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Dr. Ox's Experiment

Oper in zwei Akten
nach einer Erzählung von Jules Verne
Libretto von Blake Morrison
Musik von Gavin Bryars

in englischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Deutsche Erstaufführung am Theater Dortmund
am 24. Januar 1999

Von Stefan Schmöe / Fotos von Andrea Kremper



Meyerbeer verursacht sexuelle Orgie!

Irgendwo in Flandern gibt es ein Dorf namens Quiqendone, wo alles ganz langsam zugeht. Entscheidungen werden mit größter Bedachtsamkeit getroffen. Liebespaare warten geduldig und enthaltsam eine Zeit von 10 Jahren ab, bis sie heiraten. Streit gibt es nie, und eigentlich passiert überhaupt nichts in Quiqendone. Eine Oper wie Meyerbeers "Hugenotten" wird auf 5 Abende verteilt gespielt, denn mehr als ein Akt auf einmal wäre zu hektisch.

Quiqendone ist ein Dorf aus dem Märchen, und die Menschen, die dort leben, sind keine Individuen, sondern nur Verkörperungen der unendlichen Langsamkeit. Quiqendone könnte in den Abenteuern von Mickey Maus oder Donald Duck vorkommen: Ein Ort wie aus einem Comic mit Gestalten, die einem Comic entsprungen scheinen. Sie haben eine Musik, die zwischen Benjamin Britten, Phillip Glass und New Age angesiedelt ist, irgendwie geheimnisvoll, irgendwie beruhigend. Qualitäten gewinnt diese Musik vor allem da, wo sie sehr sorgfältig strukturiert ist: Etwa in einem Ensemble für 13 Stimmen, das die Ereignislosigkeit im Dorf beschreibt.

Für Dr. Ox ist Quiqendone ein Glücksfall. Dr. Ox ist Wissenschaftler, oder besser: eine Karikatur auf den Wissenschaftler. Mit seinem Assistenten Ygène schwebt er in einem merkwürdigen Fluggerät ein, als käme das Paar direkt aus der Muppet-Show. Mit einem neuartigen Gas will er das Bewußtsein der phlegmatischen Bevölkerung verändern, ungeahnte Emotionen wecken - und beweisen, das der Mensch den Gesetzen der Physik unterworfen ist.

Bei Meyerbeer passiert's: Das Gas, in den Zuschauerraum geleitet, treibt nicht nur die "Hugenotten" zum ungeahnten Presto, sondern auch das Publikum in Quiqendone zu sexueller Raserei. Das Publikum in Dortmund bleibt vergleichsweise gelassen, da die Musik Gavin Bryars' hier nicht hält, was der Text verspricht: Effektvolle Steigerungen sind nicht unbedingt Sache des englischen Komponisten. Die Szene verpufft. Es folgt ein elegischer Abgesang, irgendwie beruhigend.

Das Experiment funktioniert, und unter dem Einfluß des Gases ziehen die Bürger von Quiqendone in den Krieg. Zwischen die flämischen Häuschen, am Bühnenrand in Modellform und im Hintergrund als Scherenschnitt aufgereiht, hat sich ein Gaskessel geschlichen, und mit Gewehren und Knüppeln ziehen die Bürger über die Bühne. Solch hektisches Gebaren sprengt jedoch die Inszenierung, denn was Pascal Paul-Harang an stilisierter Langsamkeit mit glücklicher Hand inszeniert hat, ist weitaus überzeugender als der flotte, aber ziemlich platte Regiestil, der den zweiten Teil des Abends beherrscht. Dr. Ox hat eine bombige Idee: E = mc² in einen ballistischen Flugkörper gemalt, und gelöst sind alle Probleme der Quiqendone'schen Verteidigungspolitiker. Für uns lernwillig Betrachtende ist hier Wissenschaftskritik leicht faßbar gemacht.

Dann bekommt Assistent Ygène Skrupel und wirft die Handgranate: Bumm! Der Effekt ist mehr optisch denn akustisch, denn Gavin Bryars mag nun mal mehr das Beruhigende, und da paßt "Bumm!" nicht hinein. Dr. Ox liegt also mehr gemäß den szenischen Anweisungen denn Kraft instrumentaler Gewalt - das Philharmonische Orchester gibt satten philharmonischen Sound, wohlklingend und präzise, vielleicht die jazzigen Elemente zu wenig auskostend - tot am Boden. Schade, denn Norbert Schmittbergs Tenor setzte einige Akzente, den Wissenschaftler in die Nähe des Wagner'schen Mime rückend. Es folgt ein elegischer Abgesang, irgendwie beruhigend.

Das alte Phlegma ist wieder da, und vor Leichenbergen gibt es ein paar Überlebende. "Beinahe hätten wir uns gegenseitig und uns selbst verloren. Ich weiß, ich werde nie wieder die gleiche sein." Dies trägt die längst nicht mehr jungfräulich reine Suzel uns und der Menschheit und überhaupt als große weltumspannende Botschaft ins All. Das ist schön (und sowieso richtig), das ist vor allem schön gesungen, und unser Harmoniebedürfnis ist aufs Wundervollste befriedigt.

So entzieht sich das klanglich raffinierte Werk, das uns neben vielem sehr achtbar musiziertem anderen zwei (!) hörenswerte Countertenöre (Gerzon Luiz Sales, Jörg Erler) bietet, den Fährnissen unseres schnöden Alltags, der uns längst vor Gasometern hat resignieren lassen. Hübsch plakativ bunt, wie derzeit nur in Dortmund inszeniert wird, liefert Pascal Paul-Hering das geschmackvolle Endzeit-Szenario fürs Auge. Eine passable Oper hat der 1943 geborene Komponist geschrieben; aber der Stoff, der aufrüttelt, der das Publikum dem phlegmatischen Zuschauen entreißt: Damit hat Bryars seine eigene Musik wohl nicht gemeint.



FAZIT:

Irgendwie beruhigend.

Logo: Theater Dortmund

Musikalische Leitung
Alexander Rumpf

Inszenierung
Paul Pascal-Harang

Bühne
Heinz Balthes

Kostüme
Josè Manuel Vazquez

Licht
Andreas Rehfeld

Chor
Granville Walker


Solisten

Suzel
Astrid Kopp

Suzanne
Vera Fischer

Hermance
Susan Benkin

Frantz
Gerson Luis Sales

Fritz
Jörg Erler

Dr. Ox
Norbert Schmittberg

Ygène
Thomas de Vries

Van Trincasse
Andreas Becker

Frau Van Trincasse
Andrea Rieche

Passauf
Thomas Mehnert

Frau Passauf
Margarita Malevska

Niklausse
Michael Schmidberger

Frau Niklausse
Andrea Hiefinger

Ordibeck
Henry Ryall Lankaster

Frau Ordibeck
Sybille Specht

1. Mann
Thomas Günzler

2. Mann
Martin Müller-Görgner

3. Mann
Henry Ryall Lankaster

Teenager
Claire Colby-Hielscher

"Valentine"
Gundula Schneider

"Raoul"
Fredric Hellgren



Chor des Theater Dortmund
Das Philharmonische Orchester
Dortmund
Solo-Kontrabaß: Joachim Tirler




Weitere Aufführungen

Januar '99: 28.
Februar '99: 3., 19., 26.
März '99: 6.

Termine ab April liegen uns nicht vor.
Änderungen vorbehalten.



Szenenfoto

Mit flüssigen Gasen Emotionen wecken:
Dr. Ox (Norbert Schmittberg, r.) jubelt.
Assistent Ygène (Thomas de Vries)
bleibt skeptisch.



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