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Gigantische Veilchen im Abglanz des Imperiums
Vor wenigen Tagen ist die Essener Philharmonie vom Deutschen Musikverleger-Verband für das beste Konzertprogramm der Saison ausgezeichnet worden. Besonders die kleine, aber feine Konzertreihe YOUrope together spielt in der Begründung der Preisvergabe eine wesentliche Rolle. Alle Länder Europas nacheinander präsentieren sich hier mit neuer und neuester Musik. Für Neugierige gab es jetzt auch beim Italien-Konzert sehr viel zu entdecken. Vielleicht war es eines der qualitativ besten Konzerte dieser Reihe. Das lag nicht nur an den Kompositionen, sondern auch an dem hervorragend konzentriert spielenden Ensemble Alter Ego. Dass es dem Pianisten Oscar Pizzo in Valerio Sannicandros Stück Odi di Levante (Levantinische Oden) ein wenig die Notenblätter durcheinander wirbelte, fiel dabei nicht ins Gewicht. Das Ensemble begann das Stück gleich drei Mal. Dreifache Gelegenheit, die Klangschönheit und Präzision von Alter Ego zu bewundern. Sannicandros Oden des Levante (Levante ist der italienische Ausdruck für Sonnenaufgang, bezeichnet aber auch die östlichen Länder des Mittelmeers) ist ein Stück, dass man als romantisch avantgardistisch bezeichnen könnte. Die Auftragskomposition des Deutschlandfunks und der Philharmonie ist wunderbar poetisch: Zwei Nachtstücke (Notturni) rahmen drei Binnensätze, die den Sternen des Orion zugeordnet sind. Wer genau hinhört, kann die Unendlichkeit des Weltalls entdecken: In einer Art akustischem Ewigkeitshintergrund von liegenden, statischen Streichertönen, auf die die drei Binnenteile quasi aufgesetzt sind. Der Pianist Oscar Pizzo greift in den Flügel und produziert in Kombination mit dem Tastenanschlag gedämpfte Klänge, die an die mystischen Stücke von George Crumb erinnern. Die andere Uraufführung des Abends war das Cello-Solo Doppeltes Bild von Luca Francesconi, ein klingender Name in der zeitgenössischen italienischen Musik, dem man auch auf Märkten wie den Wittener Tagen begegnet. Wie das so ist bei Werken, die erst kurz vor dem Konzert fertig werden: Der Komponist entschied sich, sein Stück von Unexpected End nach Doppio Imagine umzutaufen. Vielleicht wird es einmal zu den großen Solostücken der Cellisten zählen und in das Repertoire eingehen: Es ist wirkungsvoll, hoch virtuos und macht dennoch keine Konzessionen an ein Publikum, das Traditionelles erwartet. Francesco Dillon meisterte temperamentvoll die beiden stark kontrastierenden Teile von Doppio Imagine, die flötenden, flüsternden, gebrochenen Flageoletts einerseits und deren temperamentvolles Gegenbild, ein kräftig gestrichenes Solo andererseits. Zwei Stücke nutzten die Möglichkeiten elektronischer Musik. In La Violette Geante (Das gigantische Veilchen) von Lucia Ronchetti tritt Manuel Zurria mit seiner Bassflöte gegen ein Tonband an, das dumpfes Dröhnen und Sprachfetzen von sich gibt. Inspiriert wurde das Veilchen von den Werken des Schweizer Schriftstellers und Malers Adolf Wölfli, der dreißig Jahre Insasse einer psychatrischen Klinik war und während dieser Zeit unzählige Kunstwerke produziert hat. Wurden bei den Tonaufnahmen Texte von Wölfli verwendet und verfremdet? Es klingt fast so. Geradezu witzig ist Emanuele Casales 5 (die Fünf bezeichnet hier ganz nüchtern das fünfte Stück einer Werkreihe) für Flöte Klarinette und Tonband: Ein buntes Durcheinander von ploppenden, tropfenden elektronischen Klängen. Manuel Zurria gab alles an der Flöte, genau wie sein Partner Paolo Ravaglia. Wirklich schwach war keines der insgesamt eher kurzen Stücke dieses Abends. Der italienische Titel von Marcello Pannis Achilles und die Schildkröte wollte dem Moderator und Initiator von YOUrope Together, Markus Stollenwerk, nicht über die Lippen. Das Stück basiert auf dem berühmten Paradoxon des griechischen Philosophen Zenon von Elea. Das autobiographische Stück Manhattan Bridge: 4:30 a.m. hat Martino Traversa noch in diesem Jahr vollendet. Und hier kommen wir wieder auf umher stiebende Notenblätter zurück. Auf der Manhattan Bridge soll dem Komponisten ein Windstoß in die Partituren gefahren sein und die Idee zum Stück freigesetzt haben. Oscar Pizzo hat am Klavier wohl den schwersten Job des Abends. Der Sonntag in den Randgebieten des Imperiums (Domeniche alla periferia dell'impero) erschien fast als ein zarter, avantgardistischer Reflex auf Ottorino Respighis bombastische, römische Tondichtungen. Mit einiger Fantasie hört man hier Vögel zwitschern, man assoziiert flirrende Gluthitze auf altem Stein, untergegangene Pracht, die nur als Schatten noch präsent ist. Stücke wie von Romitelli, der leider viel zu früh an einem schweren Krebsleiden verstorben ist, zeigen, wo Neue Musik am spannendsten ist: Wenn sie nicht Kompositionsformeln durchexerziert, sondern Assoziationen freizusetzen vermag. Besonders italienischer Neue Musik scheint dazu im höchsten Maße in der Lage zu sein.
Das Italien-Konzert war eines der qualitätvollsten in der Konzertreihe YOUrope together der Essener Philharmonie
Der DLF hat das Italien-Konzert aufgezeichnet, am 14. Juni 2008 wird es
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Ensemble Alter Ego: Manuel Zurria, (Flöte) Aldo Campagnari (Violine) Francesco Dillon (Violoncello) Oscar Pizzo (Klavier) Sowie: Konrad von Coelln (Viola) Valerio Sannicandro, Dirigent Markus Stollenwerk, Moderation Fausto Romitelli (1963-2004) Domeniche alla periferia dell'impero (1995) Für Bassflöte, Bassklarinette, Violine und Violoncello Lucia Ronchetti (*1963) La Violette Geante (1999) Für Bassflöte und Tonband Martino Traversa (*1960) Manhattan Bridge: 4:30 a.m. (2008) Für Flöte, Klarinette, Violine, Violoncello und Klavier Marcello Panni (*1940) Achilles und die Schildkröte (2008) Für Pikkoloflöte, Klarinette, Violine, Violoncello und Klavier Luca Francesconi (*1956) Doppio Imagine (2008) für Violoncello solo (UA) Emanuele Casale (*1974) 5 (2001) für Flöte, Klarinette und Tonband Valerio Sannicandro (*1971) Odi di Levante (2008) Für Flöte, Klarinette, Violine, Viola, Violoncello und Klavier (2008) (UA, Auftragskomposition des DLF und der Philharmonie Essen)
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