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Die Macht des fünften Evangelisten
Von Christoph Wurzel Zu den Musiken, die traditionell an bestimmte Gelegenheiten des Jahreskreises gebunden sind, gehören in erster Linie die oratorischen Kompositionen des Thomaskantors, sind sie doch auch eben für diesen Zweck entstanden. Die Passionsmusik nach dem Matthäusevangelium erklang zum ersten Mal (je nach den Überlieferungen) am Karfreitag des Jahres 1727 oder 1729. Bach hat sie wohl danach noch zweimal (1736 und 1742) aufgeführt. Danach waren allenfalls Bruchstücke hier und da in kleinen privaten Zirkeln zu hören, bis Felix Mendelssohn die Partitur mit einer Aufführung (in freilich gekürzten Fassung) am Karfreitag des Jahres 1829 wieder der Vergessenheit entriss. Wegen seiner theologischen Bedeutung gehört dieses Werk bis in die heutige Zeit zum eisernen Bestand der Sakralmusik. Wegen seiner seelisch unmittelbar erschütternden Wirkung zählt es darüber hinaus zu den herausragenden Dokumenten des musikalischen Weltkulturerbes. Schon unter Mendelssohns Leitung war die Passion aus dem liturgischen Kontext herausgelöst und im Leipziger Gewandhaus aufgeführt worden. In heutiger Zeit konkurrieren Kirche und Konzertsaal um dieses Werk und Ausführende wie Publikum mögen sich dazwischen nicht für den "besseren Weg" entscheiden. Dass diese Musik mit ihren christlich-meditativen Glaubensinhalten am sakralen Ort eine besonders intensive Wirkung entfaltet, dürfte jeder schon erfahren haben, der eine solche Aufführung einmal erlebt hat. Doch auch im neutralen Ambiente eines Konzertsaals kann der "fünfte Evangelist", als welcher Bach ja vielen gilt, seine Zuhörer auf besondere Weise ergreifen. Sogar über jede persönliche Form von Frömmigkeit und Gläubigkeit hinaus vermögen Musik und Text mit ihren Chiffren der conditio humana den heutigen Menschen anzurühren, mag er in dieser säkularisierten Welt auch von der selbstverständlichen Glaubensgewissheit eines Johann Sebastian Bach noch so weit entfernt sein. Zur schönen Tradition im Festspielhaus Baden-Baden zählt es, jährlich am Karfreitag eine der Bachschen Passionen aufführen zu lassen. In diesem Jahr war der Organist und Dirigent Martin Haselböck mit Solisten und mehreren Ensembles zu Gast und hatte sich für eine in der Aufführungspraxis recht authentische Darbietung entschieden. Denn genau wie Bach es auch konzipiert hat, wurde das Werk in streng doppelchöriger Anlage musiziert: Der Chor war zweigeteilt, zwei Orchesterensembles mit historischen Instrumenten waren getrennt postiert und auch die Cantus-firmus-Knaben waren extra (seitlich auf der Empore) aufgestellt. Wenigstens die kleineren Partien wurden von Chorsolisten gesungen und die Continuo-Gruppe bildete eine eigene Einheit. Auch die Zahl der Ausführenden dürfte in etwa derjenigen entsprochen haben, die Bach in Leipzig zur Verfügung hatte. Allerdings waren die Hauptrollen mit "erwachsenen" Stimmen besetzt und auch die beiden Chöre waren aus Frauen- und Männerstimmen gemischt. Ansonsten konnte man aber eine historisch durchaus verlässliche Aufführung erleben, die allerdings gar nicht streng, akademisch oder trocken daherkam, sondern den dramatischen Impuls der Komposition aufnahm, ohne die liturgisch gebotene Zurückhaltung aufzugeben, aber auch ohne die affektive Beteiligung besonders in den Arien zu vernachlässigen. Ein goldener Mittelweg wurde also beschritten, was die Wirkungsmacht dieses Werkes besonders zu entfalten vermochte. Sichtlich und hörbar ist Martin Haselböck mit beiden Instrumentalensembles eng vertraut - mit der "Wiener Akademie" und dem aus Los Angeles angereisten "Musica Angelica Baroque Orchestra", die beide von ihm künstlerisch geleitet werden. Die hohe Spielkultur beider Orchester wurde noch unterstrichen durch die herausragenden Leistungen der Instrumentalsolisten in den obligat begleiteten Arien, etwa den klangschön spielenden Bläsern, den präzisen Violinen und der warm intonierenden Gambe. Haselböck formte besonders das Agitato der handlungstragenden Chorstellen lebhaft aus. Die Choräle dagegen nahm er meist zurückhaltender, doch zügig und ohne Pathos. Der bestens disponierte Chor entfaltete große Kraft, ließ aber die vier Aurelius - Sängerknaben trotz ihrer exponierten Stellung nicht genügend durchdringen. Das Sängerensemble erwies sich als etwas uneinheitlich. Vor allem konnte Andreas Karasiak in der fordernden Rolle des Evangelisten beeindrucken, der die Gratwanderung zwischen Berichtston und innerer Beteiligung hervorragend meisterte. Der amerikanischen Sänger Stephan Salters gestaltete die Jesusworte makellos in der Diktion und verhalten expressiv mit schönem Basstimbre. Solide führten der Altus Robin Blaze, der Tenor Mark Bleeke (wenngleich in der heiklen Arie Nr. 35 "Geduld..." auch etwas mühevoll) und der Bass Klaus Mertens ihre Parts aus. Lynne Dawson blieb in den Sopranarien ein wenig hinter den Erwartungen zurück. Ihrer Stimme mangelte es an Wärme und in der mittleren und tiefen Lage an Volumen. Markant machten sich die Chorsolisten in den kleinen Partien der Mägde und Zeugen, des Petrus, Judas und Weib des Pilatus bemerkbar.
Alles in allem eine Aufführung, welche die Kraft von Bachs Musik entfaltete und am Karfreitag einen würdigen Akzent zu setzen vermochte. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Aurelius Sängerknaben Calw Einstudierung: Johannes Sorg Chorus sine nomine Einstudierung: Johannes Hiemetsberger Wiener Akademie Musica Angelica Baroque Orchestra Dirigent: Martin Haselböck Solisten: Evangelist Andreas Karasiak
Sopran
Altus
Tenor
Jesus
Bass
Petrus
1. Magd
2. Magd
Judas
1. Zeuge
2. Zeuge
1. Priester
2. Priester
Weib des Pilatus
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