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Wozzeck
Oper von Alban Berg
Text nach dem Dramenfragment "Woyzeck" von Georg Büchner


in deutscher Sprache

Premiere am Theater Aachen am 17. Januar 2004

Aufführungsdauer: 1 h 30 ' (keine Pause)


Logo: Theater Aachen

Theater Aachen
(Homepage)

Offene Gesellschaft im Wohnklo

Von Stefan Schmöe / Fotos von Frank Heller



Zuerst geht Wozzeck aufs Klo. Während der Hauptmann auf ihn einredet, er solle nicht so gehetzt sein, verrichtet er in aller Seelenruhe, ein Magazin lesend, sein Verdauungsgeschäft. Korrekt gekleidet mit der lässigen Eleganz dessen, der es sich finanziell leisten kann (jedenfalls eher als der leicht schäbig gewandete Hauptmann), ist Wozzeck Herr im Haus respektive Wohncontainer: Eine fensterlose Ein-Raum-Zelle mit Bett, Dusche, Badewanne und WC, allesamt funktionstüchtig und in der Inszenierung auch mehr oder weniger sachgerecht verwendet.

Vergrößerung

Kein Blut, alles Ketchup: Der Doktor demütigt Wozzeck und duscht ihn wieder ab.

Klangbeispiel Klangbeispiel: "Ach, ach, Marie" (Wozzeck - Doktor) (I. Akt 4. Szene)
(MP3-Datei)


Regisseurin Barbara Beyer fällt mit der Tür ins Haus und macht vom ersten Moment an deutlich, wohin es mit diesem Wozzeck geht (und noch deutlicher, worum es nicht geht). Das „Wir-arme-Leut“-Drama des sozial Unterprivilegierten, das Georg Büchner 1836/37 beim Entwurf seines „Woyzeck“-Dramas und 1925 auch Alban Berg bei der Vertonung der Büchnerschen Fragmente vor Augen hatte, blendet sie überdeutlich aus. Erster Leitsatz der Inszenierung ist deshalb: Inszeniere immer genau das Gegenteil dessen, was im Libretto steht und was der Zuschauer erwarten könnte. Deshalb ist Wozzeck nicht nur wohlhabend, sondern auch die dominante Figur, deshalb ist der Tambourmajor ein behäbig-friedlicher Edelrocker, der keiner Fliege etwas zu leide tun könnte und keinerlei Ambitionen zum Geschlechtsakt mit Marie zeigt, deshalb ist Wozzecks und Maries Sohn nicht der friedliche Bub, sondern einer dieser verblödeten Pubertierenden, die unsere Kulturnation bei der Pisa-Studie so unsterblich blamiert haben. Kein Wunder, dass Wozzeck da statt väterlicher Gefühle den Colt zeigt und den Knaben kurzerhand abballert (was diesen allerdings nur für ein paar Minuten paralysiert).

Vergrößerung Kein Frauenheld, nur ein netter Rocker: Der Tambourmajor will nicht, was Marie (links) und Margret von ihm wollen.

Klangbeispiel Klangbeispiel: "Geh' einmal vor dich hin" (Marie - Tambourmajor) (I. Akt 5. Szene)
(MP3-Datei)


Der zweite Leitsatz könnte lauten: In dieser Gesellschaft ist alles öffentlich. In Big-Brother-Manier dürfen wir Zuschauer alles sehen, vom Toilettengang bis zur heißen Dusche, und auch untereinander haben die Personen des Stückes keine Rückzugsgelegenheit – und keinerlei Geheimnis. Und weil hier alles offen liegt, ist auch alles Oberfläche, das Leben eine fortwährende Show für die anderen, deren Hauptdarsteller in diesem Fall Wozzeck heißt. Große Gefühle wie Liebe oder Eifersucht gibt es da nicht, und deshalb ist es gleichermaßen komisch wie trostlos. Der Mord an Marie ist wie eine Notbremse, die das Immergleiche beendet. Danach versteckt sich Wozzeck unter der Bettdecke: Das Nicht-mehr-gesehen-werden als Verweigerung des veröffentlichten Lebens. Im Schlussbild mit dem vom Tod seiner Mutter scheinbar unberührten Jungen, der dumpf in eine perspektivenlose Zukunft stiert, gewinnt die Inszenierung etwas von der Betroffenheit zurück, die sie in ihrer kühl-distanzierten, fast zynischen Erzählstruktur vorher verweigert hat.

Barbara Beyer bewegt sich am Rande des Zumutbaren, aber sie bewahrt ihre Geschichte vor dem Absturz, indem sie das inzwischen beinahe Normale zeigt. Irgendwie kennt man diese Figuren, deren Exzesse eben so weit gehen, dass man sie als Teil eines Unterhaltungsprogramms noch hinnimmt. Das Drama stutzt sie auf die Charakterisierung einer Gesellschaft in Schieflage zurück, und sucht (und findet) ein Pendant zur Emotionslosigkeit der Büchnerschen Gesellschaft in der Gegenwart. Der Preis dafür ist allerdings hoch: Mit dem Text, dessen unmittelbaren Bedeutungsgehalts sich die Regie entledigt, geht eines der schönsten Stücke der deutschen Literatur- und Operngeschichte verloren. Und der Romantiker Berg, der in der Mordszene den Mond musikalisch so unvergleichlich scheinen lässt, wird vollständig dem kühl-dissonanten Expressionisten Berg geopfert: Darin liegt bei aller Modernität auch eine Verkürzung.

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Kein arm' Weib, sondern erschöpft vom Shopping: Maries Existenzprobleme sind nicht finanzieller Natur.

Klangbeispiel Klangbeispiel: "Was du für süße Lippen hast, Marie" (Wozzeck - Marie) ( 3. Akt 3.Szene)
(MP3-Datei)


Trotzdem ist Barbara Beyers Regie überzeugend, nicht nur weil sie einen schnell in den Bann zieht, sondern auch wegen des klugen Umgangs mit dem Aachener Ensemble. Ein Theater dieser Größe, noch dazu unter permanenten Existenzängsten, geht mit einem Wozzeck naturgemäß an die Grenzen seiner Möglichkeiten, auch und gerade, was die Sänger betrifft. Mit einer geschickten und scharfen Charakterisierung der Figuren inszeniert Barbara Beyer das, was die Darsteller auch singen können, und erreicht damit ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit. Was nicht heißen soll, dass die Gesangsleistungen nicht mehr als achtbar wären: Allen voran Johannes M. Kösters als durchweg souveräner Wozzeck, aber auch Lisa Graf als Marie, Louis Gentile als Tambourmajor, Claudius Muth als Doktor und Andreas Joost als Hauptmann bieten überzeugende Rollenportraits, ebenso wie die Darsteller der kleineren Rollen. Allein Francoise Soons als Andres geht im Klang des (im übrigen sehr diszipliniert spielenden) Orchesters unter. Weniger mit den Tonhöhen an sich als mit der Stimmführung überfordert ist dagegen der arg inhomogene Chor und Extrachor. Dirigent Marcus R. Bosch leitetet die Aufführung umsichtig und nach Möglichkeiten sängerfreundlich. Scharfe Akzente setzt er in den symphonischen Abschnitten (es mag auch an meinem Sitzplatz gelegen haben, dass das Blech die Holzbläser allzu sehr dominierte).

Vergrößerung

Kein Ertrinken, besser untertauchen: Wozzeck tritt den geordneten Rückzug unter die Bettdecke an.

Trotz aller Lust auch an der Provokation wurde die Premiere vom Aachener Publikum freundlich bis begeistert aufgenommen: Auch ein Zeichen dafür, dass der Wozzeck in dieser Inszenierung trotz aller Einwände ein Stück Lebensgefühl vermitteln kann - bei gleichzeitiger Betroffenheit darüber. Viel Besseres kann einem Theater eigentlich nicht passieren.


FAZIT
Ein Regiekonzept ncht ohne Widersprüche und in vielen Dingen anfechtbar, aber auch eine spannende und sehr heutige Auseinandersetzung mit dem Wozzeck.


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(Veröffentlichung vorbehalten)

Produktionsteam

Musikalische Leitung
* Marcus R. Bosch /
Jeremy Hulin

Inszenierung
Barbara Beyer

Ko-Regie, Bühne, Licht
Lothar Baumgarten

Kostüme
Barbara Aigner

Choreinstudierung
Bernhard Moncado

Dramaturgie
Sophie Becker



sinfonieorchester Aachen

Opern- und Extrachor
des theater Aachen

Knaben des Aachener Domchores
Statisterie des theater Aachen



Solisten

* Besetzung der Premiere

Wozzeck
Johannes M. Kösters

Tambourmajor
Michael Ende /
* Louis Gentile

Andres
Francoise Soons

Hauptmann
Andreas Joost

Doktor
Claudius Muth

1. Handwerksbursch
Jaroslaw Sielicki

2. Handwerksbursch
Hans Lydman

Narr
Hans Schaapkens

Marie
Sibylle Fischer /
* Lisa Graf

Margret
Judith Berning

Maries Knabe
Alexander Jänicke /
* Mark Wallendahl

Kinder
Jacob Pinkus /
Esra Rosenkranz /
Johannes Wüllner /
Max Zachner


Weitere Informationen
erhalten Sie vom
Theater Aachen (Homepage)




Da capo al Fine

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