La Bohème
Szenen aus Henry Murgers "La Vie de Bohème" in vier Bildern
Von Giuseppe Giacosa und Luigi Illica
Musik von Giacomo Puccini
(in italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln)
Premiere des Schillertheaters NRW
im Musiktheater Gelsenkirchen
am 13. September 1998
Von Margot Leins
/
Fotos von Rudolf Finkes
Das Leben der Pariser Bohème vor,während und nach der deutschen Okkupation
Murgers literarische Vorlage beschreibt die Pariser Bohème zur Zeit der Julirevolution
(um1830), doch hat Murger selbst darauf hingewiesen, daß das Bohème-Dasein "zu allen
Zeiten und allerorts" bestanden habe und er darin gleichsam eine anthropologische Konstante
sähe.
So entfaltet Gabriele Rech in der Gelsenkirchener Inszenierung - beispielhaft - das Leben
der Bohème und die tragische Liebesgeschichte zwischen Mimi und Rodolfo vor dem Hintergund
der Besatzung Frankreichs durch die Deutschen. Diese ‚Aktualisierung' soll bereichernd die
politische Ebene ins Bewußtsein heben (die Auflehnung der Bohemièns war und ist stets auch
gegen staatlich-politische Zwänge gerichtet), ohne jedoch die tragische Liebesgeschichte
zu dominieren.
Das erste Bild zeigt die zeitlos-ärmliche Mansarde Marcellos und Rodolfos, in welcher sich
die vier Künstler-Freunde treffen und einen ersten - durch Puccinis Musik und liebevolle
Details der Ausstattung (Schaunard etwa trägt Rollschuhe) stark atmosphärischen -
Eindruck von ihrer ‚leicht-sinnigen' Lebenshaltung vermitteln.
Leider wurden die schönen Stimmen auf der Bühne vom Orchester, der Neuen Philharmonie Westfalen,
unter der Leitung von Johannes Wildner teilweise übertönt. Ansonsten bewiesen Orchester
und Dirigent Flexibilität und Einfühlungsvermögen in die Bandbreite von temperamentvoll-
rhythmischer bis zaghaft-zarter Passagen der Partitur.
Die Mansarde ist nur durch ein quadratisches Podest, auf welchem die enge Möblierung montiert
ist und welches relativ verloren im hell ausgeschlagenen Kunst-(Bühnen-)Raum steht,
angedeutet. Hier entspinnt sich die Liebesbeziehung zwischen der kranken Näherin Mimi und
dem Poeten Rodolfo, eine ebenfalls zeit- und raumunabhängige Angelegenheit. Nikolai A. Schukoff
als Rodolfo entfaltet sein Können am schönsten an leisen Tönen (was auch mit der
verbesserungswürdigen Lautstärke-Abstimmung von Orchester und Sängern zusammenhängt),
hier etwa seinem Bravourstück "Che gelida manina". Noriko Ogawa-Yakate stellt sich anrührend
aber stimmlich ungewohnt zurückhaltend (Tagesform ?) als Mimi vor.
Beide gehen am Ende aus dem Bild in einen blauen Sternenhimmel hinein, der dem Publikum
während der Umbaupause als Stimmungsträger erhalten bleibt. Nicht umsonst, denn der Anblick
der Bühne des zweiten Bildes frappiert danach: Nach der Enge und den kühlen Blautönen, die
das erste Bild beleuchten ist die Szene nun in warme von Orange nach Pink changierende Töne
getaucht und - welche Überraschung - aus dem lauschigen Café Momus (1830) ist hier eine den
gesamten Bühnenraum einnehmenden und sich drehende Galerie Momus (1939) geworden, in welcher
die Schickeria spießiger Kunstliebhaber tafelt und zu der sich die vier Künstler und Mimi mit
angemessener ‚distance' gesellen. (Das Ganze erinnert an ein Otto Dix-Gemälde - sind wir
in Paris oder in Berlin oder... ?)
Ein wahrhaft postmodernes (und vielleicht zu operettenhaftes) Spektakel, was die Dekoration
angeht, finden sich doch Zitate aus verschiedenen Stilrichtungen der Bildenden Kunst, aber
als Gesamteindruck ohne Zweifel ein Fest für das Auge!
Hier haben Chor und Kinderchor ihren großen und gelungenen Einsatz und Judy Berry als
Musette beweist einmal mehr ihre stimmlichen und schauspielerischen Diven-Qualitäten.
Puccinis musikalische Schilderung des Volkstreibens (Quintenparallelen im Orchester,
Chorstimmen schwirren durcheinander) ‚funktioniert' zwar auch mit dieser chaotische
Fest-Situation, die durch den Aufmarsch der zu den Waffen gerufenen Reservisten
abgebrochen wird, aber das ursprüngliche Pariser Flair bleibt besonders in dieser
unwirklich anmutenden Situation auf der Strecke.
(Zum Stichwort 'postmodernes Spektakel': Der nackte Kriegsgott, der bis zu diesem
Zeitpunkt als Tischdekoration fungiert, schwingt sich passend dazu in Angriffspose,
was Assoziationen zur NS-Ästhetik hervorruft.)
Im dritten, eiskalten Winter- Bild kommt die politische Situation etwas deutlicher zum Tragen:
Der Alltag während der Besetzungszeit erweist sich als trostlos. Passanten werden von
Uniformierten durchsucht, es ist dunkel, es schneit, auf einen Schneemann (übrigens
der einzige optische Mißgriff, denn er schreit formal nach der Aufschrift "Ich bin zwei
Öltanks"...) hat jemand mit roter Farbe der Sehnsucht nach ‚Liberté' Ausdruck verliehen.
Der Maler Marcello, temperamentvoll und stimmlich in großer Form gegeben von Adam Hollmann,
wohnt mit Musette nicht etwa in einer Schenke (1830), sondern in einem Cabaret (1942);
ein zweifelhaftes Leben, für das er sogar seine künstlerische Freiheit aufgibt. Rodolfo und
Mimi finden sich in dieser Szene wieder, Marcello und Musette liefern sich eine
Eifersuchtsszene, bei welcher Musette ihre individuelle Freiheit einfordert.
Das vierte Bild zeigt die Verhältnisse nach der Befreiung (1945). Die Mansarde von
Rodolfo und Marcello ist weiter, großzügiger geworden, Rodolfo arbeitet professionell,
beide sind 'anständig gekleidet', kommen aber nicht wirklich voran, weil sie ihren Geliebten
Mimi und Musette nachtrauern. Ein genialer ‚Dreh' (im wahren Wortsinn) des Bühnenbildners
Jean Bauer: Das Mansarden-Podest aus dem ersten Bild wird hier zum ‚Fallenbild' à la Daniel
Spoerri, indem es schlicht aus der Horizontale in die Vertikale gehängt wird. Die Tendenz
der unfreiwillig gereiften Bohèmiens, die ehemals beengten aber weniger von gesellschaftlichen
Konventionen beschnittenen Zeiten zu verklären, wird u.a. daran augenfällig.
Eine weitere Ebene der Beschränkung von Freiheit wird in diesem Schlußbild überdeutlich:
Krankheit, namentlich die Tuberkulose Mimis und der Beinbruch Schaunards (neu im Ensemble:
Erin Caves - man darf sich auf mehr von ihm freuen), dessen Gipsbein die Parole ‚Liberté'
ziert - verhindert die ersehnte Freiheit von allen Zwängen.
FAZIT:
Insgesamt eine überzeugende Ensemble-Leistung in einer zumindest intellektuell
nachvollziehbaren Inszenierung, die vom Premierenpublikum gefeiert wurde. Besonders
hevorzuheben ist die kongeniale Verknüpfung von musikalischer und optischer
Stimmungsschilderung (unabhängig von inhaltlichen Bezügen). Da womöglich auch die
Rezensentin tendenziell dazu neigt, Dinge zu verklären, vor allem aber, weil Puccinis
Musik sehr konkret eben davon erzählt: Das Pariser Flair fehlt !