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Musiktheater
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Die tote Stadt
Oper in drei Bildern
von Erich Wolfgang Korngold
Libretto von Paul Schott


Aufführungsdauer: ca. 2 Std., 45 Min. (eine Pause)

Premiere am 25. Januar 2004

Link zur Deutschen Oper Berlin

Deutsche Oper Berlin
(Homepage)

Von Farbenpracht und Firlefanz

Von Ralf Jochen Ehresmann / Fotos von Bernd Uhlig


Es fehlen nur wenige Tage zur Komplettierung jener 21 Jahre, die seit Februar 1983 und der letzten Neuinszenierung am Opernhaus in Charlottenburg vergangen sind, und doch ist dies zugleich der erste uns bekannte Fall, wo seit der allgemeinen Neuhinwendung zu den Werken der deutschen Spät- und Nachromantik und den damit verbundenen Erstwiederaufführungen bzw. teilweise sogar Uraufführungen eines der solcherart wiedererweckten Werke überhaupt eine Zweitinszenierung am selben Hause erlebt hat. Verglichen mit den Aufführungszahlen der 1910er und 20er-Jahre bleibt freilich für die großen Erfolgstitel von Schreker, Siegfried Wagner oder eben auch Korngolds Tote Stadt ein Absturz von weiterhin kaum verständlichem Niveau.


Vergrößerung in neuem Fenster "Geh nicht von mir -
gib dieser Stunde Traum! [...]
Erloschnes Glück flammt auf
und reißt mich dir entgegen!"

Diese Neuinszenierung liefert jedenfalls eine bittersüße Melange aus harmonieschwangerer Musik mit Hang zur Operettenseligkeit vor abgründiger Kulisse und einer wilden Personal-Mischung wie aus dem absurden Theater. Dabei könnte man die äußere Handlung in sachlicher Darstellung recht knapp zusammenfassen: "Einsamer träumt der Dahingeschiedenen nach und phantasiert sich deren Wiedererscheinung so stark herbei, dass die Tiefe des daraus folgenden Absturzes ihn zur Erkenntnis führt, dass ein Weiterleben nur gelingen kann, wenn er alles Gewesene hinter sich lässt." Damit füllt man aber keine 3 Stunden, und so setzt die Musik als jene Kunst, die dem Augenblick Ewigkeit zu verleihen vermag, genau dort an, wo die inneren Vorgänge eine zeitensprengende Dimension ansteuern: Der innere Traum wird zum eigentlichen Geschehen.


Vergrößerung in neuem Fenster Paul braucht nicht einmal hinzusehen,
um die Wiedererstandene auf die einzige
Brücke herbeizuphantasieren.

Damit müsste ihm aber zugleich ein Rahmen geboten werden, der dem nur phantasieweise Geschehenden Plastizität und Durchschaubarkeit verschafft. Hierbei schafft Korngolds Textgrundlage von Paul Schott, wohinter sich pseudonym Korngolds Vater Julius verbirgt, sicher einige Verwirrung, und das schwer durchschaubare Gewirr von Pauls Verlangen nach Marietta einerseits und seiner Abscheu in Verbindung mit mächtigen Gewissensregungen andererseits konstituiert letztlich eine Gesamtaura, zwischen deren Polen es beständig hin und her geht. Das unbezeichnete Meyerbeer-Intermezzo mit weiteren Nonnen und deren Lustverdrängungsproblemen trägt sein Übriges dazu bei. Die grelle Buntheit illustriert somit den krankhaften Versuch erfolgloser Triebunterdrückung einerseits wie auch gleichzeitig die Gewalt jener Kräfte, die den inneren Abscheu davor konstituieren und anschauungsweise an kirchlichen Symbolen aufgehangen werden. Diese Melange aus Trübsinn und fehlender Kraft für das wirkliche Leben, eben diese Tote Stadt fand historisch im westbelgischen Bruges die charakterstarke Sinnenfälligkeit eines konkreten Ortes, dessen morbidem Charme die europäischen Dichter der ‚décadence' und des ‚fin de siècle' reihenweise erlagen.

Für Korngolds Oper bedarf es dennoch keiner detaillierten Ausführung der Kommune, sowenig wie Wagners Meistersinger darauf angewiesen wären, dass Nürnberger Versicherungstürmchen ein unverzichtbares Ambiente stiften. Der genius loci lässt sich nicht materialisieren, das Flair besticht durch seinen Hauch: Aura zwingt sich nicht herbei durch den Versuch sie zu konkretisieren!


Vergrößerung in neuem Fenster Bei solchem Übermaß an Bespaßung wird
der Rheinländer an sich leicht melancholisch.

Die graue Tristesse einer "Toten Stadt" wird damit zur kontraststarken Projektionsfläche für jene grelle Buntheit, in der die unterdrückten Triebe des Lebens sich Bahn brechen gegen die Morbidität einer "Kirche des Gewesenen". Eines derartig aufdringlichen Aufgebotes an Jongleuren, Stelzgängern und sonstigem Jahrmarktszubehör hätte es aber dennoch nicht bedurft. Denn so sehr der ästhetische Reiz nicht geleugnet werden soll, den Andrea Englers Vertikaltuchakrobatik auch bereitet hat, sowenig passt das Ganze wirklich in die Szenerie, noch dazu in dieser Ausdauer.

Da letztlich beide Halbwelten nur in Pauls Phantasie existieren, die ganze Oper also nur als Introspektive im kranken Hirn eines verschrobenen Eigenbrödlers mit Neigung zur Schizophrenie gelesen werden kann, so ist es nicht falsch, deren VertreterInnen in ähnlicher Erscheinung und oftmals durcheinander gemischt auftreten zu lassen. Die reisende Theatertruppe, die Nonnenprozessionen, die Riesenglocken oder die Kürbisköpfe stehen in progressiver Surrealität für denselben Gesamtzustand während Pauls wirrem Traum, als dessen einziges Fazit er mitnimmt, dass es so nicht weitergeht und er sein Leben ändern muss, wenn er es fortsetzen will.


Vergrößerung in neuem Fenster Mal wieder eine Prozession:
Heiligkeit über dem Abgrund.

Aber schon hier beginnen die Probleme. Dass Frank als Pauls alter ego in identischer Gestalt erscheint und somit nur den anderen Teil seiner selbst extrapoliert, wäre ein guter Ansatz, dessen Berechtigung sich auch dadurch unterstreicht, dass der zentrale Plot der ganzen Oper in der Funktion Mariettas als Wiedergängerin der imaginären Marie besteht. Dann aber kann er schwerlich im Schlussbild unverändert wieder so erscheinen wie zu Beginn bzw. dazwischen, wofür Arlaud aber kein Symbol eingefallen zu sein scheint.


Vergrößerung in neuem Fenster ... und diesmal bei den "eisernen Beichtvätern".

Und wieder zeigt sich hier, was so unfassbar schwer zu sein scheint, da es uns ständig wieder begegnet, dass gute Ansätze nicht ausgebaut, vernünftige Ideen nicht zu Ende gebracht werden. Arlaud lässt nicht nur die fiktiven Gestalten der Traumsequenz verzerrt erscheinen und bezieht das Stammpersonal in den Wahnsinn mit ein. Doch indem er Frank zu Pauls Wiedergänger macht, nimmt er eine Hypothek auf, die er nicht zurückzuzahlen bereit ist. Dass beide als Vertreter unterschiedlicher Lebensformen für dieselbe Frau schwärmen und damit deren (und ihre eigene) Doppelbödigkeit transparent machen, wäre in Ordnung, solange es der Illustration der verschiedenen Teilaspekte dient, die die vielschichtige Liebe eines einzigen Mannes zu einer Frau stets ausmachen, doch wenn daraus bei Pauls Erwachen nichts folgt und Frank immer noch in seiner eigenen Gestalt neben ihm steht, der Doch-Nicht-Konkurrent immer noch sein alter ego ist, dann hat das Leben über den Traum letztlich doch keinen Sieg behalten, dann ist ein guter Gedanke nicht zu Ende gedacht worden.

Vielleicht ist dies Arlauds Prinzip, denn schon sein Bayreuther Tannhäuser lernt eigentlich nichts dazu und ist am Ende "so klug als wie zuvor". Was dort immerhin als eine absichtliche Erlösungsverweigerung durchgehen könnte - wenn man es sehr wohlwollend interpretierte - will hier nun gar nicht passen, es sei denn, dass der Patient noch immer neben sich steht in dem Moment, in dem er der Therapie durch Ortswechsel zugestimmt hat.


Vergrößerung in neuem Fenster Gefangen in den Strukturen der Angst:
"Das ist nicht Brügge heut,
die tote Stadt."

Das "Westberliner Ensemble" präsentierte sich in guter Verfassung, was wohl auch bitter nötig ist angesichts einer Musik, der man ihre Schwere für die Aufführenden kaum abhört. Dass David Pittman-Jennings als Frank in derselben Gesichtsbemalung und überhaupt beinahe austauschbarer Gestalt wie Paul auftreten musste, hat er sich gewiss nicht selber ausgesucht, macht es doch auch den Kontrast deutlich, der zwischen beiden Stimmen v.a. hinsichtlich ihrer Tragfähigkeit besteht. Bezogen auf ihr unterschiedliches Gewicht für das Gesamtwerk darf damit aber beiden gleichermaßen gratuliert werden. Silvana Dussmann hingegen hat als dauerpräsente Marietta und noch dazu als ihre eigene Vorgängerin eine wahrhafte Riesenleistung zu erbringen. Im Volumen stets voll präsent hatte an nur wenigen Stellen der Glanz der Stimme geringe Abstriche zu verzeichnen. Auch die kleineren Partien sind rundweg gut besetzt, und wer über die nötige Phantasie verfügt, mag imaginieren, welch eine Aufführung dies hätte werden mögen, wenn sie vor weniger abstrusem Hintergrund hätte stattfinden dürfen. Nicht unerwähnt bleibe Markus Brück als "Fritz, der Deutsche vom Rhein", der in trefflicher Schmachterei süßesten Belcanto produzieren darf, so wie man an der Donau die rheinische Liedkultur sich wohl gedacht haben mag.

Auch der Chor stellte sich taper seiner Herausforderung durch eine Partitur, für die sich nahezu keine Vorbilder finden. Dabei wurde gelegentlich dessen Charakter als Solistenensemble gedeutet und speziell den Damen durch die Aufstellung nur wenig Homogenität verordnet - oder zugestanden, wie man will.

Das Orchester präsentierte sich sehr blechstark und intonierte überhaupt sehr stark, was leider gelegentlich zulasten der Textverständlichekeit der meisten SolistInnen ging. Hier wäre vielleicht die Einführung deutscher Übertextzeilen auch für deutschsprachige jenseits des mainstream-Repertoires hilfreich, wie sie in z.B. Frankfurt/Main oder Essen üblich geworden ist.


Vergrößerung in neuem Fenster Von den Barrieren freundschaftlichen Rates angesichts
der extrovertierten Gewissensgroteske.

Angesichts der Gesamtanlage stellt Christian Thielemanns Dirigat den eigentlichen Streitpunkt der Interpretation. Einerseits betonte er mit seiner stimmungsvollen, bisweilen fast undifferenziert lauten Darbietung den Charakter einer Filmmusik ohne Film, womit hier die Reihenfolge von Vorlage und Nachahmung nicht verdreht werden soll, über welche Absicht man sich bei Thielemann nicht ganz so sicher sein kann, da man es andererseits auch so hören konnte, als ob er den Eigencharakter der Musik und ihren analytischen Wert gerade dadurch noch in Einzelteile zerlegt, dass er nur äußerste Fassade erklingen ließ: "Achtung, hier klingt's nach Wagner, jetzt gleich nach Strauss!"

Dass Thielemann nicht nur gut Musik machen sondern auch selber reden kann, belegte er auf der Premierenfeier, wo er gleich mehrfach das Wort ergriff. Wer so wie er auch ansonsten häufig im Berliner Feuilleton präsent ist, weiß sicher, was er sagt und lässt ausrutschende Zitate wenig wahrscheinlich erscheinen. Lässt sich auch nicht mehr lückenlos beweisen, wer was gesagt hat, spricht doch wenig dafür, dass im Berliner Besetzungsstreit die "Antisemitismus-Keule" so eifrig geschwungen würde, wenn jene nicht genau wüssten, was sie sagen, die derartige Zitate in Umlauf gebracht haben.

Kein Zweifel besteht jedoch an den Äußerungen aus Politikermund, wenn der Berliner Kultursenator Thomas Flierl auf besagter Nachfeier Anlass zu der Hoffnung gab, dass kein Musiktheater geschlossen werden soll, derweil Kulturstaatsministerin Christina Weiß ebenfalls versprach, alles zu tun, damit in Berlin alle 3 großen Opernhäuser überleben - wenngleich zu Konditionen, über die noch zu reden sein wird.


FAZIT

Trotz wahrscheinlich unbeabsichtigter Nähe zum zeitgleich außerhalb der Opernhäuser tobenden Karneval (mit Ausnahme der Oper Köln) bleibt der Deutschen Oper in Berlin-Charlotttenburg für ihre Produktion eines viel zu selten zu erlebenden Werkes zu danken, dem freilich mehr gedient gewesen wäre, wenn mehr Substanz statt Farbe geliefert worden wäre. Vielleicht kommt entsprechend der ursprünglichen Planung Das Wunder der Heliane demnächst doch noch zur Aufführung, wofür dann ein glücklicheres Händchen zu wünschen wäre.



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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Christian Thielemann

Inszenierung, Bühne, Licht
Philippe Arlaud

Kostüme
Andrea Uhmann

Choreographie
Anne Marie Gros

Choreinstudierung
Ulrich Paetzholdt

Dramaturgie
Regine Palmai


Solisten und Ensemble
des Balletts der
Deutschen Oper Berlin

Orchester der
Deutschen Oper Berlin


Solisten

Paul
Stephen Gould

Marietta
/ Die Erscheinung Maries
Silvana Dussmann

Frank
David Pittman-Jennings

Brigitta
Reinhild Runkel

Juliette
Fionnuala McCarthy

Lucienne
Ulrike Helzel

Gaston
Sebastian Heller

Victorin
Clemens Bieber

Fritz
Markus Brück

Graf Albert
Burkhard Ulrich



Weitere Informationen
erhalten Sie von den
Deutsche Oper Berlin
(Homepage)



Da capo al Fine

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