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Musiktheater
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Der Ring des Nibelungen

Ein Bühnenfestspiel für drei Tage
und einen Vorabend
von Richard Wagner


Das Rheingold
29. Dezember 2002

Die Walküre
2. Januar 2003

Siegfried
5. Januar 2003

Götterdämmerung
12. Januar 2003

Homepage Staatstheater Stuttgart

(Homepage)


Mythos und Moderne
Der vielschichtige Stuttgarter "Ring"


Von Christoph Wurzel


Er ist bereits Legende - der Stuttgarter Ring, konzeptionell, theatralisch und musikalisch. Als im März 1999 der erste Teil der Tetralogie Das Rheingold Premiere hatte, war das Staunen groß über das Konzept der Stuttgarter Opernintendanz, den Ring von vier verschiedenen Regisseuren in Szene setzen zu lassen. Intendant Klaus Zehelein begründete diese Idee mit dem Abschied von allen Ansprüchen, die Welt in ihrer Totalität einer einzigen Erklärung zu unterwerfen, mit dem Abschied von utopischen Weltentwürfen zumal, die mit dem zu Ende gegangenen 20. Jahrhundert obsolet geworden seien. Überdies weist die Entstehungsgeschichte Phasen des Stillstands auf, auch Brüche - kein Werk also aus einem Guss. Da scheint es nicht sinnlos, die Stücke als Einzelne zu zerlegen, zu betrachten, um dann - vielleicht - umso deutlicher erkennen zu können, was den Ring im Innersten zusammenhält.

Binnen eines Jahres setzte die Staatsoper die Verwirklichung des ehrgeizigen Unternehmens um und mit jeder neuen Premiere wuchs das Staunen über die künstlerische Kraft der Bühnenrealisierungen durch die vier Regisseure. Mit dem Attribut "Winterbayreuth" , das schon einmal in den 60er Jahren berechtigt war (Wieland Wagner, Windgassen etc), wurde die Württembergische Staatsoper erneut bedacht, zumal die Gralshüter auf dem Grünen Hügel ihrerseits wenig Überzeugendes anzubieten hatten.

Schließlich wurde offensichtlich, welch musikalische Potenzen die Stuttgarter Oper aufzubringen fähig ist. Sängerisch allemal, denn einen nicht unbeträchtlichen Anteil am Erfolg des Rings hatten damals jedenfalls zum Teil noch recht unbekannte junge Künstlerinnen und Künstler, die u.a. auch dadurch zum Karrieresprung ansetzten, weil sie sich im Ring profilieren konnten. Sie haben übrigens fast alle Stuttgart die Treue gehalten und waren auch bei der nunmehr inzwischen achten zyklischen (und vielfachen Einzel-) Aufführung dabei. Nicht zuletzt bewiesen das Staatsorchester (im Jahre 2002 "Orchester des Jahres"), sein Leiter Lothar Zagrosek (auch er "Dirigent des Jahres" 1999) und nicht zu vergessen der Opernchor (ebenso mit Preisen bedacht) ihren außergewöhnlichen Standard. Alles in allem also eine Gemeinschaftsleistung, deren Qualität gerade aus der Vielfalt Flügel zu wachsen scheinen.

Nunmehr sind also seit den Premieren zwischen vier und drei Jahren vergangen und die Konzeption konnte erneut geprüft werden. Wie bei einem guten Wein zeigte sich, dass zum Edelsten reifen kann, was dazu angelegt ist. Diese Aufführungen gerieten zum Hochgenuss. Das Etikett "Jahrhundert - Ring" ist verbraucht; dennoch bestätigt sich der Eindruck, dass dieser Stuttgarter Ring zu den grandiosen Interpretationen in der wechselvollen Rezeption dieses gigantischen Bühnenwerks wird gezählt werden müssen. Anders auch als Walhall wird er Bestand haben, und zwar konserviert durch die elektronischen Medien. Aufgezeichnet wird er demnächst als TV-Produktion, bzw. als DVD auch einem größeren Publikum zugänglich sein. Ein Unternehmen, das uneingeschränkt mit großer Spannung erwartet werden darf.

Es beginnt tastend mit dem Rheingold als der Exposition aller Konflikte. Hier wird die böse Tat Ereignis, deren Fluch sich fortzeugt bis zum erbitterten Mord- und Totschlagsdrama der Götterdämmerung. Eine psychologisch packende Walküre zeigt Szenen aus nicht nur einer Ehe. Banalität und Größe von Familienbeziehungen werden hier seziert. Im Siegfried schließlich wird eine diabolische Märchengeschichte mit schillernd schwarzem Humor furios erzählt. Kein einheitliches Deutungsmuster liegt diesem Ring mehr zugrunde und vergewaltigt Wagners großen Entwurf. Sondern an jedem der Abende richtet sich der theatralische Focus auf einen anderen bedeutungsvollen Aspekt. Erkenntnisgewinn aus dem Theatersessel heraus: "Alles ist nach seiner Art."

Im Rheingold, am Anfang, ist alles Personal der Oper schon da. Zum fließend wogenden Urmotiv stehen Götter, Riesen, Zwerge, Rheintöchter noch wie leb- und beziehungslos auf den Bühne. Wie Puppen eines Spiels müssen sie erst noch von unsichtbarer Hand geordnet werden - "Weißt du, wie das wird?" - bis langsam Bewegung in sie kommt und sich die verhängnisvolle Handlung entwickelt, als Kampf um Macht und Besitz und Liebe. Figuren sind sie in einem Spiel, das nach ihnen offenbar unbekannten Regeln unweigerlich in heillose Verstrickungen führt. Ein starkes Bild für einen Anfang hat Regisseur Joachim Schlömer da entworfen. Das Bühnenbild von Jens Kilian stellt das Foyer eines Hallenbades im Jugendstil vor, gekachelte Wände und in der Mitte ein großes Wasserbecken - ein durchaus beziehungsreicher Entwurf von schlagender Schlüssigkeit. Diese Bühne wandelt sich im weiteren Verlauf nicht.

Zum beherrschenden Moment dieser Inszenierung wird der Kampf . Nicht ohne Schinden und Quälen geht das ab. Am meisten hat Alberich zu leiden, dem schon von den Rheintöchtern übel mitgespielt wird, die ihn bis aufs Blut reizen. Rittlings auf ihm sitzend misshandeln sie ihn. Der Angreifer wird zum Angegriffenen. Als Surrogat für nicht erreichte Liebe erkämpft er sich das Gold, wütend watet er im Wasser und rauft seine Beute zusammen. Phänomenal gestaltet Esa Ruuttunen mit enormen Körpereinsatz seine Rolle, auch sängerisch glänzend und erschreckend überzeugend. Nach seiner Gefangennahme wird er von Wotan über den Bühnenboden geschleift, bis er sich geschlagen gibt und buchstäblich am eigenen Kragen an den Nagel an der Wand gehängt wird. Ein betrogener Betrüger. Durch Mark und Bein dringt sein Fluch, wenngleich er auch Wotan damit nicht erreicht. Am Ende, nach dem Abgang der Götter in ihre Burg, schleicht er wieder herum. Ein böses Omen für das, was noch folgt.

Schlömer hat die Handlung pointiert entwickelt, die Figuren haben gestochen scharfes Profil und alle Sängerdarsteller folgen mit gestischer Beredsamkeit. Wotan, ein schwacher Herrscher, scheint sich seiner Machtlosigkeit schon bewusst. Er ist Spielball der Interessen Anderer. Über die Prokura der Macht verfügt in Wahrheit Fricka (beeindruckend stark Michaela Schuster als herrisch-kalte Sekretärin), die mittels ihrer Aktenmappe bis auf gleiche Augenhöhe mit dem Chef emporsteigt. Die Riesen sind gezeichnet als mittelständisches Unternehmerkartell - aber der durchtriebenen Art, ungehobelt und frech. Wenig vom ehrbaren Kaufmann ist zumindest an Fafner. Karl Kneidls markanter Kostümentwurf siedelt ihn in der Unterwelt an. Mit diesen Leuten ist nicht gut Verträge schließen, vor allem, wenn man wie Wotan, keine Gegenleistung erbringen kann. So spinnt sich die Geschichte fort, gegründet auf Intrigen, Betrug und Gewalt.
Loge, der cool seine Äpfel verzehrt - wo hat er sie her, wenn sie den anderen bereits fehlen? - kann dort angreifen, wo Treu und Glauben nichts mehr ausrichten. Erfolglos versucht Wotan zu retten, was nicht mehr zu retten ist ("Seid ihr bei Sinnen? Was nicht ich besitze, soll ich euch Schamlosen schenken?"). Es ist klar: Diese Firma kann sich nur noch mit krummen Geschäften über Wasser halten. Realistisch deckt Loge das auf und zynisch fädelt er die feindliche Übernahme Alberichs ein.
Die Hackordnung in Nibelheim bestimmt nun Mime zum Opfer. Berauscht von seiner Macht hat sich Alberich das Hämmern der Ambosse in eine Schallplatte ritzen lassen, gleichsam als wiederholbaren Kick. Dumm vor Eitelkeit tappt er in die Falle und geht den Göttern ins Netz. Dies ist der einzige wenig überzeugende Entwurf in dieser Oper. Witz und Spannung der Verwandlungsszene verpuffen in nichtssagender Aktion.

Kurz weidet sich Wotan am Besitz der Macht des Rings, den er nicht mehr missen will, bis mit Urgewalt Erda auftritt, eine Gestalt aus einer anderen Welt. Eine überaus starke Szene: alle Elemente geraten in Bewegung, eine Fontäne schießt empor, Feuer blitzt auf und der Wind fegt durch den Saal. Das Unerhörte überträgt sich auf alle. Diese Stimme lässt sich nicht überhören, geheimnisvoll stark ist Mette Ejsing in dieser Rolle, sie zwingt zum Respekt.

Der Schluss: Selbsttäuschung der Götter. Sie glauben sich am Ziel, aber das Ende, vor allem ihrer Moral, ist schon gekommen. Fast kindisch, wie Wotan durch die milchigen Scheiben sein Walhall zu erspähen sucht. Die Götter ergreifen Besitz nur von einer Chimäre. Hier trumpft das Orchester nicht auf, mit viel Schärfe im Blech schließt dieses Vorspiel zum Endspiel. Eine skeptische Sicht, kein Raum bleibt für Idealismus oder Utopie. Den letzten Eindruck hinterlassen Loge, der zynische Realist und Alberich, der Walter des Bösen. Weißt du, wie das wird? Es lässt sich erahnen...

Das Vorspiel zur Walküre ist schon ein Drama für sich. In dramatischer Intensität treibt das Orchester den ausladenden Spannungsbogen durch Gewitter und Sturm voran. Die Motive werden von Dirigent Zagrosek mit höchster Deutlichkeit ausgeformt. Fast atemlos geworden ebbt die Spannung wieder ab und wenn sich der Vorhang hebt, folgt ein Moment großer Überraschung: Zwei Figuren befinden sich wie eingefroren auf der Bühne, ein Mann in erstarrter Laufstellung und, mit dem Rücken zu ihm auf dem Tisch sitzend, eine Frau, grübelnd und lauernd zugleich. Ihren ersten Satz "Ein fremder Mann? Ihn muss ich fragen" übersetzt die schicksalhafte Bedeutung dieser Szene mittels der Körpersprache zu "Dieser Fremde ist der Erwartete und Befreier zugleich". Angela Denoke ist schon von der ersten Bewegung an unübertrefflich im Ausdruck ihrer quälenden Fremdheit, ihrer eingekapselten Leidenschaftlichkeit, ihrer Gefangenschaft im Hause Hunding. Wie eine Katze ihrer Beute so nähert sie sich dem Fremden, der, noch erschöpft, viel weniger weiß als diese sehnsuchtsvoll spürbewusste Frau.

Als Hunding erscheint, gefriert die Atmosphäre wieder zu Eis. Grob, misstrauisch und verschlagen bietet er dem Fremden das Gastrecht. Doch dass hier Gefahren lauern, ist unübersehbar. Nur widerwillig beugt sich Sieglinde den plumpen Zudringlichkeiten ihres Mannes, bis sie doch während Siegmunds Erzählung beim Wort "Zwillingsschwester" aufspringt und sich aus seinen Banden befreit. All dies ist minutiös ausgespielt und szenisch genau auf den Punkt gebracht. Dass Regisseur Christof Nel an wenigen Stellen zu diesem deutlichen Spiel in allzu plakativer Weise freudianischen Symbolismus bemüht, kann man verzeihen. Die Vorahnung des Schwertes müsste nicht als phallisches Symbol auf Sieglindes Leib als Projektion erscheinen; und nachdem sie ihm Wasser gereicht und Siegmund die Frau nach ihrem Namen gefragt hat ("Wer ist es, der so mir es labt?"), vergräbt Siegmund seinen Kopf in Sieglindes Schoß. Dennoch: Mit großem dramatischen Impetus entwickelt sich diese Szene hin bis zur Wiedererkennung der Geschwister und zur Erkenntnis ihrer Leidenschaft für einander.

Nicht zuletzt sind die Darsteller auch großartige Sänger. Angela Denoke singt mit enormem dramatischen Ausdruck, zugleich schön und technisch makellos. Robert Gambill ist vor allem in den lyrischen Passagen überaus stark, doch auch der Wechsel zum Hochdramatischen gelingt überzeugend. Am Schluss fegt der Lenz alle Erstarrung und Eiseskälte aus der miefig-brutalen Kleinbürgerlichkeit, alle Türen und Fenster springen auf und die frische Luft ungezügelter Leidenschaft bricht sich Bahn. Wie sich dieser Akt entwickelt, in seinem Bildern, in der Choreografie der Figuren und was spannungsgeladen aus dem Orchester kommt: das ist wahrhaft packendes Musikdrama, ein großer theatralischer Wurf.

In eine andere Ehe - und eigentlich auch eine Dreiecksgeschichte - gewinnen wir Einblick im 2. Akt. Eine wahre Szene macht Fricka da Wotan. Sie, ganz Dame von Welt mit großer Geste und in eleganter Robe (Tichina Vaugn in markanten Kostümen von Karl Kneidl mit mächtigem Mezzo) und er, ein etwas verschlampter Pantoffelkönig in ausgebeulter Trainingshose und Schlabberpullover. Eine Ehe wird da geführt, die nur noch von gegenseitiger Langeweile und Verachtung geprägt ist, beide scheinen sich innig zu hassen. Und der göttliche Fremdgänger wird sogar kräftig abgewatscht. Von der Erhabenheit zur Lächerlichkeit ist es eben nur ein kleiner Schritt. Nur Brünnhilde, die Lieblingstochter, regt in Wotan so etwas wie Vitalität. Nur ihr kann er sich öffnen und der Dialog wird zur erschütternden Lebensbeichte. Jan Hendrik Rootering kann für eine solche Anlage der Rolle in Statur und Stimme aus dem Vollen schöpfen. Mit schönem Organ und großer Textdeutlichkeit macht er den gescheiterten Mann glaubhaft. Als Ausdruck eines trotzig gekränkten Narzissmus erscheint sein Aufbäumen gegen Brünnhildes Eigenwilligkeit (als selbstbewusst forsche Backfisch-Göre Renate Behle, leider stimmlich indisponiert).

Berührend im Detail, wie Siegmund seine Geliebte, die von der Flucht erschöpft zusammengesunken ist, auf ein Kissen bettet, das er aus der Tasche zieht. Wirklich, Siegmund ist die uneigennützigste Figur in dieser ganzen schrecklichen Geschichte. Mit der Aura antiker Größe erscheint Brünnhilde ihm dann als Engel seines Schicksals in der Todesverkündigung. Als Alptraum Sieglindes wird im pantomimischen Puppenspiel Siegmunds Tod als abgekartetes Spiel gespiegelt. Seinen Sohn, Figur im Spiel um die Macht, hat Wotan nunmehr Fricka geopfert.

Der Walkürenfelsen ist an diesem Abend als Produktionshalle in Wotans Firma lokalisiert, in der die toten Helden am Fließband hereingerollt werden, jeder einzelne eifrig und munter von den Walküren registriert. Alle Achtung vor diesen acht Darstellerinnen: große Stimmkraft entfaltet sich da über der furiosen Orchestermusik. Dieser Walkürenritt ist nicht von Pappe, starke Frauen hat Wotan hier um sich. Doch selbst ist er schon ziemlich entfernt vom Geschehen, nur noch per Videoüberwachung hat er Kontakt zu den Walküren, vor allem zur Wunschmaid Brünnhilde.
Beim Abschied traurig einsam und hilflos entfremdet, sieht er die Tochter nur mehr im Monitor in den Schlaf hinübergleiten. Und aus dem wissenden Orchester treten noch einmal in größter Deutlichkeit all die grüblerischen Gedanken musikalisch hervor, die in solchen Situationen stumm sich im Kopf eingraben und wie Dämonen nicht mehr entweichen wollen.

Von gewaltiger Bildmächtigkeit ist in dem von Jossi Wieler und Sergio Morabito inszenierten Siegfried zuerst einmal die Bühnenarchitektur. Ausstatterin Anna Viebrock hat vier Räume von großer Stimmungsintensität und Aussagekraft erfunden. Im ersten Akt ist es eine kalte, halb zerfallene Industriehalle, notdürftig mit Sperrmüllmobiliar ausgestattet ist darin eine Küche untergebracht. Der alte Kamin lässt eine ehemalige Schmiede erahnen, zu der diese Küche wieder werden wird. Der zweite Akt spielt in einer nebligen Gegend im Niemandsland zwischen dem Wald und der Welt, ein ramponierter Drahtzaun täuscht mehr die Gefährlichkeit dessen vor, was sich dahinter verbirgt, als dass man sie wirklich glauben könnte. Nur ein großes Schild warnt vor "Lebensgefahr".

Zwei Frauenkammern im dritten Akt: Erdas Refugium ist eine heruntergekommene Säuglingsstation, die seit dem letzten Krieg (für den sie vielleicht Krieger gebahr?) nicht mehr renoviert wurde. Die Kinderkrippen stehen noch dort. Derartige Räume sind die Spezialität der Bühnenbildnerin Anna Viebrock: fleckige Tapeten, rostige Wasserleitungen, vergilbte, schadhafte Kacheln, schief hängende Leuchtkörper und ein Mobiliar, das die Tristesse der fünfziger Jahre verströmt. In kontrastreicher Entsprechung das Boudoir der Brünnhilde: todchic und kalt, Schleiflackmöbel und Französisches Bett sind farblich elegant abgestimmt. Schöner Wohnen auf der Felsenhöhe, das auch eine Art von Unnahbarkeit hat.

In dieses Ambiente dringt Siegfried wie ein Elefant in den Porzellanladen. In zart fließende Seide gehüllt dämmert Brünnhilde ihrem Helden entgegen. Der wiederum poltert herein, blutbefleckt als Drachentöter ausgewiesen. Dieser Kontrast hat etwas Irritierendes und irreal Komisches, genau das, was auch in Siegfried vorgeht. Unsicher stolpert er umher, späht aus, wo er ist, entdeckt die Gestalt und erblickt zum ersten Mal in seinem Leben - eine Frau. Erstaunen schlägt um in Erschrecken: er versteckt sich hinter dem Bett, im Schrank: Der Recke hat nun das Fürchten gelernt.
Brünnhilde erwacht aus langem Schlaf, räkelt sich, tappt neben sich wie nach dem imaginären Partner, richtet sich auf: "Heil dir Sonne! Heil dir Licht!" Ein großer Theatermoment hat seinen Höhepunkt erreicht. Wie das ausgespielt ist, lässt die Sensation erspüren, die in dieser Wendung der Handlung liegt. Und jede Bewegung sitzt.
Und es sitzt jede Note - besonders bei Lisa Gasteen, der Brünnhilde der nunmehr entflammten Leidenschaft. Auch dies macht Siegfried Angst. Doch schnell reift er zum Mann, das Liebeswerben beginnt. Schon hat Brünnhilde das zweite Kopfkissen parat. Akt und Oper schließen im näckischen Treiben zweier Verliebter. So endet dieser Siegfried mit einer gehörigen Portion Situationskomik, mit der er auch begonnen hatte.

Stellen Sie sich einfach nur vor, wie es sein könnte: Ein allein erziehender Vater, spießig, klein von Statur, cholerisch, frustriert, ziemlich unsicher, mit allem überfordert, vor allem mit der Erziehung des Sohnes , eines wahren Monsters an Kraft, dessen Hormone überschießen, der weder Anstand noch Benehmen kennt, über Tisch und Bänke turnt und der dem Vater bei jeder Gelegenheit versichert, wie sehr er ihn hasst. Da lässt sich erahnen, was in dieser Küche abgeht zwischen Mime und Siegfried. Der tägliche Horror dieser verhängnisvollen Symbiose entbehrt auch nicht unfreiwilliger Komik - allerdings vor allem für die Zuschauer, denn Mime zieht eher das Mitleid auf sich. Mit enormem Körpereinsatz, bis an die Grenzen gehend, muss Heinz Göhrig agieren. Auch stimmlich gibt er der Mime-Partie ein Gewicht, das endlich diese Rolle aus der Veralberungsecke herausholt. Dies ist wohl eines der größten Verdienste dieser Inszenierung. Die Figur wird ernst genommen in ihrer kleinkarierten Beschränkung und mittelmäßigen Tragik. Der Zwerg will hoch hinaus mit seinen Plänen. Jeder sieht, dass er scheitern muss: schon an der Erziehung seines Zöglings selbst scheitert er, mehr noch an den Früchten, die er daraus ernten will. Das ist das Drehbuch seines Lebens.

Und auch die Wissenswette bekommt eine zwingende Logik. Wotan spielt mit dem armen Mann Russisch Roulette und dieser kämpft um seinen Kopf, den er unweigerlich verlieren wird, weil er die entscheidende Antwort nicht weiß, nicht wissen kann. So viel Gemeinheit versammelt Wolfgang Schöne als der Wanderer in Spiel und Stimme, dass es das Publikum grausen muss. Da kann sich Mime nur noch mit Masturbation trösten. Das alles ist pures Drama, schlüssig erzählt und faszinierend umgesetzt.

Auch Jon Frederic West bleibt nicht nur darstellerisch nichts schuldig, er ist auch ein Siegfried von imposanter Stimmgewalt. Schmelz- und Schmiedelied schmettert er schwärmend heraus, mit solcher Kraft, dass des Ziehvaters Meisterbrief (Goldschmied hat er einst gelernt!) von der Wand kracht und auch noch die letzten heilen Scheiben klirren.

Düster der Beginn des 2. Akts. Vor dem Maschendrahtzaun zieht Alberich gehetzt seine Runden um Fafners Versteck. Äußerst präzise ist Björn Waag in dieser Rolle als fahrig-süchtiger Kettenraucher, abgerissen und barfuß. Die Szene hat etwas von absurder Komik. Dann taucht der Wanderer auf, um den Drachen zu wecken. Gerissen setzt der Gangsterboss das Gezerre um das Gold in Gang. Aus dem Lautsprecher tönt eine träge Stimme: "Ich lieg und besitz".
Vorgeschickt von Mime, damit er das Fürchten lerne, reizt Siegfried den faulen Fafner, der sich nun aus dem dunklen Nichts abhebt, auf einem Stuhl sitzend mit dem Rücken zum Publikum. Wie Brünnhilde wartet er anscheinend nur auf diesen einen Gast: In spiegelverkehrter Schrift steht auf seinem Hemd, was auch Siegfried auf der Brust geschrieben ist: der Name des Bezwingers, Sieg Fried - in zwei Worten, die nicht zusammengehören wollen. Und während des Kampfes Brust an Brust gedrängt, saugt sich Siegfrieds Hemd mit dem Drachenblut voll. Die dumpfe Atmosphäre dieser Szene geht über in die Naturschilderung des Waldwebens, eine Weile bekommt wieder ganz das Orchester sein Recht. Wunderlich fein und geheimnisvoll flirren die Streicher, leicht tönen die Bläser, das Orchester singt auf anmutigste Art und begleitet Siegfrieds Innenschau. Nicht geizt Jon Frederic West hier mit seinen Qualitäten auch als lyrischer Sänger. Und als Waldvogel gesellt sich ihm Gabriela Herrera als eine grazile Begleitein zu, mit makellos reinem, hellem Timbre lockt sie ihn fort vom unwirtlichen Ort.

Aus gegenwärtiger Realität unmittelbar auf die Theaterbühne gleitet der Beginn der Götterdämmerung in der Inszenierung von Peter Konwitschny über. Die Nornen, drei wohnsitzlose Frauen, wissend und klug offenbar aus reicher, wechselvoller Lebenserfahrung, kauern schon am Bühnenrand, wenn das Publikum den Saal betritt. Der Anfang der Szene findet bei Saallicht statt. Das Theater decouvriert sich als das, was es ist: ein Spiel aus lebenden Bildern und Situationen.
Das bleibt als Inszenierungsprinzip die ganze Oper über sichtbar. Bert Neumann hat Wagners Liebe für die Bretterbühne, für Puppen- oder Jahrmarktstheater sinnfällig in seinem Bühnenbildentwurf aufgenommen und für die große Geschichte von Siegfrieds Zug in die Welt einfache, aber eindrucksvolle Szenarien gebaut. Mittelpunkt ist ein großer, raumhoher Kasten, der mal zur offenen Halle, mal zum geschlossenen Raum verändert werden kann, alles geschieht auf offener Bühne, so bleibt der Fluss des Geschehens erhalten. Bei Siegfrieds Rheinfahrt oder dem Trauermarsch wird dieser Kunstraum mittels der Drehbühne mit enormer Wirkung in Rotation versetzt und die Protagonisten bewegen sich entweder darauf zu oder stehen starr im Vordergrund, während die Zeit weiter verläuft. Im Hintergrund werden die technischen Einrichtungen der Bühnenmaschinerie oder die nackte Bühnenhinterwand sichtbar. Alle Illusion ist verflogen, es bleibt nur die Konzentration auf das Spiel.

Nur logisch ist dann auch am Schluss, dass Brünnhilde gleichsam als Regisseurin der finalen Szene die getöteten Männergestalten - Siegfried, Hunding, Hagen - aus ihren Rollen entlässt und die Sänger von der Bühne schickt. Diese Frau im roten Kostüm könnte auch aus dem Publikum sein. Sie zeigt, dass hier wohl eine Welt untergeht, nicht aber das Leben. Rein episch bleibt das Orchesternachspiel. Zu den Natur- und Ewigkeitsmotiven der Rheintöchter, der Weltesche, Siegfrieds und der Erlösung erscheint auf eine Leinwand projiziert Wagners lange Regieanweisung für den Schluss seines Bühnenfestspiels, das mit dem Untergang der alten Welt nun zum Ziel gelangt ist. Aber wir sind nicht am Ende der Zeiten. Wegweisend in die neue Zeit ist Brünnhilde, die wissend gewordene Frau.

Auch die übrigen Szenen sind sinnliche Bildphantasien. Der Brünnhildenfelsen ist als eine Art Kasperlbühne auf der Bühne ironisch mit Zitaten aus der Wagnerrezeption des 19. Jahrhunderts dekoriert. Siegfrieds Kostüm entspricht da haargenau den Abbildungen in alten Ausgaben germanischer Heldensagen: im Bärenfell reckt er sein Schwert "zu neuen Thaten". Als Erscheinung von oben kommt Waltraute zu Besuch, sie schwebt vom Bühnenhimmel ein. Das Tal am Rhein wird durch eine flimmernde Videoproduktion suggeriert als heiter romantisches Bach- und Wiesenidyll. Natürlich fehlt der Bär nicht, ein niedlicher, neckischer Kerl im Plüschkostüm, wie aus der Kinderwelt entlaufen. Ebenso Grane: ein bunt bemaltes Steckenpferdchen aus Holz. Alberich ist ein grauslicher Zwerg, mit den Mitteln von Theaterplastik und Maskenbilderei perfekt zum Scheusal gemacht. All dies ist aber nicht albern oder banal, sondern es hat den Reiz von phantastisch-naiven Chiffren, mit denen alles gesagt ist, was gemeint ist.

Die Personen sind in ihrer Eigenart scharf profiliert: Siegfried ist kein strahlender übermenschlicher Held, sondern ein unbedarfter, aber grundehrlicher Kerl, der den Intrigen, in die er geschickt wird, machtlos gegenübersteht. Dieser Welt des eiskalten Taktierens um Macht und Besitz bleibt er hilflos ausgeliefert. Die Paradoxie, mit der Brünnhilde ihn beschreibt, wird so erst verständlich "Laut'rer als er liebte kein Anderer, ... doch die treueste Liebe trog keiner wie er". Albert Bonnema scheint dieses Rollenverständnis auf den Leib geschrieben. Auch stimmlich füllt er es aus, wenn er auch in der Höhe etwas zu eng erscheint.

Differenziert sind die Gibichungen: überfordert von ihren Ansprüchen und halb freiwillig , halb gezwungen von Hagen in das boshafte Spiel verstrickt, werden sie selbst zu Opfern. Gutrune (Eva-Marie Westbroek), das Hausmütterchen, verzweifelt am Ende über den Tod ihres Mannes und Gunther (Hernan Itturalde) wird schluchzend von seiner Trauer über den ermordeten Blutsbruder erschüttert. Selbst Hagen (Roland Bracht) ist nicht nur allein ein Bösewicht. Die vom Vater Alberich ihm übertragene Last, den Ring zurückzugewinnen, trägt er nicht leicht und in kurzen unbeobachteten Momenten lässt auch er Überforderung erkennen. Die Sänger beglaubigen all dies mit bestem Gesang und großer schauspielerischer Deutlichkeit .

Großartig der Chor: Welch derbe Lustigkeit einerseits, welch blankes Entsetzen anderseits kann er entfalten; welch präzise Artikulation, welch machtvoller Gesang. Luana DeVol ist als Brünnhilde jedoch der unangefochtene Star dieses Abends. In ihrem Schlussgesang kulminiert all ihre Kunst als hochdramatische Sängerin. Ihre Bühnenpräsenz ist schlicht überragend: der Intensität ihrer musikalischen Gestaltung entspricht die souveräne Fähigkeit zum szenischen Spiel. Der unangefochtene Star der ganzen Produktion aber ist das Orchester mit seinem Dirigenten, denen alle vier Abende ungeteilt anvertraut waren und die Übermäßiges geleistet haben. Deswegen ist in Stuttgart der Ring wahrhaftig zum Gesamtkunstwerk geworden.


FAZIT
Auf seine Aktualität befragt, wurde der Mythos allen Ballastes befreit - kein Pathos, kein ideologisch verbrämtes Weltendrama, keine Überlast einer verzweifelt bedeutungsschweren Wirkungsgeschichte verstellten mehr den Blick, sondern klar und schlüssig wurden Konflikte augenfällig, die auch die unsrigen sind. Wagners genialer Entwurf wurde wohl selten ebenso spannungsvoll wie vielseitig inszeniert. Und seine Musik erschien wohl selten so deutlich durchgehört, so modern in ihrer Sprache und so wahrhaftig in ihrer expressiven Dramatik wie hier unter Lothar Zagrosek. "Alles weiß ich, alles ward mir nun frei" - darauf ist dieser Ring hin orientiert.



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Produktionsteams

Musikalische Leitung aller vier Teile
Lothar Zagrosek

Staatsorchester Stuttgart


DAS RHEINGOLD

Inszenierung
Joachim Schlömer

Bühne und Kostüme
Jens Kilian

Lightdesign
David Finn

Dramaturgie
Klaus Zehelein
Sergio Morabito


Solisten

Wotan
Wolfgang Probst

Donner
Mottí Kastón

Froh
Bernhard Schneider

Loge
Robert Künzli

Alberich
Esa Ruuttunen

Mime
Eberhard Francesco Lorenz

Fasolt
Roland Bracht

Fafner
Phillip Ens

Fricka
Michaela Schuster

Freia
Helga Rós Indridadóttir

Erda
Mette Ejsing

Woglinde
Catriona Smith

Wellgunde
Maria Theresia Ullrich

Flosshilde
Margarete Joswig



DIE WALKÜRE

Inszenierung
Christof Nel

Bühne und Kostüme
Karl Kneidl

Licht
Dieter Billino

Dramaturgie
Juliane Votteler


Solisten

Siegmund
Robert Gambill

Hunding
Attila Jun

Wotan
Jan-Hendrik Rootering

Sieglinde
Angela Denoke

Brünnhilde
Renate Behle

Fricka
Tichina Vaughn

Helmwige
Magdalena Schäfer

Gerhilde
Eva-Maria Westbroek

Ortlinde
Wibke Göetjes

Waltraute
Stella Kleindienst

Siegrune
Nidia Palacios

Roßweiße
Margit Diefenthal

Grimgerde
Maria Theresia Ullrich

Schwertleite
Helene Ranada



SIEGFRIED

Inszenierung und Dramaturgie
Jossi Wieler
Sergio Morabito

Bühne und Kostüme
Anna Viebrock

Licht
Dieter Billino


Solisten

Siegfried
Jon Frederic West

Mime
Heinz Göhring

Der Wanderer
Wolfgang Schöne

Alberich
Björn Waag

Fafner
Attila Jun

Waldvogel
Gabriela Herrera

Erda
Helene Ranada

Brünnhilde
Lisa Gasteen



GÖTTERDÄMMERUNG

Inszenierung und Dramaturgie
Peter Konwitschny

Bühne und Kostüme
Bert Neumann

Dramaturgie
Werner Hintze
Juliane Votteler

Chor
Ulrich Eistert

Licht
Lothar Baumgarten


Staatsopernchor
Herren des Extrachors
Statisterie der Staatsoper


Solisten

Siegfried
Albert Bonnema

Gunther
Hernan Iturralde

Alberich
Franz-Josef Kapellmann

Hagen
Roland Bracht

Brünnhilde
Luana DeVol

Gutrune
Eva-Maria Westbroek

Waltraute
Tichina Vaughn

1. Norn
Janet Collins

2. Norn
Lani Poulson

3. Norn
Sue Patchell

Woglinde
Helga Rós Indridadóttir

Wellgunde
Sarah Castle

Floßhilde
Janet Collins

Ein Bär
Manuel Garcia



In Kürze ist der
Stuttgarter Ring
im Radio zu hören:

Rheingold
am 9. März

Die Walküre
am 16. März

Siegfried
am 23. März

Götterdämmerung
am 30. März

jeweils im Radioprogamm
von SWR 2




In einer Koproduktion
von Euroarts, ARTE und
Südwestrundfunk
wurden die Aufführungen
auch für das Fernsehen
und für DVD
aufgezeichnet.
Eine erste Ausstrahlung
ist für den
Spätsommer / Herbst
2003 vorgesehen. Zum
Jahresende 2003 soll
die DVD des Stuttgarter
Rings im Handel
erhältlich sein.





Weitere Informationen
erhalten Sie vom
Staatstheater Stuttgart
(Homepage)



Da capo al Fine

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E-Mail: oper@omm.de

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