Veranstaltungen & Kritiken Musiktheater |
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Überwältigende Klang- und Bilderwelten als Herausforderung an Künstler und PublikumVon Christoph Wurzel / Fotos von A.T. Schaefer
Wie hört sich Kälte an? Wie hört man Schnee und Eis? Und wie Wärme, Feuer und Licht? Wie klingen Einsamkeit, Verzweiflung und Angst? Wie Freude, Hoffnung und Erlösung? In dem Werk für das Musiktheater Das Mädchen mit den Schwefelhölzern von Helmut Lachenmann wird all dies als Klangereignis konkret realisiert. Die Szene antwortet darauf mit suggestiven Bildern. Als Idee steckt hinter der Handlung das Märchen von Hans Christian Andersen. Ein Mädchen aus ärmsten sozialen Verhältnissen irrt in der Neujahrsnacht auf den Straßen der Großstadt umher, um durch den Verkauf von Zündhölzern etwas Geld zu verdienen. Doch niemand kauft ihr etwas ab. Verzweifelt und völlig entkräftet lehnt sie sich in der eisigen Kälte an eine Hauswand, weil sie sich nicht nach Hause traut. Sie beschließt, die Zündhölzer eines nach dem anderen anzuzünden, um sich daran selbst zu wärmen. Da steigen in ihr Visionen auf vom besseren Leben und den Dingen, nach denen sie sich sehnt. Dem sterbenden Kind erscheint zum Schluss die verstorbene Großmutter, die sie zu sich in eine Welt nimmt, in der es "keine Kälte, keinen Hunger und keine Furcht gibt". Natürlich kennt man aus unzähligen Opern die Lamentos, die Rache- oder Wahnsinnsarien und die Freudengesänge, die Ständchen und Liebesschwüre. In all dieser Musik drückt sich das Gefühl in der Form des Symbols aus: bestimmte Formeln, Akkorde oder Instrumentierungen stehen für bestimmte Gefühlslagen. Bei Lachenmann hingegen ist die Musik konkret. Sie "meint" nicht ein Gefühl, sondern sie "ist" das Gefühl. Die Instrumente, und dazu zählen Musikinstrumente ebenso wie Gegenstände und der menschliche Körper selbst, erzeugen die Klänge gleichsam als akustische Verkörperung derjenigen Gefühle, die die Situationen der äußeren Handlung hervorrufen. So beginnt die Aufführung mit einem sehr hohen, leisen, erst fahlen, dann klirrenden, eben eisigen Ton, aus dem dann Klänge des Frierens, des Zitterns und Bibberns und des Händereibens, des wärmenden Hauchens und Atmens entstehen. Lachenmann komponiert Klänge aus Tönen, Geräuschen und menschlichen Handlungen zu einer bisher ungehörten Sprache, die man Gefühlsklänge nennen könnte. Er verwendet dafür einen ungeheuer großen und vielfältigen Orchesterapparat, einen 16 -stimmigen Chor, zwei Solistinnen (Soprane) und als Soloinstrumente das japanische Sho (eine Art Mundorgel) sowie zwei Klaviere. Hinzu kommen sechs Tonbänder, die Geräusche oder akustische Fetzen aus der Realität (Weihnachtslied, Ansagen u.a.) einspielen und eine ganze Reihe von Geräusch erzeugende Werkzeuge, wie Styroporplatten oder Metallschalen, die gerieben werden. Dieser Klangapparat umgibt das ganze Publikum. Nicht nur im Orchestergraben sind Musiker postiert (ein solistisches Streichoktett), etwas erhöht sind rechts und links die beiden Soloklaviere aufgestellt. Sondern auch im gesamten 1. Rang des Theaters, der den Zuschauerraum rings umgibt, sind Musiker verteilt ( vor allem Blechbläser und das umfangreiche Schlagwerk). Die beiden Sängerinnen sitzen auf der Vorderbühne unterhalb der erhöhten Aktionsbühne und der Chor auf Bühnenhöhe rechts und links an den Seitenwänden. Das Publikum wird also förmlich in Klänge eingehüllt. Lachenmann entfaltet eine unbeschreiblich differenzierte Welt, geradezu einen Kosmos von Klanggefühlen, in den das Publikum eintauchen kann. 2. Teil "An der Wand" : Das Mädchen hat sich erschöpft an eine Wand gelehnt und ein Streichholz angezündet, um sich daran zu wärmen.Die Klangbilder und die szenischen Bilder entwickeln sich im Dialog. Das hörbare und das sichtbare Geschehen werden dabei auf eine bis an die Grenze gehende Weise gedehnt und zerlegt. Wenn Text Bestandteil des Klanges ist, wird er in seine kleinsten Bausteine, in Wörter, Silben und einzelne Laute fragmentiert. Die Bewegungen des Mädchens, von einer Schauspielerin ( Mélanie Fouché) pantomimisch dargestellt, werden aufs Äußerste verlangsamt, bis hin zur Erstarrung (im 1. Teil). Auch die Klänge sind oft ihres Zeitrahmens enthoben, die Töne "stehen" oft förmlich im Raum. Anderseits gibt es auch eine Reihe von "durchkomponierten" Passagen, die Lachenmann "Arien" nennt, z.B. die "Frier-Arie" im 1. Teil oder die "Litanei" im 2. Teil, in der ein weiteres wesentliches Kompositionsprinzip zum Tragen kommt. Hier und an einer weiteren Stelle montiert Lachenmann zwei fremde Texte in den Handlungsablauf ein. Der Litanei liegt der Ausschnitt eines Briefes von Gudrun Ensslin aus dem Hochsicherheitstrakt in Stuttgart - Stammheim zugrunde. An einer zweiten Stelle fügt Lachenmann einen Text von Leonardo da Vinci ein. Natürlich hätte es jeder Regisseur schwer, zu dieser Musik Bilder zu erfinden, die das Konzept des Komponisten verwirklichen helfen. Peter Mussbach ist das weitgehend gelungen. Die Bilder lassen genügend Raum für die von den Klängen evozierten Phantasien. Allerdings wirkten die Klänge weitaus packender und unmittelbarer, vielleicht weil sie unerhört neu waren. Nicht, dass die Bilder fehlen könnten, aber sie haben zumeist nicht in demselben Maße stark berührt wie die Musik. Nur wenige Farben bestimmen die Bühne. Im ersten Teil ist es ein harter Schwarz-weiß-Kontrast, im zweiten Teil bestimmen entsprechend der Handlung kaltes Blau und warmes Glutgelb die Szene. Im ersten Teil, in dem das Mädchen durch die Straßen irrt, öffnen sich in der schwarzen Bühnenwand abwechselnd kleine oder große Fenster und schließen sich wieder. Man fühlt sich auch an einen Adventskalender erinnert. Es können einerseits Symbole von Heimat, Geborgenheit und der Freude über weihnachtliche Gaben, andererseits aber auch der Abweisung, des Ausgeschlossenseins und der bitteren Armut des Mädchens sein. Im 2. Teil ist die Bühne vollständig ausgefüllt von drei Bildern: Zuerst lehnt das Mädchen an der Wand und hat sich die wärmenden Hölzchen angezündet. Dann sieht man eine schräge Ebene, die durch eine schwarze Wand geteilt ist. In den beiden Hälften bewegt sich die Schauspielerin Salome Kammer, die da Vincis Text in seinen einzelnen Klangelementen ausgestaltet. Die letzte Szene stellt die "Himmelfahrt" des Mädchens dar. Gerade dieses Bild ist in unsagbar langsamen Bewegungen gestaltet und stellt fast eine Verklärung dar. Verstärkt wird dieser Eindruck noch dadurch, dass die Szene durch eine Videoprojektion verdoppelt und vergrößert wird. Am Schluss bleibt eine japanische Sho-Spielerin allein auf der weißen Bühne zurück, begleitet von sphärischen Streicherklängen und gehauchten Lauten des Chors, bis nur noch wenige undefinierbare Klopfgeräusche die Schlusspunkte setzen. Schlussteil: Die "Himmelfahrt". Das Mädchen wird von seiner Großmutter geholt.
Dieses Werk ist ungeheuerlich. Es sprengt die Dimensionen der meisten bekannten Opern. Es ist radikal in der Komplexität seiner Mittel. Es fordert - mehr vom Hörer als vom Zuschauer - eine enorme Konzentration, weil es sich Formen bedient, die der Hörer sich zumeist erst einmal übersetzen muss. Und hierin liegt zugleich auch ein Problem, denn die Musiksprache Lachenmanns bewegt sich auf einer extrem hohen artifiziellen Ebene. Man muss z.B. die Texte von Ensslin oder da Vinci kennen oder nachlesen, um deren Zusammenhang mit der Handlung zu verstehen. So fühlten sich auch nicht wenige Besucher der Aufführung derart provoziert, dass sie während der Vorstellung den Saal verließen. Dies zeugt natürlich auch von mangelnder Bereitschaft sich auf das Werk einzulassen, aber es kann auch ein Zeichen für Überforderung sein. Zweifellos handelt es sich bei der Stuttgarter Produktion um eine Großtat des Theaters. Dem Werk eilt bereits ein legendärer Ruf voraus und diese Realisierung hat das Zeug dazu, sie in die Theatergeschichte eingehen zu lassen. Dies ist allen voran natürlich dem Dirigenten und Stuttgarter Opernchef Lothar Zagrosek zu verdanken, der mit großer Meisterschaft in enormer Präzision den Klangapparat beherrscht. Die Leistung der Gesangssolisten und des Chors kann nur bewundert werden, wenn sie singen, schnalzen, flüstern, hauchen und Laute formen in abenteuerlichen Höhen und Lautstärken. Die Instrumentalisten führen in nie gehörte Klangdimensionen. All dies nötigt höchste Anerkennung ab. Besonders die Musik fordert zum Wiederhören heraus. Eine CD - Einspielung der Stuttgarter Produktion ist denn auch für Februar 2002 angekündigt. FAZIT Ohne Übertreibung: Dies ist ein Theaterereignis von geschichtlicher Bedeutung! Man sollte dabei gewesen sein! Ihre Meinung ? Schreiben Sie uns einen Leserbrief |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung und Bühne
Kostüme
Musikalische Einstudierung
Chorleitung
Klangregie
Licht
Video
Dramaturgie
Solisten1. Solo - SopranElizabeth Keusch
2. Solo - Sopran
Sprecherin
Schauspielerin
Sho - Spielerin
Solo - Pianistin
Solo - Pianistin
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- Fine -