiegel des Orchestergrabens zu einem schillernden bunten Mischmasch aufgekocht und tönt dabei höchst unterhaltsam: Da darf die Mutter Maria ihren Namen schon mal wie in Leonard Bernsteins "West Side Story" intonieren, da bolerot es in der Ödipusszene gewaltig, da tritt für ein Liebesduett eine Blockflöte zum Spielzeugklavier, rasseln die Sambarhythmen zum Rap Manfreds, und gleich darauf kommt eine zünftige Blasmusi um die Ecke marschiert, bevor über Lautsprecher "schneckenartige" Schmatz- und Schlabbergeräusche eingespielt werden. Wie beim Text bemerkt man auch hier das Kind im Autor; dennoch wirkt Eggerts Musik nicht beliebig, sondern immer in engem Bezug zum gesprochenen und gesungenen Text. Durchaus sehr kleingliedrig und episodenhaft, und dauernd von einer enorm hohen Informationsdichte, die den Zuhörer nie überfordert, da sie ihn als "Dialogpartner" ernst nimmt. Und manchmal, vor allem in den Chorszenen, bekommt die Musik plötzlich eine so packende Tiefe und Verzweiflung, dass man erstaunt die Ohren spitzt. Man spürt immer wieder das Bekenntnis Eggerts, vokale Artisterei genauso zu mögen wie Fußballer, die Tore schießen: Fast traditionell sind zum Teil die Gesangspartien angelegt, und so den Stimmtypen quasi auf den Leib geschneidert.

Das kommt nicht nur den Sängern entgegen, sondern ermöglicht auch dem Nationaltheater Mannheim, die Mitglieder seines Ensembles im besten Licht zu präsentieren. Dabei gab es bei der besuchten Aufführung eine seltene Schwierigkeit zu meistern: Es passiert öfter, dass eine Sängerin oder ein Sänger wegen Krankheit nicht singen kann, dann wird üblicherweise nach Ersatz gesucht und dieser in die Vorstellung integriert. Was aber macht man, wenn ein Werk gerade erst uraufgeführt wurde und es folglich keinen Ersatz gibt, der die Rolle in seinem Repertoire hat? An jenem Abend war die Darstellerin der Inge, Andrea Szántó, nicht in der Lage die Rolle selbst zu singen - trotzdem fand die Vorstellung statt. Man hatte sich sehr kurzfristig mit der in München engagierten Ann-Katrin Naidu geeinigt und ihr das Notenmaterial gefaxt, das sie dann auf der Fahrt von München nach Mannheim studierte. Abends sang sie dann die Rolle der Inge, während Andrea Szántó spielte, was weitgehend ohne Probleme gelang - Respekt! Aber auch alle anderen Darsteller können sich mit dieser Produktion glücklich schätzen - ob Ceri Williams als schneckenartig frisierte Mutter Maria, ob Tomasz Konieczny als prahlender Vater Arthur, ob Thomas Berau in der schmierigen Partie des bösen Edgar. Herauszuheben Xavier Morenos, der die vielseitig angelegte Partie des Manfred mit ansprechendem Tenor und Mut zum coolen Rap gab. Unter den Schauspielerkollegen stachen vor allem Manfred Trabant als philosophisch-mürrischer Herrmann und Alexander Heidenreich als Herbert heraus - beide mit intensiven Deutungen ihrer Figuren. Mit Verve agierten überhaupt alle Darsteller, gleich ob sie sprechen oder singen oder als schleimige "Figuranten" sich schneckengleich bewegen mussten.

Wolfram Koloseus führte die Hundertschaft in und um den Graben (E-Gitarren und E-Bass in der Proszeniumsloge) und die Damen und Herren auf der Bühne sicher und mit dem rechten Gespür für die sprunghafte Wechselhaftigkeit von Eggerts Musik und die schillernde, in jedem Moment genauestens ausgelotete Orchestrierung durch den Abend - und die Musiker geizten nicht mit Knalleffekten und humorig-deftigem Zugriff. Das dürfte genau im Sinne von Eggert sein.

Allein Hans Neuenfels' Inszenierung klebte so stark an seinem eigenen Text, dass es bei ihm, einem Regisseur, der in den Werken Verdis, Strauß' oder Mozarts auf kongeniale Weise Unsichtbares sichtbar zu machen vermag, wahrlich erstaunen muss. Das Bühnenbild von Christof Hetzer vermochte dabei noch zu überzeugen: Eine angedeutete Stadtkulisse aus riesiger Wellpappe: Die Welt und die Größenverhältnisse aus der Sicht einer Schnecke. Ist es ein Karton oder doch eine Stadt? Neuenfels Personenführung verlor sich häufiger auf der großen Fläche der Bühne, nicht immer gelang es, die verschiedenen Ebenen der Handlung auch optisch zu verschränken. Andere Male, etwa in den Szenen des Chors, den Elina Schnitzler in verschiedenste Berufskleidungen vom Paketfahrer bis zur Sekretärin gekleidet hat, zog Neuenfels große Energie aus fast statuarischer Bewegung. Letztlich wäre dem Ganzen auch szenisch die Verspieltheit zu wünschen gewesen, die das Stück sonst durchaus hat - sicher wären dann auch einige provokante Stellen besser zur Geltung gekommen. Man wünscht dem Stück, dass es bald noch einmal von einem anderen Regisseur gedeutet wird - verdient hätte es das allemal!


FAZIT

"Durch die Schnecke zu gehen, heißt, durch die Finger zu sehen, in eine andere Zeit, jenseits von Schnelle und Langsamkeit" heißt es im Text einmal. "Die Schnecke" führt in der Tat in ganz ungewöhnliche Gebiete - abseits von dem, was man auf der Opernbühne gewohnt ist, und doch merkwürdig vertraut. Das macht das Stück spannend. Möge es schnell nachgespielt werden!


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Wolfram Koloseus

Inszenierung
Hans Neuenfels

Bühne
Christoph Hetzer

Kostüme
Elina Schnizler

Chor
Bernhard Schneider

Mitarbeit Regie
Nelly Danker

Dramaturgie
David Herrmann



Chor und Orchester des
Nationaltheaters Mannheim


Solisten


Vater Arthur
Tomasz Konieczny

Mutter Maria
Ceri Williams

Manfred, ihr Sohn
Xavier Moreno

Edgar, ihr Sohn
Thomas Berau

Helga, Manfreds Freundin
Marina Ivanova

Inge, Edgars Freundin
Andrea Szántó (Spiel),
Ann-Katrin Naidu (Gesang)

Herrmann, ein alter Hirte
Manfred Trabant

Irmgard
Almut Henkel

Florian
Daniel Eberle

Herbert, ein junger Einzelgänger
Alexander Heidenreich

Figuranten
Andreas Jendrusch
Christian Kröhl
Miroslaw Machnik
Arno Raqué
Marcel Schüler

Kinderstimmen (Band)
Anna Henkel
Christian Pajuelo
Lidia Portoles
Luzie Vogt
Max Vogt



Weitere Informationen
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Nationaltheater Mannheim
(Homepage)



Da capo al Fine

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