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Ruhrtriennale 2015 - 2017 (Intendant: Johan Simons)

14.08.2015 - 26.09.2015

 

Accattone

Nach dem gleichnamigen Film von Pier Paolo Pasolini in einer Fassung von Koen Tachelet
Musik von Johann Sebastian Bach und Soundscapes von Steven Prengels

in deutscher Sprache mit englischen Übertiteln (Musik auch zusätzlich mit deutschen Übertiteln)

Aufführungsdauer: ca. 2h 20' (keine Pause)

Koproduktion mit dem NTGent

Premiere in der Kohlenmischhalle Zeche Lohberg in Dinslaken am 14. August 2015

 

 

Menschen am Rande der Gesellschaft

von Thomas Molke / Fotos © Julian Röder

"Seid umschlungen" lautet das Motto der ersten Ruhrtriennale unter der künstlerischen Leitung des Niederländers Johan Simons, und damit bezieht Simons auch Aufführungsorte am Rand des Ruhrgebietes in das diesjährige Festival ein, die bisher noch nicht unbedingt damit in Verbindung gebracht worden sind. So hat beispielsweise Dinslaken mit seinem Stadtteil Lohberg in den letzten Jahren eher aufgrund einer dort angesiedelten Salafisten-Szene als mit kulturellen Ereignissen für Schlagzeilen gesorgt. Seit fast 10 Jahren hat die Zeche Lohberg, die viele Jahrzehnte für Beschäftigung im Bereich Industrie und Bergbau gesorgt hatte, mittlerweile ihren Betrieb eingestellt und die sozialen Probleme verschärft. Nun versucht Simons mit der Eröffnung der diesjährigen Ruhrtriennale, auch dieses Gebiet mit seinen Bewohnern zu "umschlingen" und das Festival auch für einen Personenkreis zu öffnen, der mit dem Theater eher weniger verbindet. Ob ihm das mit der Bearbeitung des Films Accattone von Pier Paolo Pasolini gelingen kann, ist allerdings fraglich.

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Steven Scharf als Accattone

Accattone ist Pasolinis erster Film, der 1961 in die Kinos kam und aufgrund seiner Radikalität zunächst verboten wurde, bevor er sich dann doch noch zu einem Meilenstein der Filmgeschichte entwickelte. Er erzählt die Geschichte einer von Pasolini selbst als "Subproletariat" bezeichneten Gesellschaftsschicht von Arbeitslosen, Dieben, Zuhältern und Prostituierten, denen in einer Zeit des allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwungs der Zugang zum bürgerlichen Leben verwehrt wird. Im Mittelpunkt steht Vittorio, der seinen bürgerlichen Namen ablehnt und "Accattone" genannt werden will, was "Bettler" bedeutet. Accattone finanziert sich zunächst als Zuhälter über die Prostituierte Maddalena und als Gelegenheitsdieb mit seinen Freunden Pio, Balilla, Cartagine und Renato. Als er der jungen Stella begegnet, bestiehlt er sogar seinen Sohn Io, um Stella eine Kette schenken zu können. Stella weigert sich, für Accattone auf den Strich zu gehen, so dass er beschließt, sich eine Arbeit zu suchen. Doch bei dem Versuch, Schrott zu transportieren, scheitert er nicht zuletzt an seinem eigenen Selbstwertgefühl und geht erneut mit seinen Freunden auf Plünderung. Bei der Flucht vor der Polizei verunglückt er und erliegt schließlich seinen Verletzungen, wobei er im Tod scheinbar seinen Frieden findet.

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Alltag am Rand der Gesellschaft: von links: Pio (Mandela Wee Wee), Accattone (Steven Scharf, vorne), Balilla (Steven van Watermeulen), das Gesetz (Benny Claessens), Io (Pien Westendorp) und Ascensa (Laura Mentink, dahinter)

Schon Pasolinis Film nutzt als Kontrast zu den schonungslosen Bildern Musik von Johann Sebastian Bach. So spielt der Schlusschor der Matthäus-Passion mit dem berühmten "Wir setzen uns mit Tränen nieder" im Film eine bedeutende Rolle, um Accattones Geschichte mit dem Ende der Passionsgeschichte Christi zu verbinden. Simons hat in seiner Musiktheater-Bearbeitung des Films ebenfalls Musik von Bach verwendet, die der Dirigent und Bach-Spezialist Philippe Herreweghe aus verschiedenen Bach-Kantaten zusammengestellt hat und die nicht mit der im Film verwendeten Musik identisch ist. Einstudiert hat Herreweghe die ausgewählten Chöre, Arien und Choräle mit dem Chor des Collegium Vocale Gent, wobei einzelne Choristen durch Mikroport verstärkt auch solistisch auftreten. Gemeinsam mit dem Orchester des Collegium Vocale Gent wird in der Kohlenmischhalle auf diese Weise ein Live-Klang erzeugt, der unter die Haut geht und die durchaus besondere Atmosphäre der riesigen leer stehenden Halle zu nutzen versteht. Ähnlich wie im Film wird Accattones Lebensweg durch die Musik zu einer Art Passionsgeschichte, wobei aber weder der Film noch Simons' Bearbeitung versuchen, Accattone mit Christus gleichzusetzen, selbst wenn das Bild auf dem Programmheft mit dem auf den Oberkörper projizierten Christus-Kopf mit der Dornenkrone etwas anderes suggerieren mag. Vielmehr beschreiben Film und Simons' Bearbeitung den Leidensweg eines Menschen, der mit seinen unmoralischen Vorstellungen und Handlungen als eine Art Antichrist bezeichnet werden kann.

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Endstation Straßenstrich: Amore (Elsie de Brauw) mit Cartagine (Jeff Wilbusch, hinten) und Renato (Lukas von der Lühe, davor)

Für das Thema ist der Aufführungsort sicherlich optimal gewählt. Die riesige Kohlenmischhalle der Zeche Lohberg, die nur noch an eingelassenen Schienen in der Mitte ihre Vergangenheit erkennen lässt, wirkt mit ihrem grobsandigen Boden genauso öde wie das Leben, das Accattone und seine Freunde als Ausgegrenzte der bürgerlichen Gesellschaft führen. Dabei entwickelt man allerdings keinerlei Mitleid mit den Figuren, weil man das Gefühl hat, dass sie sich ihr Schicksal selbst ausgesucht haben. Es scheint stellenweise sogar absolut schwierig, ihre Motivation auch nur ansatzweise nachvollziehen zu können. Der tiefe Raum, der im Hintergrund einen Blick auf die wild wuchernde Natur freigibt, die sich ihren Weg zurück in das stillgelegte Gelände gebahnt hat, bietet ebenfalls keinen Ausweg für die Figuren. Auf einem Podest auf der linken Seite sind das Orchester und der Chor des Collegium Vocale Gent positioniert und kommentieren musikalisch die Aktionen der Schauspieler. Auf der rechten Seite steht ein Container, der rechts und links geöffnet ist, und im Laufe des Stückes unterschiedliche Funktionen einnimmt. Mal handelt es sich um das Bordell, mal um eine Lagerhalle, die Accattone mit seinen Freunden ausrauben will. Vor dem Podest befindet sich auf der linken Seite ein tiefes Loch, in das Accattone im Verlauf des Stückes einmal abtaucht. Für seine Todesszene wird dieses Loch allerdings nicht verwendet. Er stirbt auf der leeren Bühne, wobei sein Tod einfach durch das Erlöschen des Lichtes angedeutet wird.

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Anna Drexler als Stella

So würde dieses Ambiente den Darstellern eigentlich eine gute Möglichkeit bieten, die Geschichte zu erzählen, wenn Simons sich nicht entschieden hätte, gesprochenes Wort und Aktion auf der Bühne bisweilen differieren zu lassen. An diesen Stellen wird es dann absolut schwierig, die Geschichte nachzuvollziehen, wenn man den Film nicht kennt. Dass die Schauspieler dabei auch noch in unterschiedliche Rollen schlüpfen, macht das Verständnis auch nicht einfacher. Die Geschichte um Maddalena bleibt folglich in Simons' Inszenierung völlig unklar. Benny Claessens, der im Programmheft als "Das Gesetz" bezeichnet wird, übernimmt unter anderem auch die Funktion eines Erzählers, der dann einen Handlungsstrang beschreibt, der auf der Bühne gar nicht umgesetzt wird. Auf diese Weise weist die über zweistündige Inszenierung durchaus einige Längen auf, über die die wunderbar vorgetragene Musik auch nicht immer hinwegtrösten kann, zumal die eingefügten Soundscapes von Steven Prengels keinen tieferen Sinn erkennen lassen. Dennoch versuchen die Schauspieler, das beste aus diesem Stück herauszuholen. Steven Scharf und Anna Drexler gelingen als Accattone und Stella darstellerisch bewegende Momente. Wenn Scharf eine riesige Schrottplatte über die Bühne trägt und darunter zusammenbricht, wird deutlich, dass in der Arbeitswelt kein Platz für Menschen wie Accattone ist. Dass die anderen Schauspieler schon in dieser Szene in schwarzer Kleidung den Tod der Titelfigur einleiten, gehört ebenfalls zu einem der wenigen Höhepunkte. Drexler stattet die Stella mit einer wunderbaren Naivität aus, so dass der Moment, wenn sie Steven van Watermeulen als Freier zurückweist, ebenfalls zu den besonderen Momenten des Abends zählt.

In den solistischen Gesangspartien überzeugen vor allem Dorothee Mields mit hellem Sopran, Alex Potter mit einem warmen Altus und Peter Kooij mit dunklem Bass. Am Ende gibt es zunächst höflichen Applaus, der für die einzelnen Beteiligten dann allerdings doch im Verlauf begeisterter wird. Ob man mit diesem Stück aber wirklich ein anderes Publikum erreichen kann, bleibt fraglich, zumal auch der Pasolini-Film eher in Spezialisten-Kreisen geschätzt und in bildungsfernen Schichten völlig unbekannt sein dürfte.

FAZIT

Simons gelingt zwar mit Blick auf die Musik und den Aufführungsort ein durchaus interessanter Auftakt zu seiner ersten Ruhrtriennale. Das Stück kann allerdings dramaturgisch nur bedingt überzeugen.

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Produktionsteam

Musikalische Leitung
*Philippe Herreweghe /
Christoph Siebert

Regie
Johan Simons

Bühne
Muriel Gerstner

Kostüme
Anja Rabes

Licht
Wolfgang Göbbel

Dramaturgie
Koen Tachelet
Tobias Staab

Musikdramaturgie
Jan Vandenhouwe



Chor und Orchester des
Collegium Vocale Gent

Solovioline
Christine Busch

 

Solisten

Accattone
Steven Scharf

Maddalena
Sandra Hüller

Amore
Elsie de Brauw

Das Gesetz
Benny Claessens

Stella
Anna Drexler

Pio
Mandela Wee Wee

Balilla
Steven van Watermeulen

Cartagine
Jeff Wilbusch

Renato
Lukas von der Lühe

Nannina / Ascensa
Laura Mentink

Io
Pien Westendorp

Sopran
Dorothee Mields

Alt
Alex Potter

Tenor
Thomas Hobbs

Bass
Peter Kooij

 

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