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Ergriffenheit, die von innen kommt Helmut Rilling und die Matthäuspassion
Von Christoph Wurzel
Dem konservativen Leipziger Konsistorium haben wir die zwei außergewöhnlichsten und wohl zugleich größten unter den sakralen Werken zu verdanken: die beiden (erhaltenen) Passionsmusiken nach dem Johannes- und dem Matthäus- Evangelium von Johann Sebastian Bach. Denn im Gegensatz zu den seinerzeit allseits beliebten Passionsoratorien, in denen dem Publikum das biblische Geschehen in freier Dichtung und in opernhafter musikalischer Gestaltung meist im Konzertsaal präsentiert wurde, haben Bach und der Textdichter Christian Friedrich Henrici, genannt Picander, in einer einzigartigen Verbindung von Evangelientext, überlieferten Gemeindechorälen und das biblische Geschehen reflektierenden Gedichten Werke geschaffen, die als Bausteine der Liturgie im Karfreitags - Gottesdienst Verwendung finden konnten, so wie es eben das gestrenge Konsistorium vorschrieb. So gesehen sind Bachs große Passionen also Gebrauchsmusik, wenn auch von einer Qualität, die alles in den Schatten stellt, was man sonst unter diesen Begriff subsummiert.
Die ursprüngliche Einbettung in die Liturgie des höchsten evangelischen Feiertages ist auch heute noch der Maßstab, an dem sich jede Interpretation messen lassen muss. Zwar werden die Passionen in der heutigen säkularen Gesellschaft selbstverständlich auch vielfach als reine Konzertveranstaltungen geboten, wie jüngst die Matthäuspassion im Baden - Badener Festspielhaus, so bleibt ihr Wesen dennoch vornehmlich auf eine religiöse oder mindestens spirituelle Erfahrung gerichtet und obwohl Text und Musik von gewaltigen dramatischen Begebenheiten berichten und die entsprechenden Gefühle evozieren, so sind Bachs Passionen dennoch weit entfernt von der Oper, sondern bewahren einen erzählenden Gestus. Die Befürchtung einer Zeitgenossin aus dem Jahre 1729 sollte sich demnach nicht bewahrheiten: "Behüt`s Gott! Ist`s doch, als ob man in einer Opera - Comödie wäre!"
Wie man diesbezüglich den Geist Bachs verkennen kann, konnten Fernsehzuschauer am Karsamstag in ARTE verfolgen, als - in diesem Fall- die Johannespassion in einer vor aufgesetztem Leidenspathos nur so triefenden Aufführung unter Simon Rattle aus Berlin übertragen wurde. Ob im Evangelisten - Bericht, in den Arien oder den Chören: das ganze Werk wurde opernhaft so aufgebläht, dass man sich unwillkürlich fragte, ob diese Aufführungspraxis mehr der Eitelkeit der Interpreten oder dem Werk als solchem gelten mochte.
Wie auch immer: Die Aufführung durch Helmut Rilling, die Gächinger Kantorei und das Bach - Collegium Stuttgart mit samt den hervorragenden Solisten war derartiger Äußerlichkeiten völlig bar und schuf eine Ergriffenheit, die ganz von innen, ganz aus dem Werk, aus Text und Musik gleichermaßen, erwuchs und das Publikum auch ohne den kirchlichen Kontext zu bewegen vermochte.
Die durchaus auf dramatische Wirkung zielende Anlage der Passion, die nicht unwesentlich durch deren Doppelchörigkeit hervorgerufen wird, wurde schon durch die Aufstellung von Chor und Orchester unterstrichen. Die dialogische Spannung der beiden Fraktionen kam so ganz plastisch zum Tragen. Die Gächinger Kantorei, vor 50 Jahren von Rilling gegründet und mit Bachs Werken durch eine intensive Aufführungspraxis bestens vertraut, zeigte sich außergewöhnlich flexibel und prägte den Charakter der Chor- Partien aufs Deutlichste aus: dramatisch - präsent die turbae - Passagen und gemessen introspektiv die Choräle.
Das Orchester vermittelte mit im Wesentlichen modernen Instrumenten nicht nur technisch, sondern auch im Ausdruck den Eindruck von höchster Authentizität. Die obligaten Soli - Begleitungen der Arien waren von höchster Qualität, erlesen in der Technik, ergreifend im Ausdruck.
Besonders aber die Solisten bestachen durch einen fast schon hingebungsvollen Dienst an der Musik. Vom ersten Ton an beeindruckte Marcus Ullmann als äußerst wandlungsfähiger Gestalter der Rolle des Evangelisten: von der trockenen Berichtsdiktion, über die geheimnisvolle Erzählrede bis hin zur hochdramatischen Gestaltung der Leidensgeschichte Jesu reichte die Palette seiner vielfältigen Stimmfärbungen.
Von den Zeitgenossen wenig beachtet, von den unmittelbaren Nachfolgern vergessen wurde Bachs opus summum bekanntlich von Mendelssohn wieder entdeckt und von dem gerade mal 20Jährigen mit großem Erfolg nach rund 100 Jahren wieder aufgeführt. Seitdem hat die Matthäuspassion vielerlei Aufführungsweisen erlebt - bis hin zu der spektakulären Ballettversion John Neumeiers. Zwischen der sehr romantisch angelegten Auffassung eines Karl Richter (in den Sechziger Jahren) und der bisweilen trocken akademischen der sog. Historischen Aufführungspraxis nimmt Helmut Rilling eine Mittelposition ein. Mir scheint, es ist eine sehr werkgerechte Verwirklichung des komplexen Gefüges dieses überwältigenden musikalischen Kunstwerks.
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Programm:Johann Sebastian Bach Matthäuspassion BWV 244 Sibylla Rubens, Sopran Ingeborg Danz, Alt Marcus Ullmann, Tenor (Evangelist) Thomas Cooley, Tenor (Arien) Michael Volle, Bass (Christus) Rudolf Rosen, Bass (Arien) Gächinger Kantorei Bach - Collegium Stuttgart Leitung: Helmut Rilling unser CD-Tipp: Bach: Matthäus - Passion Oelze, Danz, Schade, Goerne, Quasthoff Gächinger Kantorei Bach - Collegium Stuttgart Leitung. Helmut Rilling Erschienen 1994 Hänssler - Edition Bachakademie CD 92.074
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