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Musiktheater
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Das Mädchen mit den Schwefelhölzern
Musik mit Bildern von Helmut Lachenmann



Koproduktion der Staatsoper Stuttgart
mit dem Festival d'Automne à Paris und der Opèra National de Paris

Premiere: 17. September 2001 im Palais Garnier Paris
Premiere in Stuttgart : 12. Oktober 2001 in der Staatsoper

Besuchte Aufführung: 13. Oktober 2001

Dauer der Aufführung ca 130 Minuten; ohne Pause

Homepage Staatstheater Stuttgart

(Homepage)


Überwältigende Klang- und Bilderwelten als Herausforderung an Künstler und Publikum


Von Christoph Wurzel / Fotos von A.T. Schaefer


Wie hört sich Kälte an? Wie hört man Schnee und Eis? Und wie Wärme, Feuer und Licht? Wie klingen Einsamkeit, Verzweiflung und Angst? Wie Freude, Hoffnung und Erlösung? In dem Werk für das Musiktheater Das Mädchen mit den Schwefelhölzern von Helmut Lachenmann wird all dies als Klangereignis konkret realisiert. Die Szene antwortet darauf mit suggestiven Bildern.
Zum zweiten Mal - nach der Hamburger Uraufführung von 1997 - zeigt eine Opernbühne dieses Werk des 1935 geborenen Komponisten, das die herkömmliche Form der Oper überschreitet. Denn sowohl der Begriff der "Handlung" als auch der Begriff der "Musik" sind darauf im traditionellen Sinn nicht mehr anwendbar. Lachenmann hat mit seiner Komposition dem Musiktheater eine neue Form gegeben.

Als Idee steckt hinter der Handlung das Märchen von Hans Christian Andersen. Ein Mädchen aus ärmsten sozialen Verhältnissen irrt in der Neujahrsnacht auf den Straßen der Großstadt umher, um durch den Verkauf von Zündhölzern etwas Geld zu verdienen. Doch niemand kauft ihr etwas ab. Verzweifelt und völlig entkräftet lehnt sie sich in der eisigen Kälte an eine Hauswand, weil sie sich nicht nach Hause traut. Sie beschließt, die Zündhölzer eines nach dem anderen anzuzünden, um sich daran selbst zu wärmen. Da steigen in ihr Visionen auf vom besseren Leben und den Dingen, nach denen sie sich sehnt. Dem sterbenden Kind erscheint zum Schluss die verstorbene Großmutter, die sie zu sich in eine Welt nimmt, in der es "keine Kälte, keinen Hunger und keine Furcht gibt".
Nun sind diese Geschehnisse nicht im Sinne einer naturalistischen Handlung dem Werk zugrunde gelegt, sondern es entstehen im Bühnenraum Bilder, die gleichsam zu Spiegelbildern der inneren Vorgänge, der Gefühle und Empfindungen werden, die in derartigen Situationen in Menschen ausgelöst werden. Folgerichtig hat Lachenmann zu seiner Musik auch kein Libretto verfasst, keinen Text, der musikalisch ausgestaltet wäre. Es ist die Musik - es sind die Klänge, in denen die Handlung sinnlich erfahrbar wird. Sie finden in den Bildern auf der Bühne eine Antwort und wirken auf die Zuschauer auf einer zweiten sinnlichen Ebene zurück. So entsteht eine musikalische Handlung.

Bühnenfoto 1.Teil: "Auf der Straße". Das Mädchen (Mélanie Fouché) irrt einsam durch die Straßen.

Natürlich kennt man aus unzähligen Opern die Lamentos, die Rache- oder Wahnsinnsarien und die Freudengesänge, die Ständchen und Liebesschwüre. In all dieser Musik drückt sich das Gefühl in der Form des Symbols aus: bestimmte Formeln, Akkorde oder Instrumentierungen stehen für bestimmte Gefühlslagen. Bei Lachenmann hingegen ist die Musik konkret. Sie "meint" nicht ein Gefühl, sondern sie "ist" das Gefühl. Die Instrumente, und dazu zählen Musikinstrumente ebenso wie Gegenstände und der menschliche Körper selbst, erzeugen die Klänge gleichsam als akustische Verkörperung derjenigen Gefühle, die die Situationen der äußeren Handlung hervorrufen. So beginnt die Aufführung mit einem sehr hohen, leisen, erst fahlen, dann klirrenden, eben eisigen Ton, aus dem dann Klänge des Frierens, des Zitterns und Bibberns und des Händereibens, des wärmenden Hauchens und Atmens entstehen. Lachenmann komponiert Klänge aus Tönen, Geräuschen und menschlichen Handlungen zu einer bisher ungehörten Sprache, die man Gefühlsklänge nennen könnte. Er verwendet dafür einen ungeheuer großen und vielfältigen Orchesterapparat, einen 16 -stimmigen Chor, zwei Solistinnen (Soprane) und als Soloinstrumente das japanische Sho (eine Art Mundorgel) sowie zwei Klaviere. Hinzu kommen sechs Tonbänder, die Geräusche oder akustische Fetzen aus der Realität (Weihnachtslied, Ansagen u.a.) einspielen und eine ganze Reihe von Geräusch erzeugende Werkzeuge, wie Styroporplatten oder Metallschalen, die gerieben werden. Dieser Klangapparat umgibt das ganze Publikum. Nicht nur im Orchestergraben sind Musiker postiert (ein solistisches Streichoktett), etwas erhöht sind rechts und links die beiden Soloklaviere aufgestellt. Sondern auch im gesamten 1. Rang des Theaters, der den Zuschauerraum rings umgibt, sind Musiker verteilt ( vor allem Blechbläser und das umfangreiche Schlagwerk). Die beiden Sängerinnen sitzen auf der Vorderbühne unterhalb der erhöhten Aktionsbühne und der Chor auf Bühnenhöhe rechts und links an den Seitenwänden. Das Publikum wird also förmlich in Klänge eingehüllt. Lachenmann entfaltet eine unbeschreiblich differenzierte Welt, geradezu einen Kosmos von Klanggefühlen, in den das Publikum eintauchen kann.

Bühnenfoto 2. Teil "An der Wand" : Das Mädchen hat sich erschöpft an eine Wand gelehnt und ein Streichholz angezündet, um sich daran zu wärmen.

Die Klangbilder und die szenischen Bilder entwickeln sich im Dialog. Das hörbare und das sichtbare Geschehen werden dabei auf eine bis an die Grenze gehende Weise gedehnt und zerlegt. Wenn Text Bestandteil des Klanges ist, wird er in seine kleinsten Bausteine, in Wörter, Silben und einzelne Laute fragmentiert. Die Bewegungen des Mädchens, von einer Schauspielerin ( Mélanie Fouché) pantomimisch dargestellt, werden aufs Äußerste verlangsamt, bis hin zur Erstarrung (im 1. Teil). Auch die Klänge sind oft ihres Zeitrahmens enthoben, die Töne "stehen" oft förmlich im Raum. Anderseits gibt es auch eine Reihe von "durchkomponierten" Passagen, die Lachenmann "Arien" nennt, z.B. die "Frier-Arie" im 1. Teil oder die "Litanei" im 2. Teil, in der ein weiteres wesentliches Kompositionsprinzip zum Tragen kommt. Hier und an einer weiteren Stelle montiert Lachenmann zwei fremde Texte in den Handlungsablauf ein. Der Litanei liegt der Ausschnitt eines Briefes von Gudrun Ensslin aus dem Hochsicherheitstrakt in Stuttgart - Stammheim zugrunde. An einer zweiten Stelle fügt Lachenmann einen Text von Leonardo da Vinci ein.
Beide Einschübe haben dramaturgisch zentrale Bedeutung, denn durch sie wird das Geschehen um das Mädchen reflektiert und in einen größeren Zusammenhang gestellt. Lachenmann hat im Programmheft selbst erläutert, wie er den Brief von Gudrun Ensslin, die wegen terroristischer Brandstiftung verurteilt war, verstanden wissen will: "...dass ich darin nicht nur einfach die entfesselte Gewaltbereitschaft und seelische Kaputtheit sehe, sondern auch ihre Liebe zum an der Gesellschaft zerbrechenden Individuum. Sie ist für mich so etwas wie eine extrem verformte Variante meines 'Mädchens'". Und Lachenmann hat diesen Brieftext eben gerade an der Stelle eingefügt, an der das Mädchen in einem Akt der Erkenntnis und damit Verwirklichung ihrer eigenen Interessen das Streichholz anzündet, das es eigentlich verkaufen sollte.
Der Text von Leonardo da Vinci "Zwei Gefühle" , in dem in einer stark expressiven Sprache der Eintritt in eine Höhle geschildert wird, verdeutlicht an der Stelle kurz vor ihrem Tod die Ambivalenz, von der die Gefühle des Mädchens gekennzeichnet sind: einerseits ist da elementare Furcht, ja Todesangst und andererseits eine gespannte Erwartung des Kommenden. Diese Passage hatte Lachenmann bereits früher komponiert und in das Mädchen übernommen. Es ist die emotional wohl am meisten aufwühlende Passage des Werks.

Natürlich hätte es jeder Regisseur schwer, zu dieser Musik Bilder zu erfinden, die das Konzept des Komponisten verwirklichen helfen. Peter Mussbach ist das weitgehend gelungen. Die Bilder lassen genügend Raum für die von den Klängen evozierten Phantasien. Allerdings wirkten die Klänge weitaus packender und unmittelbarer, vielleicht weil sie unerhört neu waren. Nicht, dass die Bilder fehlen könnten, aber sie haben zumeist nicht in demselben Maße stark berührt wie die Musik. Nur wenige Farben bestimmen die Bühne. Im ersten Teil ist es ein harter Schwarz-weiß-Kontrast, im zweiten Teil bestimmen entsprechend der Handlung kaltes Blau und warmes Glutgelb die Szene. Im ersten Teil, in dem das Mädchen durch die Straßen irrt, öffnen sich in der schwarzen Bühnenwand abwechselnd kleine oder große Fenster und schließen sich wieder. Man fühlt sich auch an einen Adventskalender erinnert. Es können einerseits Symbole von Heimat, Geborgenheit und der Freude über weihnachtliche Gaben, andererseits aber auch der Abweisung, des Ausgeschlossenseins und der bitteren Armut des Mädchens sein.

Im 2. Teil ist die Bühne vollständig ausgefüllt von drei Bildern: Zuerst lehnt das Mädchen an der Wand und hat sich die wärmenden Hölzchen angezündet. Dann sieht man eine schräge Ebene, die durch eine schwarze Wand geteilt ist. In den beiden Hälften bewegt sich die Schauspielerin Salome Kammer, die da Vincis Text in seinen einzelnen Klangelementen ausgestaltet. Die letzte Szene stellt die "Himmelfahrt" des Mädchens dar. Gerade dieses Bild ist in unsagbar langsamen Bewegungen gestaltet und stellt fast eine Verklärung dar. Verstärkt wird dieser Eindruck noch dadurch, dass die Szene durch eine Videoprojektion verdoppelt und vergrößert wird. Am Schluss bleibt eine japanische Sho-Spielerin allein auf der weißen Bühne zurück, begleitet von sphärischen Streicherklängen und gehauchten Lauten des Chors, bis nur noch wenige undefinierbare Klopfgeräusche die Schlusspunkte setzen.

Bühnenfoto Schlussteil: Die "Himmelfahrt". Das Mädchen wird von seiner Großmutter geholt.

Dieses Werk ist ungeheuerlich. Es sprengt die Dimensionen der meisten bekannten Opern. Es ist radikal in der Komplexität seiner Mittel. Es fordert - mehr vom Hörer als vom Zuschauer - eine enorme Konzentration, weil es sich Formen bedient, die der Hörer sich zumeist erst einmal übersetzen muss. Und hierin liegt zugleich auch ein Problem, denn die Musiksprache Lachenmanns bewegt sich auf einer extrem hohen artifiziellen Ebene. Man muss z.B. die Texte von Ensslin oder da Vinci kennen oder nachlesen, um deren Zusammenhang mit der Handlung zu verstehen. So fühlten sich auch nicht wenige Besucher der Aufführung derart provoziert, dass sie während der Vorstellung den Saal verließen. Dies zeugt natürlich auch von mangelnder Bereitschaft sich auf das Werk einzulassen, aber es kann auch ein Zeichen für Überforderung sein. Zweifellos handelt es sich bei der Stuttgarter Produktion um eine Großtat des Theaters. Dem Werk eilt bereits ein legendärer Ruf voraus und diese Realisierung hat das Zeug dazu, sie in die Theatergeschichte eingehen zu lassen. Dies ist allen voran natürlich dem Dirigenten und Stuttgarter Opernchef Lothar Zagrosek zu verdanken, der mit großer Meisterschaft in enormer Präzision den Klangapparat beherrscht. Die Leistung der Gesangssolisten und des Chors kann nur bewundert werden, wenn sie singen, schnalzen, flüstern, hauchen und Laute formen in abenteuerlichen Höhen und Lautstärken. Die Instrumentalisten führen in nie gehörte Klangdimensionen. All dies nötigt höchste Anerkennung ab. Besonders die Musik fordert zum Wiederhören heraus. Eine CD - Einspielung der Stuttgarter Produktion ist denn auch für Februar 2002 angekündigt.


FAZIT
Ohne Übertreibung: Dies ist ein Theaterereignis von geschichtlicher Bedeutung! Man sollte dabei gewesen sein!



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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Lothar Zagrosek

Inszenierung und Bühne
Peter Mussbach

Kostüme
Andrea Schmitt - Futterer

Musikalische Einstudierung
Matthias Herrmann

Chorleitung
Michael Alber

Klangregie
Andreas Breitscheid

Licht
Peter Mussbach und Dieter Billino

Video
Stefan Runge

Dramaturgie
Klaus Zehelein und Hans Tomalla


Staatsopernchor Stuttgart
Staatsorchester Stuttgart
Statisterie der Staatsoper



Solisten

1. Solo - Sopran
Elizabeth Keusch

2. Solo - Sopran
Sarah Leonard

Sprecherin
Salome Kammer

Schauspielerin
Mélanie Fouché

Sho - Spielerin
Mayumi Miyata

Solo - Pianistin
Yukiko Sugawara

Solo - Pianistin
Tomoko Hemmi




Weitere Informationen
erhalten Sie vom
Staatstheater Stuttgart (Homepage)



Da capo al Fine

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