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Musikfestspiele
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Salzburger Festspiele 2014

Charlotte Salomon

Oper in zwei Akten mit einem Vorspiel und einem Nachwort
Libretto von Barbara Honigmann nach Leben? oder Theater? von Charlotte Salomon
Übertragung ins Französische von Johannes Honigmann
Musik von Marc-André Dalbavie


In französischer und deutscher Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 2h 30' (keine Pause)


Uraufführung am 28. Juli 2014 in der Felsenreitschule
(rezensierte Aufführung: 7. August 2014 - dritte Aufführung)

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Salzburger Festspiele
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Kunst, die am Leben erhält

Von Stefan Schmöe / Fotos © Salzburger Festspiele / Ruth Walz

Charlotte Salomon wird als Tochter eines jüdischen Arztes 1917 in Berlin geboren. Ein Kunststudium bricht sie 1937, als Jüdin gedemütigt, ab. 1939 flieht sie zu den Großeltern nach Südfrankreich, wird im Oktober 1943 nach Auschwitz deportiert und vermutlich noch am Tag ihrer Ankunft umgebracht. Kurz vor ihrem Tod hat sie auf rund 800 Blättern ihre Vergangenheit künstlerisch verarbeitet – Gouachen, mit kurzen Texten kommentiert – und mit dem Titel Leben? Oder Theater? versehen. An vielen Stellen verweist sie auf Arien und Lieder (und bezeichnet das Werk als „Singespiel“) - Musik, die sie in Berlin oft gehört hat, vor allem durch die Stiefmutter Paula Lindberg-Salomon, eine erfolgreiche Opernsängerin (Schellackplatten mit deren Aufnahmen gehörten zu den wenigen Dingen, die Charlotte ins französische Exil mitnahm). Die Blätter vertraute sie vor ihrer Deportation einem Arzt an; dieser übergab sie nah dem Krieg Charlottes Vater (der in den Niederlanden untertauchen konnte und so den Krieg überlebte), der sie später dem Jüdischen Museum Amsterdam vermachte.

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Auf dem Weg ins Exil: Die Kunstfigur Charlotte Kann (Marianne Crebassa, links) und ihre Schöpferin Charlotte Salomon (Johanna Wokalek)

Der französische Komponist Marc-André Dalbavie, Jahrgang 1961, wurde auf Charlotte Salomon und ihr Werk aufmerksam, als er von den Salzburger Festspielen einen Kompositionsauftrag für eine Oper erhielt. So ganz einfach lässt sich das „Singespiel“ natürlich nicht auf die Opernbühne übertragen; im Programmheft sind die enormen Schwierigkeiten bei der Entstehung der Oper angedeutet – so hat Dalbavie, wohl auf Anraten des Regisseurs Luc Bondy, das bereits fertig gestellte Libretto von Richard Millet (dem Librettisten seiner ersten Oper Gesualdo) vollständig verworfen und sich von der Malerin und Schriftstellerin Barbara Honigmann ein ganz neues Textbuch erstellen lassen, das sich ziemlich eng an den Texteinschüben von Leben? Oder Theater? entlang bewegt. Die Figur der Charlotte wird aufgespalten in eine Sprechrolle, die reale Charlotte Salomon beim Verfassen von Leben? Oder Theater?, und die (gesungene) Kunstfigur Charlotte Kann – Charlotte Salomon hat allen Personen verfremdete Namen gegeben, so wird z.B. die Stiefmutter Paula Lindberg zur „Paulinka Bimbam“. Dabei stehen die gesprochenen Texte im originalen Deutsch, während gesungene Passagen in französischer Übersetzung komponiert sind. Reale Person und Kunstfigur stehen nebeneinander, und das spiegelt geschickt den autobiographischen, oft ironisch überzeichneten Charakter von Leben? Oder Theater? wieder.


Vergrößerung in neuem Fenster Setzkasten im Breitbildformat der Felsenreitschule: Ensemble im Bühnenbild von Johannes Schütz

Ein kompositorisches Problem stellt sich im Umgang mit den von Charlotte Salomon angegebenen Musikstücken – neben anderem immer wieder Carmen, mehrfach Wir winden Dir den Jungfernkranz aus dem Freischütz, Arien von Bach, Händel und Mendelssohn. Dalbavie zitiert viel, und der zum Plakativen tendierende Umgang mit den solchen Zitaten bleibt ein heikler Punkt, denn natürlich ist es etwas anderes, ob eine Melodie als Assoziationsangebot zu einem Bild genannt wird (und im Kopf des Betrachters und Lesers abläuft) oder als „schöne Stelle“ tatsächlich erklingt. Je stärker er die Zitate verfremdet (z.B. durch Instrumentation, Umspielungen, „falsche“ Harmonisierungen), desto stärker ist die Wirkung. Vor der Modernität der Musik fürchten muss sich der Festspielbesucher dabei nicht, denn Dalbavie komponiert schwirrende Klangflächen, die an den französischen Impressionismus Debussys und Ravels erinnern, oft aus kleinen, melodischen Motiven aufgebaut sind, die mehrfach gegeneinander verschoben sind und formal ihren Ausgangspunkt in einem kleinen Kanon haben, der an Anfang und Ende der Oper steht – aus der Einfachheit (und aus dem Individuum heraus) entsteht der komplexe Kosmos, oder mit den Worten Charlottes: „Alle Personen meines Stücks bin ich.“ Schrill dissonant wird die Musik, wenn die Handlung dramatisch wird, ansonsten bietet die ungeheure Farbigkeit fast zu viel Wohlklang, und wenn es um die Liebe geht, kennt Dalbavie auch seinen Puccini.

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Charlottes Stiefmutter Paulinka (Anaïk Morel) und ihr Verehrer Amadeus Daberlohn (Frédéric Antoun)

Die Handlung setzt sich aus drei Erzählsträngen zusammen. Da ist zunächst als Rahmen die Entrechtung und Verfolgung der jüdischen Familie; die Informationen über das tragische Ende blendet die Regie als Abspann ein. Auf einer zweiten Ebene geht es um eine Vielzahl von Selbstmorden in Charlottes Familie – Mutter wie Großmutter stürzen sich aus dem Fenster, von weiteren Suiziden in der näheren Verwandschaft erfährt man aus Erzählungen. Diese möglicherweise vererbte Veranlagung zur Depression und deren Überwindung werden für Charlotte zum Auslöser der künstlerischen Arbeit – Kunst als Mittel zum Überleben. Auf der zentralen dritten Ebene geht es fast opernkonventionell um eine merkwürdige Liebesgeschichte. Charlotte verliebt sich in den rund 20 Jahre älteren Gesangslehrer Amadeus Daberlohn, der sich seinerseits intensiv um deren Stiefmutter Paulinka bemüht. Trotzdem kommt es zu einer kurzen Affäre zwischen Charlotte und Daberlohn, und obwohl sie sich behandelt fühlt wie ein Hund, der nicht mehr als Brosamen abbekommt, schöpft sie aus dieser Beziehung Kraft. Es gehört zu den Stärken der Oper (wie auch der Vorlage), dass diese Beziehung in einer merkwürdigen Schwebe bleibt.


Vergrößerung in neuem Fenster Kurze, aber heftige Liebesbeziehung: Amadeus Daberlohn (Frédéric Antoun) und Charlotte Kann (Marianne Crebassa)

Regisseur Luc Bondy und Bühnenbildner Johannes Schütz nutzen virtuos die volle Breite der Felsenreitschule aus. Kurz hinter der Rampe steht eine weiße Wand, durch Trennwände variabel in verschiedene Räume unterteilbar, in denen nebeneinander verschiedene Bilder zu sehen sind. So entwickelt sich die Geschichte in einer Art Setzkasten, wobei immer wieder (aber nicht zu oft) originale Bilder aus Charlotte Salomons Leben? Oder Theater? eingeblendet werden. Bondy inszeniert das zurückhaltend, fügt nur vereinzelt eigene Bilder hinzu (sehr schön der Selbstmord der Mutter, die wie ein Nachtvogel aus dem Fenster in ein geheimnisvolles Dunkel steigt), akzentuiert hier und da die Brutalität der Nazis. Ansonsten vertraut er auf die beiden großartigen Darstellerinnen der Charlotte. Mit knielangem Rock und eng anliegendem blassblauem Pullover kaum zu unterscheiden, verkörpern sie glaubhaft das Mädchen und die junge Frau im Alter von 13 bis 23 Jahren. Auch wenn Schauspielerin Johanna Wokalek in der hier besprochenen Aufführung durch eine Stimmbandentzündung merklich eingeschränkt war, lässt sie dezent die Schnoddrigkeit der Berliner Göre durchschimmern. Marianne Crebassa singt mit leicht dunkel getöntem, vollem und vibrierendem Mezzosopran, und dass der jungen Sängerin nicht jede Phrase technisch perfekt gelingt, passt gut zur Rolle.

Frédéric Antoun singt mit angenehm abgedecktem, warmem und tonschönem Tenor, der vielleicht in der Höhe noch etwas freier klingen dürfte, den Amadeus Daberlohn, Anaïk Morel mit tragfähigem, schön abgedunkeltem Mezzosopran die Stiefmutter Paulinka, und auch sonst ist das Ensemble überzeugend und jederzeit rollendeckend. Das agile Mozarteum Orchester spielt unter der Leitung des Komponisten vor allem in den Bläsern sehr überzeugend. Allein die Spieldauer von fast zweieinhalb (ohne Pause durchgespielten) Stunden fordern, obgleich fast durchweg kurzweilig, dem Publikum einige Energie ab.


FAZIT

Die Spitze der Avantgarde ist Charlotte Salomon sicher nicht, aber den Salzburger Festspielen setzen mit dieser fast allzu wohlklingenden, aber insgesamt packenden Uraufführung ein markantes Zeichen für das zeitgenössische Musiktheater. Die Oper selbst könnte durchaus die nötigen Repertoirequalitäten haben, um an anderen Theatern nachgespielt zu werden.






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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Marc-André Dalbavie

Inszenierung
Luc Bondy

Bühne
Johannes Schütz

Kostüme
Moidele Bickel

Licht
Bertrand Couderc

Choreographie / Mitarbeit Regie
Marie-Louise Bischofberger

Dramaturgie
Konrad Kuhn



Mozarteumorchester Salzburg


Solisten

Charlotte Salomon
Johanna Wokalek

Charlotte Kann
Marianne Crebassa

Doktor Kannn, ein Arzt
Jean-Sébastien Bou

Franziska Kann / Eine Frau
Géraldine Chauvet

Paulinka Bimbam
Anaïk Morel

Amadeus Daberlohn, ein Gesangspädagoge
Frédéric Antoun

Herr Knarre / Lageroberst
Vincent Le Texier

Frau Knarre
Cornelia Kallisch

Professor Klingklang / Ein Kunststudent /
Dritter Nazi / Ein Polizist
Michal Partyka

Der Papst / Der Propagandaminister /
Der Kunstprofessor / Erster Nazi /
Ein Mann / Zweiter Emigrant
Eric Huchet

Eine Kunststudentin aus Tirol
Annika Schlicht*

Zweiter Nazi
Wolfgang Resch*


weitere Berichte von den
Salzburger Festspielen 2014



Charlotte Salomons Leben? Oder Theater?
ist auf den Seiten des Jüdischen Museums
Amsterdam veröffentlicht ( zum Link )


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