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Musikfestspiele
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Ruhrfestspiele Recklinghausen
01.05.2017 - 18.06.2017

Der Sandmann

Stück von E. T. A. Hoffmann in einer Adaption von Robert Wilson
Musik und Songtexte von Anna Calvi

Aufführungsdauer: ca. 2 h 20' (eine Pause)

Koproduktion mit dem Düsseldorfer Schauspielhaus und Unlimited Performing Arts

Premiere im Großen Ruhrfestspielhaus Recklinghausen am 3. Mai 2017

 

 

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Die Macht der Augen

Von Thomas Molke / Fotos: © Lucie Jansch

E. T. A. Hoffmanns 1816 erschienenes Schauermärchen Der Sandmann erfreut sich heute noch vor allem in der Olympia-Episode von Offenbachs Oper Les Contes d'Hoffmann großer Bekanntheit. Dabei ist es gerade die Vielzahl der Deutungsansätze, die diese als erste Erzählung in dem Zyklus Nachstücke herausgegebene Geschichte so bedeutend und interessant gemacht hat. So verwundert es nicht, dass Robert Wilson, der vielen durch seine Freischütz-Adaption The Black Rider zur Musik von Tom Waits ein Begriff sein dürfte, sich gerade für diesen Text interessiert und ihn in einen Theaterabend umwandelt, mit dem die diesjährigen Ruhrfestspiele Recklinghausen im Ruhrfestspielhaus eröffnet werden und zu dem die britische Songwriterin und Gitarristin Anna Calvi die Musik beigesteuert hat, deren dramatisch-elektronischen Klänge den morbiden Charakter der Geschichte treffend einfangen.

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Nathanael (Christian Friedel, links) überrascht seinen Vater (Rainer Philippi, rechts) und Coppelius (Andreas Grothgar, Mitte) bei deren Experimenten.

Wilsons Fassung orientiert sich eng an der literarischen Vorlage. Darin benutzt Nathanaels Mutter den Sandmann als dämonisches Wesen, das angeblich am Abend kommt, um den unartigen Kindern so lange Sand in die Augen zu streuen, bis sie ihnen blutig aus dem Kopf herausspringen. Damit will sie ihren Sohn überzeugen, ohne Widerworte ins Bett zu gehen, wenn der Vater den alten Advokaten Coppelius empfängt und gemeinsam mit ihm alchemistische Experimente durchführt. Als Nathanael eines Abends die beiden dabei beobachtet und von Coppelius entdeckt wird, droht dieser ihm, die Augen herauszureißen, wenn er sich noch einmal abends in die Stube schleichen sollte. Völlig verstört bleibt der Junge fortan in seinem Zimmer. Kurz darauf kommt der Vater bei einer Explosion ums Leben. Nathanael macht den Sandmann für den Tod seines Vaters verantwortlich, scheint jedoch in den folgenden Jahren dieses Trauma verarbeitet zu haben, bis er plötzlich auf den Wetterglashändler Coppola trifft, der dem alten Coppelius sehr ähnlich sieht. Entsetzt stößt Nathanael den alten Mann die Treppe herunter und schildert seiner Braut Clara und deren Bruder von seinen Kindheitserlebnissen. Diese halten den Sandmann für ein Hirngespinst, und es kommt zum Streit. Bei einem Feuer verliert Nathanael seine Wohnung und findet eine neue Unterkunft in der Nähe des Professors Spalanzani. Dieser hat gemeinsam mit Coppola eine wunderschöne Puppe konstruiert, die er als seine Tochter Olimpia ausgibt. Nathanael beobachtet sie durch ein Glas, das er Coppola abgekauft hat, und verliebt sich unsterblich in sie. Als Coppola und Spalanzani im Streit die Puppe zerstören, verfällt Nathanael dem Wahnsinn. Nach seiner Genesung steigt er mit Clara auf den Rathausturm. Erneut erscheint ihm Coppelius, und Nathanael will in seinem Wahn Clara vom Turm herabstürzen. Im letzten Moment kann Lothar seine Schwester retten. Doch für Nathanael kommt jede Hilfe zu spät. Er stürzt sich in den Tod und erblickt zum letzten Mal Coppelius, der über Nathanaels Tod triumphiert.

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Nathanael (Christian Friedel, Mitte) erholt sich im Kreis seiner Freunde (links: Siegmund (Alexej Lochmann) und Mutter (Rosa Enskat), rechts: Lothar (Jonas Friedrich Leonhardi) und Clara (Lou Strenger)).

Wilson interessiert in seiner Inszenierung vor allem das Augen-Motiv, und dabei entfaltet er ein visuelles Erlebnis der besonderen Art. Besonders hervorzuheben ist die großartige Beleuchtung, die die Figuren durch kontrastreiche Farben voneinander abhebt und dadurch eindrucksvolle Bilder entstehen lässt. So tauchen wie von Zauberhand einzelne Figuren aus dem schwarzen Nichts auf der Bühne auf und verschwinden genauso schnell, wie sie gekommen sind. Manchmal werden dabei sogar nur einzelne Körperteile sichtbar. Nach dem Tod des Vaters sieht man Nathanael beispielsweise in blutrotem Licht, wobei er im nächsten Bild auf eine rote Hand reduziert wird. Auch die Szene auf dem Rathausturm erlangt durch das Lichtdesign eine unheimliche Note. Clara und Nathanael werden zunächst allein auf dem Rathausturm gezeigt, bis plötzlich ein weiterer Lichtstrahl Coppelius einfängt. Während Nathanael anschließend versucht, seine Braut vom Turm zu stürzen, werden die beiden in rotes Licht getaucht. Der neben ihnen stehende Siegmund wird in hellem Licht scharf abgegrenzt, um ihn in der realen Welt zu verankern und deutlich von Nathanaels Wahnvorstellungen abzuheben.

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Spalanzani (Konstantin Lindhorst, rechts) und Coppola (Andreas Grothgar, links) streiten um Olimpia (Yi-An Chen).

Das Feuer, in dem Nathanaels Vater bei einem Unfall den Tod findet und das Nathanael immer mehr in den Wahnsinn treibt, findet sich auch in Nathanaels roter Haarfarbe und Frisur wieder, die selbst an eine lodernde Flamme erinnert. Auch bei Lothar, Nathanaels Vater und Siegmund wird in der Frisur die Flammenidee aufgegriffen, während die Frisuren bei der Mutter und Olimpia nur unnatürlich nach oben geführt werden. Einzig der Sandmann und Coppelius / Coppola haben lange herabhängende graue Haare und erhalten dadurch unheimliche Züge. Betont wird bei allen Figuren die Künstlichkeit durch grelles Make-up, die die Augen noch einmal besonders hervorheben. Absolut künstlich wirken auch die gesprochenen Texte. Hier werden einzelne Phrasen häufig wiederholt, als ob die Figuren auf der Suche nach dem richtigen Tonfall wären. Das nervt bisweilen, ist aber Teil des Konzeptes.

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Nathanael (Christian Friedel) will Clara (Lou Strenger) vom Rathausturm stürzen (rechts hinten: Siegmund (Alexej Lochmann)).

Anna Calvis Musik spielt mit unterschiedlichen Richtungen und fängt mit teils starken Schwankungen in der Lautstärke Nathanaels Gefühlschaos nachvollziehbar ein. Wenn das Publikum den Saal betritt sieht man bereits drei Gestalten auf der Bühne. Auf der rechten Seite steht Olimpia in ihrer künstlichen Schönheit. Spalanzani blickt etwas missmutig ins Publikum, während auf der linken Seite Nathanael in einem hohen Bett schläft und teils von Alpträumen gequält wird. Dabei unterbricht er die Spieldosen-Musik durch grelle Schreie. Die liebliche Musik wird in der Olimpia-Szene nach der Pause wieder aufgegriffen. Wenn Olimpia der Gesellschaft vorgestellt wird, ist die Harmonie in der Szene so trügerisch wie in der berühmten Arie bei Offenbach. Nahezu komisch mutet die folgende Szene zwischen Nathanael und Olimpia an, in der der schwärmerische junge Mann sie mit Komplimenten überschüttet, die sie alle nur mit einem wortkargen "Ach" erwidert. Wenn dann im Anschluss mit einer Maschine Olimpia die magischen Augen aus dem Kopf gebohrt werden, und die Augäpfel aus dem Schnürboden herabfallen und an unsichtbaren Stangen über dem Boden schweben, wirkt das absolut schaurig. Das spielfreudige Ensemble setzt Wilsons Konzept punktgenau um und verschmilzt mit dem Lichtkonzept zu einer Einheit. Hervorzuheben ist die Szene des Wohnungsbrandes, in der der Sandmann durch einen schwarzen Raum läuft, während lodernde Flammen auf ihn projiziert werden. Christian Friedel spielt den aufkeimenden Wahnsinn Nathanaels überzeugend aus und überzeugt auch musikalisch in seinen Songs mit variabler Stimmführung. So gibt es am Ende großen Jubel für alle Beteiligten.

FAZIT

Robert Wilson bietet mit seiner Sandmann-Adaption bildgewaltiges Theater, das vor allem durch ein grandioses Licht-Design besticht.

Weitere Rezensionen zu den Ruhrfestspielen Recklinghausen 2017

 

Produktionsteam

Regie, Bühne und Licht
Robert Wilson

Musikalische Leitung
Jherek Bischoff

Kostüme
Jacques Reynaud

Video
Tomasz Jeziorski

Dramaturgie
Janine Ortiz



 

Violine, Keyboard
Zuzana Leharová

Viola
Radek Stawarz

Cello
Nathan Bontrager

Kontrabass, E-Bass
Bernd Keul

Klarinette, Bassklarinette
Annette Maye

Tuba, Posaune
Achim Fink

Gitarre, Mandoline
Roger Schaffrath

Schlagzeug, Electronics
Tim Dudek

Sounddesign
Frank Schulte

 

Solisten

Nathanael, ein Student
Christian Friedel

Clara, seine Verlobte
Lou Strenger

Lothar, ihr Bruder
Jonas Friedrich Leonhardi

Nathanaels Vater
Rainer Philippi

Nathanaels Mutter
Rosa Enskat

Coppola, Wetterglashändler / Coppelius, Advokat
Andreas Grothgar

Spalanzani, Professor der Physik
Konstantin Lindhorst

Olimpia, seine Tochter
Yi-An Chen

Siegmund, Nathanaels Kommilitone
Alexej Lochmann

Sandmann
André Kaczmarczyk

 

Weitere
Informationen

erhalten Sie unter
Ruhrfestspiele Recklinghausen
(Homepage)



Da capo al Fine

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