Drei Tanzstücke von Jean-Jacques Vidal Musik von Igor Strawinsky
Premiere am Theater Hagen am 22.3.1997
Face à Face: Tänzer - Patrick Entat Apollo: Apollo - Radek Fiala dessen anderes Ich - Nico Weggemans Die Erotische - Eva Henning Die Vergeistigte - Maira Becker Die Dominante - Fernanda Barbosa Die ideale Frau - Dominique Casanova Eingeschlossene Welten: Das Opfer - Jean-Jacques Vidal Der Schizophrene - Marco Goecke Die Sadistin - Marjorie Marzo Die Paranoide - Dominique Casanova Die Nymphomanin - Helen Rosenthal Die Autistin - Trinidad Martinez Das eingeschlossene Kind - Daniela Socha Der Soldat - Martin Trieb Die Mutter - Eva Henning
Den Abend eröffnete der Monolog "Auge in Auge" zu Strawinskys "Basler Concerto". Ein junger Mann zeigt in sich wiederholend windender Auseinandersetzung seine Gefühle, und spürt dabei nicht nur typisch männliche, sondern auch weibliche Empfindungen und Bewegungen auf. Die verschiedenartigen, sich widerstreitenden, vertraut-fremden Gefühle die in ihm angelegt sind, verwirren und überwältigen ihn; es gelingt nicht, ihnen zu entweichen. Nur ein Stuhl, Frauenkleid und Frauenschuhe und allein der Raum vor dem Vorhang dienen der Choreographie Jean-Jacques Vidals, die hervorragend, kraftvoll und konzentriert ausgeführt wird von Patrick Entat. Einen durchaus mitreißenden Prolog gibt es mit diesem Stück zu sehen, das gleichwohl nichts Neues, nichts Überraschendes zu sagen hat. Der Ausdruck eines heftigen Wechselspiels von Gefühlen ist vertraut, die Durchführung der Choreographie bleibt stets genau deutbar.
Ebenso direkt zum Thema Geschlechtscharakter geht es im zweiten Stück "Apollo" zu. Im leicht futuristischem Bühnenbild, Großstadtruinen im Pop-art-Raster, werden ebenso rasterhaft verschiedene Typen entworfen. Apollo und sein anderes, schwarzes Ich inspizieren vier Frauen von je allgemeingültiger Natur: die Erotische, die Vergeistigte, die Dominante und die ideale Frau. Nun ja, wenn man das weibliche Geschlecht so zusammenfassen will ...
Wiederum beachtlich ausgeführt von den jungen Tänzern, bleibt auch diese Choreographie restlos auslegbar. Sie befaßt sich schematisch mit dem Thema Geschlechterverhältnis und Partnerwahl, hat uns von dieser Welt aber doch wohl nichts zu sagen. Apollo vermag die ideale Frau nicht als solche zu erkennen und tritt unverichteter Dinge in strahlendem Weiß und heroischer Geste als verwirrter Lohengrin ab.
Der Begleitung des Streichorchesters fehlte es bei diesen ersten beiden Stücken erheblich an Prägnanz und Schwung. Beides konnte das gesamte Orchester aber erfreulicherweise im zweiten Teil beim "Sacre du Printemps" aufweisen, und es vermochte unter der Leitung von Alexander Rumpf spannungsvoll zu musizieren.
"Eingeschlossene Welten" nennt Vidal sein Tanzstück zum Frühlingsopfer Strawinskys. Den Hergang des Rituals versetzt der Choreograph in eine geschlossene Anstalt für geistig Kranke, die unmenschlich kalt mit Neonlampen und Gummiwänden ausgestattet ist. Jeder der Patienten zeigt tänzerisch stilisiert ein bestimmtes Leiden, das wie in Solonummern vorgezeigt wird. Es überzeugt schließlich wenig, wenn sich unter den Vereinzelten allmählich eine Gruppendynamik entwickelt, die zur kollektiven Auswahl eines Opfers und seiner Tötung führt. Menschen in einer solchen Anstalt, sogenannte Geisteskranke, leben entweder in einer äußerst instabilen oder gar in einer ganz anderen, uns unbekannten Realität, auf jeden Fall aber in einem völlig singulären Verhältnis zur Wirklichkeit, das weder "wir Gesunden" noch andere Kranke teilen. So ist es wohl auch kaum möglich, daß sich in der dargestellten Anstalt eine zusammenhängende Gruppenhandlung unter den Patienten ergibt und weiter steigert. Es ist nicht glaubhaft, wenn die Choreographie zunehmend Ensembleszenen mit parallelen Bewegungsablauf aller zeigt, als hätten die Einzelnen die ihnen zugeordnete krankhafte Verhaltung gerade mal vergessen. Wenn in den Ensembleszenen zudem Anklänge an bekannte Choreographien des Frühlingsopfer sichtbar werden, so wirkt das hier unmotiviert oder gar wie eine unfreiwillige Parodie.
Und was schließlich bleibt für uns von diesem künstlich dargestellten Kampf im "Irrenhaus" ? Folgt hier die Choreographie nicht einer bestimmten Mode, die allzugerne eine geheimnisvolle Ethik der Geisteskranken beschwört, aber schnell zur Beliebigkeit gerät, wenn sie von "Gesunden" stilisiert nachgestellt wird?
Etwas ratlos scheint auch das Publikum, das dem Regieteam eher verhaltenen Applaus spendet, die Tänzer aber kräftig belohnt und besonders Patrick Entat für sein Eingangssolo mit Bravorufen feiert.
Ensemble
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