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Bodenturnen für Country-FansVon Stefan Schmöe / Fotos von Stefan Kühle
Finaler Pas de deux im Irrenhaus: Julia, wahnsinnig geworden, erkennt ihren Romeo nicht mehr, schlägt um sich, bis Romeo sie tötet. Ein aufwühlendes Ende hat Choreograph Ricardo Fernando Prokofjews Ballett verordnet und findet hier starke Bilder zu der bis an die Schmerzgrenze zerrissen schöne Musik. Die Hagener Fassung von Romeo und Julia ist ganz auf diese Schluss-Sequenz ausgerichtet, und hier ist Fernando und dem Hagener Ballett durchaus Beachtliches gelungen. Nur: Wie kommt man bis hier hin? Dazu müsste es eine plausible Vorgeschichte geben. Country oder Disco? Hier tanzen Romeo (Juan Sanchez) und Julia (Wen-Ting Huang) in der Besetzung, die am rezensierten Abend in die Nebenrollen "versetzt" wurde.
An Spitzentanz und Degenfechten ist Fernando nichts gelegen, und einfach die Shakespeare-Prokofjew-Handlung nachzuerzählen war ihm wohl auch zu simpel. Also reduziert er die Handlung auf den Grundkonflikt: (Verbotene) Liebe zweier Menschen, die zerstrittenen Cliquen angehören. Als Symbol für allen Streit in der Welt erfindet er eine Kunstfigur, nur die Frau genannt (entfernt dem Fürsten der Vorlage abgeleitet), eine allegorische Figur, Sinnbild des Krieges und der seelischen Zerstörung. So schön steht's im Programmheft, ist auf der Bühne aber kaum nachzuvollziehen. Maria Eckert tanzt die Frau als gefühlskalte Aufseherin in einem KZ - das jedenfalls suggeriert das Bühnenbild, dessen umlaufende Galerie mit Suchscheinwerfern man als zynische Perversion des berühmten Balkons sehen könnte, würde es in irgendeiner Form auch genutzt. Abstoßungseffekte? Romeo (Juan Sanchez) und Julia (Wen-Ting Huang) Streit und Hass sind bestenfalls zart angedeutet. Romeos Bande trägt Jeans und Lederwesten, als sei's der Club der Country-Freunde, Tybalt & Co. scheinen mit befransten schwarzen Hosen und violetten Leibchen vom Zirkus auf dem Weg in die 70er-Jahre-Disco bei so unterschiedlichem Musikgeschmack mag es zu Streitigkeiten kommen, ernst nehmen muss man das aber wohl nicht. Auf metallenen Höckerchen präsentieren sich Romeo, Mercutio und Benvolio wie drei dressierte Elefanten und heben Bein. Der erste Pas de deux erinnert mehr an Synchronschwimmen als an über alle Konventionen hinwegstürmende entfesselte Liebe. Überhaupt geht es lange Zeit sportlich zu: Da wird gehoben und geturnt mit Hilfestellung, wie man es aus dem Sportunterricht kennt und alles sieht so aus, als müsse nicht der Feind der Familie, sondern die Zeit bis zur Pause totgeschlagen werden. Und auch eher sportlich als virtuos gibt sich das Hagener Ensemble. Der erste Teil hängt gewaltig durch. Hier zur Abwechslung die Besetzung der besprochenen Vorstellung: Romeo (Jozsef Csaba Hajzer) und Julia (Sandra Hajzer-Ockaji)
Fernando stellt die einzelnen Nummern der Partitur recht freizügig um, sodass Prokofjews Aufbau ordentlich durcheinander gewirbelt wird. Das allerdings müsste durch die Choreographie plausibel gemacht werden. Einerseits scheint Fernando der Struktur des Handlungsballetts kräftig zu misstrauen, andererseits will er dann doch Handlung erzählen, und in diesem Dilemma bleibt manche Szene auf der Strecke. Mitunter laufen Musik und tänzerische Charakterisierung auseinander. So ist die Ballszene (ganz an den Anfang gestellt) luftig-leicht getanzt, wo die Musik doch wuchtig-schwer ist. Julias erster Auftritt wird von der strengen Frau getanzt obwohl die Musik von einem unbeschwert hüpfenden Mädchen erzählt. Manches mag man als bewusste Umdeutung hinnehmen, aber es macht sich doch eine gewisse Beliebigkeit breit. Hohes Paar in Unterwäsche: Hier wieder Romeo (Juan Sanchez) und Julia (Wen-Ting Huang) Bleibt der sehr viel stärkere zweite Teil der mit 1 Stunde und 45 Minuten (einschließlich Pause!) recht kurzen Fassung. Hier können sich Sandra Hajzer-Ockaji (Julia) und Jozsef Csaba Hajzer (Romeo) sehr viel besser profilieren. Die neutral weißen Gewänder der Irren und die im harten Gegenlicht effektvoll leuchtende Rückwand der Irrenanstalt lassen die vorangegangenen Unsäglichkeiten der Ausstattung (Petra Mollérus) weitgehend vergessen (Romeos Unterwäsche bietet leider wenig Verbesserung, und folglich greift er bald wieder auf den Western-Look zurück). Zarte Anleihen beim Tanztheater unterbrechen zwar den Fluss der Partitur, machen aber inhaltlich Sinn. Im Irrenhaus gewinnt die Choreographie das Format, das man sich von Beginn an gewünscht hätte. Und das die sehr engagiert spielenden Musiker des Philharmonischen Orchesters Hagen, souverän und mit Sinn für die großen Steigerungen von Reinhard Kießling dirigiert, verdient hätten.
Starkes Finale mit schwachem Vorlauf. Vielleicht sollte man besser erst nach der Pause kommen.
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Produktionsteam
Musikalische Leitung
Choreographie und Inszenierung
Ausstattung
Dramaturgie Solisten* Besetzung der rezensierten AufführungJulia Wen-Ting Huan / * Sandra Hajzer-Ockaji
Romeo
Eine Frau
Tybalt
Mercutio
Benvolio
Julias Freunde
Romeos Freunde
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- Fine -