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Lucidor

Ballett
Choreographie: Youri Vàmos
Musik: Alexander Glasunow

Premiere an der Deutschen Oper am Rhein
in Düsseldorf am 20. März 1998


Von Monika Jost / Fotos von Eduard Straub



Düsseldorf: Lucidor Zwei Programmhefte liegen vor mir auf dem Schreibtisch: eines aus dem Opernhaus Dortmund vom 16. Oktober 1985 und das andere vom 20. März 1998 aus dem Opernhaus Düsseldorf - beide Male gab es "Lucidor" zu sehen, eine Erzählung von Hugo von Hofmannsthal choreographisch umgesetzt von Youri Vàmos. Fast zwölfeinhalb Jahre habe ich die Erinnerung an jenen Dortmunder Abend gehegt und gepflegt - meine Begeisterung damals war groß. Viele Elemente fügten sich stimmig ineinander, so die dramaturgische Umsetzung der Erzählvorlage, der Vermittlungsversuch jener Atmosphäre der Jahrhundertwende und nichtzuletzt jenes Lebensbegriffes, der für Hofmannsthal werk- und figurenbestimmend ist. Dieser Lebensbegriff ist gekennzeichnet durch Übergänge, Schwellenübertretungen und Entwicklungsstufen des Individuums im Rahmen seiner Gesellschaft. Der Wechselzustand von der Präexistenz zur Existenz war in Vàmos choreographischen Ausdrucksformen aufgefangen worden und in Bewegungen verlebendigt worden. Kurzum: "Lucidor" machte mich zum unwiderruflichen Vàmos-Anhänger. Wie sieht es heute aus, wo ich im März 1998 mit einer nachhallenden Erinnerungsbegeisterung mich nach Düsseldorf aufmache, um wiederum Joyce Cuoco in der Titelrolle jenen changierenden Typus zwischen Mann und Frau, Jugendlichem und Erwachsenem darstellen zu sehen?

Düsseldorf: Lucidor Hugo von Hofmannsthals Erzählung "Lucidor" dient Vàmos als Vorlage zu einem dreiaktigen abendfüllenden Handlungsballett. Der Stoff - ursprünglich auf ein Lustspiel von Molière zurückgehend - ist im Bereich der Verkleidungskomödie angesiedelt. Gerade aber dieser komödiantische Aspekt verwandelt sich in handfeste Tragik: Von zwei Schwestern wird die Jüngere Lucile seit Kindesbeinen aus Gründen einer vertrackten Bestimmung der Erbschaftsfolge von der Mutter als der Junge Lucidor gekleidet und erzogen. Problematisch wird die Situation in der Zeit, in der beide den Wechsel vom Jugend- zum Erwachsenenalter auf dem Wege von Freundschaften und beginnenden Liebesbeziehungen erfahren. Arabella, die ältere Tochter, wird, obwohl ihr Herz Adrian gehört, von Wladimir umworben, der engste Freund und Vertraute Lucidors, der wiederum mehr als nur die nach außen gezeigte Jungen-Freundschaft für ihn hegt, sondern verborgen als heranwachsen Frau für ihn zu empfinden beginnt. Lucidor zettelt einen geheimzuhaltenden, im Namen ihrer Schwester Arabella unterschriebenen Briefkontakt zu Wladimir an, der die Empfindungen Luciles preisgibt und wiederum Wladimir mit zwei völlig unterschiedlich reagierenden "Arabellen" konfrontiert: Des Tags die abweisende tatsächliche Arabella und in der Nacht die hingebende unerkannte Lucile. Es kommt der Zeitpunkt, an dem Wladimir die Spannung nicht mehr erträgt und die Briefe Arabella vorzeigt, worauf sie, um den Gesellschaftsbetrug weiterhin zu decken, in eine Heirat mit ihm einwilligt. Doch erst nach der Hochzeit folgt dieser scheinbaren Klärung die tatsächliche durch Lucidor/Lucile. Wladimirs Gefühle sind verwirrt und er bekennt sich zu spät für die geliebte Frau, die allein im Freitod einen Ausweg aus dem privaten und gesellschaftlichen Drama fand.

Düsseldorf: Lucidor

"Es sind die 'seltsamen Umstände', diese seelischen Ausnahmezustände, die mich an der Geschichte berühren. Ich habe versucht sie wiederzugeben - in meiner Sprache, in der Sprache des Balletts." (Vàmos)
Zwei Nacht-Szenen von Traum (I,3) und Wirklichkeit (II,5) benutzt Vàmos, um diesen "seelischen Ausnahmezuständen" ausgereiften tänzerischen Ausdruck zu verleihen in freien Formen des Pas de deux. Die Umschlingungen, Öffnungen und Wiederverschlingungen, die das zweite Pas de deux motivisch einleiten und strukturieren hätten - übertragen ins Reich der Töne - das Zeug dazu, auf den Straßen gepfiffen zu werden. Doch zu ihrem Glück verbleiben sie im stummen Bereich tänzerischen Ausdrucks der Seele; so auch bruchstückhaft und unerwidert in der Kombination von Wladimir und Arabella nach ihrer Hochzeit. Zwischen Wladimir und Lucidor dagegen fügen sich Tanzelemente und -formen schon in den jeweils ersten Teilen der Pas de deux zusammen, auch wenn zunächst noch eine räumliche Trennung in der Szene deutlich wird.

Düsseldorf: Lucidor Prachtvoll zeigt sich der Anblick des Fiaker-Balls: Szenenapplaus bevor überhaupt ein Schritt getan wird! Hier liegt auch einer der liebenswertesten Stärken des Choreographen. Sein Fingerstpitzengefühl für schwungvolle Corps-Choreographien in Großformen und Detailarbeiten ist bezeichned und hat über die Jahre hinweg nicht an Eindruckskraft verloren. Es sieht nach unendlichem Spaß aus, solche Gruppenchoreographien zu tanzen!

Eine Anmerkung in eigener Sache: Warum erhalten KritikerInnen bei Tanzvorführungen grundsätzlich Karten im Parkett? Ein erster Rang wäre, wie z. B. in diesem Fall, viel sinnvoller.

Düsseldorf: Lucidor Als Szene von großer Intensität zeigt sich das 6. Bild des III. Aktes: Im halbdunklen Hintergrund versammeln sich an einem Bridge-Tisch die Hauptdarsteller um dann nacheinander für kurze Momente ihre Plätze zu verlassen und im Bühnenvordergrund offen darzulegen, wie Gedanken und Seele arbeiten. Glasunows Quartett op. 15 gibt hierzu die klaren Bezugspunkte für Bewegungsfindung an.

Insgesamt überzeugen Solisten und Ensemble in ihren darstellerischen und tänzerischen Leistungen. Eine brillante Einlage gaben Roberta Mazzoni und Christopher Akrill als Königspaar des Fiakerballs. Düsseldorf: Lucidor Jochen Schmidt beschreibt "Lucidor" in seinem Programmheftartikel mit einem Selbstzitat aus dem Uraufführungsjahr 1985 als "in sich stimmig und logisch und vermutlich repertoirefähig [...]; ein außerordentliches Tanzstück, das einerseits die traditionellen Ansprüche des Genres voll erfüllt, andererseits aber die meisten der Ungereimtheiten vermeidet, mit denen die Stücke dieser Art sonst aufwarten." Ich würde dies unterschreiben, frage trotzdem, ob - wie Schmidt weiter lediglich bestätigend schreibt - "auch aus der Distanz von elf Jahren nichts hinzuzufügen" ist?

Es stellt sich die Frage nach einer 'Halbwertzeit' von sinntragendem und vermittelndem Bewegungsvokabular. Die Zuschaueraugen können sich heutzutage schon bewußt auf andere Ausdrucksformen und Kontextbrechungen im Bereich handlungsgebundener Tanzsprache lenken lassen, beispielsweise Mats Eks "Carmen" vom Beginn der 90er Jahre, das ebenfalls momentan im Repertoire der Ballettcompagnie zu sehen ist. Ein bißchen wehmütig-unverständlich, zumindest nachdenklich stimmend, ist mir meine eigene Erinnerung an die grenzenlose Begeisterung von 1985 schon geworden - gewissermaßen ein Bambi-Effekt im Erwachsenenalter. Was man mit Kinderaugen innig geliebt hat, beurteilt die Jugend nüchterner - trotzdem bleibt zum Glück meistens eine gute Portion nicht verdrängbarer "Restliebe" bestehen.

FAZIT:

TIP: EMPFEHLENSWERT, da das Ballett SEHENSWERT (geblieben) ist!

Logo: Deutsche Oper am Rhein

Musikalische Leitung
Kevin Rhodes

Inszenierung und Choreographie
Youri Vàmos

Einstudierung
Joyce Cuoco
Uwe Schröter

Bühne und Kostüme
Michael Scott

Licht
Klaus Gärditz


Solisten

Lucile - Lucidor
Joyce Cuoco

Wladimir
Guy Albouy

Frau von Murska
Barbara Korge

Notar
Spencer Soloman

Arabella
Marina Antonova

Fiaker-Ballkönigin
Roberta Mazzoni

Fiaker-Ballkönig
Christopher Akrill



Die Düsseldorfer Symphoniker

Klavier: Jozef Czarnik




Weitere Aufführungen

März '98: 22., 25., 28.
April '98: 03., 04., 13., 15., 26.
Juni '98: 29.


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