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Musiktheater
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Die Gezeichneten

Oper in drei Aufzügen
Musik von Franz Schreker
Dichtung vom Komponisten


Mit Übertiteln
Dauer der Aufführung: 3 1/2 Stunden


Premiere am 26. Januar 2002
Besuchte Aufführung: 4. Februar 2002

Homepage Staatstheater Stuttgart

(Homepage)


Orientierungslos in den Schluchten der Begierden


Von Christoph Wurzel / Fotos: A.T. Schäfer


Franz Schrekers Oper "Die Gezeichneten" eilt eine gewisse nimbushafte Berühmtheit voraus, dennoch ist dieses Werk einem breiten Publikum so gut wie unbekannt. Dabei gehörte es in der Zeit zwischen den beiden Kriegen zu den meist aufgeführten Opern überhaupt. Allein zwischen 1917 und 1921 lag die Gesamtzahl der Aufführungen von Schrekers bis dahin drei Opern bei 245. In der folgenden Zeit bis 1930 war Franz Schreker einer der erfolgreichsten Gegenwartskomponisten und zugleich seit 1927 als Direktor der Berliner Musikhochschule anerkannter Kompositionslehrer und einflussreicher Kopf des Musiklebens (so förderte er u.a. Paul Hindemith, Eduard Feuermann oder Artur Schnabel). Von dem inzwischen mächtig gewordenen braunen Ungeist als entartet verunglimpft, musste er die Leitung der Hochschule bereits 1930 abgeben und 1933 auch die Berliner Akademie der Künste verlassen. Schreker hat diese Stigmatisierung nicht verwunden und starb im März 1934 an den Folgen eines noch im Jahr der nationalsozialistischen Machtergreifung erlittenen Schlaganfalls. So ist er eines der ersten Opfer des deutschen Rassenwahns und seiner kulturellen Ignoranz.

Nach dem 2. Weltkrieg konnten die Werke Schrekers im Repertoire der Theater nicht wieder Fuß fassen, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Das hängt sicherlich auch mit den Themen zusammen, die Schreker vorstellt und die nicht in die restaurative Kulturszene zu passen schienen. Erst in den letzten Jahren haben Opernhäuser es unternommen, mindestens die frühen Opern Schrekers dem Publikum zurückzugeben - und dies immer mit Erfolg. Karlsruhe hat 1998/99 den "Schatzgräber" in einer beachtlichen Produktion gezeigt, die Berliner Staatsoper zu Anfang dieser Spielzeit den "Fernen Klang" und nun ist in Stuttgart Schrekers Hauptwerk "Die Gezeichneten" zu sehen - und man sollte es nicht verpassen!

Die Oper wurde bereits 1914 vollendet, konnte aber wegen des Krieges erst 1918 in Frankfurt uraufgeführt werden. Zu den Bedenken gegenüber dem Werk schrieb 1917 der damalige Wiener Hofoperndirektor Hans Gregor an Schreker: "Sie gehen mit ihrem Werke hart an die Grenze des Möglichen, das wollen Sie sich nur vor Augen halten und eine zusammengeflickte und gestückte Vorführung kann Ihre Oper zur theatralischen Ungeheuerlichkeit machen. Erinnern Sie sich doch bloß an das Eine, wie viele Leser sicher schon nach der Lektüre des Buches den Kopf geschüttelt haben, dass so etwas auf der Bühne dargestellt werden soll." Zwar hebt Gregor hier vor allem auf die technischen Schwierigkeiten bei der Realisierung der Oper ab, doch im Hintergrund steht auch das ungeheuerliche Thema des Werks. Es geht in dieser von Schreker in das Genua der Renaissance verlegten Handlung um nichts weiter als die hemmungslose sexuelle Begierde - und dies nicht als untergründiges Handlungsmotiv, sondern als das eigentliche Thema selbst.

Szenenfoto Alviano Salvago, der Anti - Narziss, hässlich und nicht zur Liebe fähig (Gabriel Sadé).

Der hässliche, verkrüppelte Alviano Salvago hat auf einer Insel vor der Stadt einen Ort der angestrebten vollkommenen Schönheit geschaffen, an dem sich Kunst und Natur zum Ideal verbinden - das "Elysium". Diesen Ort möchte er der gesamten Bürgerschaft Genuas zugänglich machen und ihn der Stadt schenken. Widerspruch erfährt er dabei von einer Clique Edelleute, die in einer verschwiegenen Grotte des "Elysium" sich sexuellen Ausschweifungen bis hin zu Ritualmorden hingeben. Bei der Schenkungszeremonie begegnet Alviano der Tochter des Oberhaupts der Stadt, der Malerin Carlotta, die sich in ihn verliebt und ihn in ihr Atelier einlädt, wo sie ihn malen will. In Carlotta seinerseits verliebt ist der Graf Tamare, der wegen seines ausschweifenden Lebens berüchtigt ist. Im 2. Akt kommt es zu einer Begegnung Alvianos mit Carlotta, die beide an den Rand äußerster seelischer Intimität führt.
Den Höhepunkt bildet der 3. Akt, wenn die Bevölkerung Genuas die Insel in Besitz nimmt und verzückt ihre Schönheiten bestaunt. Auch Carlotta will nun die Lust genießen und gibt sich Tamare hin. Währenddessen feiert das Volk Alviano als seinen dionysischen Gott. Die Szene artet in einen grotesk-zügellosen Rausch aus, dem der Herzog und der Bürgermeister als Vertreter einer konservativen Moral Einhalt zu gebieten versuchen, indem sie Alviano als den Hauptschuldigen verantwortlich machen. Als er Hilfe bei Carlotta sucht, muss er erfahren, dass sie sich mit Tamare verbunden hat, der ihn auch noch verspottet. Alviano tötet Tamare und verfällt in den Wahnsinn.

Szenenfoto Carlotta und Alviano: "Wie seltsam - Angst vor dem Glück" (Eva-Maria Westbroek und Gabriel Sadé).

Martin Kusej hat in Stuttgart diese Oper inszeniert und mit äußerster und subtilster Genauigkeit die Facetten des Werks freigelegt. Die Inszenierung schält die psychologischen Schichten der Oper heraus und zeigt die Personen, wie sie sich in ihren Begierden verfangen haben. Bereits die erste Szene macht Alvianos Seelenlage sinnfällig, in der er sich - zum Vorspiel der Oper- in deutlicher Anlehung an das Bild des in sich selbst verliebten Narziss völlig nackt im Wasser spiegelt. Er ist der Antinarziss, der sich auf Grund seiner Hässlichkeit selbst nicht lieben kann und daher auch von niemandem geliebt wird. Er sublimiert sein Verlangen nach körperlicher Liebe, indem er sich dem Ideal der Schönheit in der Kunst hingegeben hat. Carlotta, die herzkranke Malerin, malt Augen und Hände als Symbole für den körperlichen Kontakt zwischen den Menschen, den sie selbst nur sublimiert erfahren kann. Diese beiden in ihrer Liebesfähigkeit gespaltenen Personen müssen aneinander scheitern. Kusej lässt sie in den beiden entscheidenden Szenen sich orientierungslos aufeinander zu-, aber hoffnungslos aneinander vorbei bewegen. Er führt die Personen pointiert auf die Schlüsselworte "Seelen" und "Erlösung" hin, ohne dass die Seelen sich wirklich treffen und die erwünschte Erlösung eintritt. Worunter sie leiden, ist die Spaltung von körperlichem Begehren und reiner Liebe und beide können gerade das nicht geben, was der Andere sucht.

Szenenfoto Massenverzückung im 3. Akt (Staatsopernchor).

Die Gesellschaft, die in dieser Oper den Urgrund für das Unvermögen zur Liebe bildet, ist eine Gesellschaft der Doppelmoral. Lust ist erlaubt nur in der Form der Kunst, wird aber befriedigt in den geheimen Ausschweifungen in den Grotten des Elysium. Im 3. Akt dann wächst sich der Trieb schubhaft zur öffentlichen Massen-Orgie aus, wenn die unbewussten Wünsche durch die reale Schönheit gleichsam wachgerufen werden und das Volk sich enthemmt seiner Lust hingibt. Dies ist von Schreker in einer sich rauschhaft steigernden Phantasie komponiert, die auf der Opernbühne ihres gleichen suchen dürfte. Besonders hier malt die Musik die höchsten Erregungszustände, es züngelt aus dem Unbewussten und Szene und Musik verschmelzen zu einem großen Gefühl. Kusej macht in dieser Szene den Chor zur Hauptperson einer kollektiven Extase, die bei Einzelnen in hemmungsloser Perversion in einen Blutrausch mündet. Dies ist die zu Ende gedachte Horrorvision von der Wirkungsmacht unterdrückter Triebbefriedigung. Und es ist gut, dass Kusej dies mit einer gewissen nüchternen Distanz erzählt. Was wäre, wenn der Zuschauer sich mit einem solchen Geschehen identifizieren würde oder ihm voyeuristisch ausgesetzt wäre?

Die Bühne wird beherrscht von wenigen symbolisch verwendeten Details. Da ist vor allem der Wassergraben als Sinnbild des Untergangs. Verschiebbare Stahlregale erinnern an Warenlager - auch Menschen werden darin "nach Gebrauch abgelegt". Den Hintergrund bilden Spiegel, die das Geschehen auch in den Zuschauerraum reflektieren.

Die außerordentlich anspruchsvollen Rollen werden durchweg beeindruckend ausgefüllt. Vor allem Gabriel Sadé als Alviano hat nicht nur sängerische Höchstleistungen zu vollführen, sondern muss buchstäblich mit ganzem Körpereinsatz agieren. Sehr überzeugend als Carlotta ist Eva-Maria Westbroek, die der Partie eine gewisse vitale Kraft verleiht und so ihre Entwicklung zur lustbejahenden Frau glaubhaft verdeutlicht, die sie am Schluss ist ( "Gebt mir Wasser, nein Wein und mein Liebster soll kommen"), wenn sie sich hemmungslos dem brutalen Tamare überlässt. Sehr schön ist ihr Kostüm im 1. Akt, wo sie über ihrem schwarzen Kleid einen durchsichtigen Plastikmantel trägt - eine gläserne Haut gleichsam.

Paul Bekker hat in seinem auch heute noch überaus lesenswerten und erhellenden Schreker-Aufsatz von 1918 darauf hingewiesen, dass Schrekers Musik nicht die szenische Handlung illustriert oder dem Text nachläuft, sondern er hat die Kunst Schrekers als eine Dialektik beschreiben, in der die Musik die Dichtung erst schafft und durchdringt und die Dichtung die Musik wiederum umschreibt und ihr anschauliche Gestalt gibt. Zwar in komplexen Motiven und Strukturen gebaut, ist Schrekers Musik auf ganz besondere Weise unmittelbar emotional berührend, sie treibt den Hörer in der Form eines Gefühlsstromes unmittelbar sinnlich vor sich her und entfaltet eine ungeahnte Farbigkeit, die stellenweise betörend und berauschend wirkt.

In Stuttgart wird die Oper von zwei Dirigenten betreut. Lothar Zagrosek, der GMD, hat bereits eine fulminante CD-Produktion vorgelegt. An dem rezensierten Abend leitete Peter Schrottner das Staatsopernorchester souverän und war auf höchste Durchhörbarkeit der ziemlich solistisch angelegten Partitur bedacht. Detailverliebt mischten unter seiner Leitung die Musikerinnen und Musiker die schönsten Klangfarben ab. Schrottner gelangen packende dramatische Bögen, bis in die kleinsten Nuancen hinein widmete er sich der Ziselierung auch der leisesten Phrasen. Man konnte an dieser musikalischen Gestaltung nachvollziehen, dass Schreker einmal als Klangzauberer so erfolgreich aufgeführt worden war.


FAZIT
Was kann man von einer Produktion Besseres behaupten, als dass sie ein schamlos vergessenes Meisterwerk wieder zu seinem vollen Recht kommen lässt! Und diese Stuttgarter "Gezeichneten" haben das Zeug dazu.



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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Lothar Zagrosek /
Peter Schrottner *

Inszenierung
Martin Kusej

Bühne
Martin Zehetgruber

Licht
Reinhard Traub

Chor
Michael Alber

Dramaturgie
Klaus Zehelein /
Hans Thomalla




Staatsorchester Stuttgart
Staatsopernchor Stuttgart
Statisterie der Staatsoper

* Dirigent des Abends



Solisten

Herzog Antoniotto Adorno
Wolfgang Probst

Graf Andrae Vitelozzo Tamare
Claudio Otelli

Carlotta,
seine Tochter
Eva-Marie Westbroek

Ludovoco Nardi, Podestà der Stadt
Wolfgang Schöne

Genuesische Edelleute:

Guidobald Usodimare
Norman Shankle

Manaldo Negroni
Robert Künzli

Michelotto Cibo
Peter Kajlinger

Gonsalvo Fiesci
Motti Kastón

Julian Pinelli
Hernan Itturalde

Paolo Calvi
Mark Munkittrick

Der Capitaneo di giustizia
Wolfgang Probst

Ginevra Scotti
Irena Bespalovaite

Cartuccia, Haushälterin bei Salvago
Margarete Joswig

Pietro, ein Bravo
Heinz Görig

Ein Jüngling
Roger Widmer

Dessen Freund
Sebastian Geyer

Ein Mädchen
Isabell Dürr

Drei Senatoren
Roderic Keating
Dorin Mara
Karl-Friedrich Dürr

Diener
Sebastian Geyer

Drei Bürger
Roderic Keating
Klaus Hirte
Karl - Friedrich Dürr

Vater
Klaus Hirte

Mutter
Irmgard Stadler

Kind
Solistin des Kinderchors

Drei junge Leute
Johannes Petz
Siegfried Laukner
Thomas Hahn

Ein riesiger Bürger
Sasa Vrabac

Dienerin
Ingrid Zielosko




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Da capo al Fine

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