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Boris Godunow

Oper in vier Teilen (sieben Bildern)
Erste Fassung, Ur-Boris von 1868/1869
nach dem gleichnamigen Drama von Alexander Puschkin (1825) und Nikolai Karamsins
Text und Musik von Modest Mussorgsky

in russischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 2h 15' (keine Pause)

Premiere im Nationaltheater der Bayerischen Staatsoper am 13. Februar 2013

(rezensierte Aufführung im Rahmen der Münchner Opernfestspiele: 26.07.2013) 

 

 



Bayerische Staatsoper München
(Homepage)

Macht und Ohnmacht der Masse

Von Thomas Molke / Fotos von Wilfried Hösl

Seit einigen Jahren ist das "Oper für alle"-Wochenende ein fester Bestandteil der Münchner Opernfestspiele. An zwei aufeinanderfolgenden Tagen kann man bei freiem Eintritt einer audiovisuellen Live-Übertragung aus dem Nationaltheater auf den Max-Joseph-Platz beiwohnen und ein Festspiel-Konzert auf dem Marstallplatz in einer hochkarätigen Besetzung - in diesem Jahr Sondra Radvanovsky, Ekaterina Gubanova, Joseph Calleja und René Pape beim Verdi-Requiem unter der musikalischen Leitung von Zubin Mehta - erleben. Bei der Live-Übertragung gibt es nicht nur im Vorfeld diverse Interviews und Informationen über die Produktion, auch nach der Vorstellung stellen sich die Solisten auf einer eigens auf dem Max-Joseph-Platz errichteten Bühne dem Applaus. Während im letzten Jahr die Regengüsse den Genuss der Live-Übertragung von Richard Wagners Götterdämmerung eingeschränkt hatten, gab es in diesem Jahr das andere Extrem. Die heißen Temperaturen auf dem gewissermaßen schattenfreien Platz dürften zumindest bis zum Einbruch der Dunkelheit schwer zu ertragen gewesen sein. Aber das konnte die zahlreichen Besucher nicht abschrecken, und so war der Platz auch beim Verlassen des Opernhauses noch mit unzähligen jubelnden Opernfans gefüllt.

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Das Volk (Chor und Extrachor) feiert Boris (Alexander Tsymbalyuk, oben rechts) als neuen Zaren, selbstverständlich unter Regie des Militärs.

Als Produktion für die diesjährige Live-Übertragung hat man Mussorgskys Oper Boris Godunow ausgewählt. die sich, so Dramaturgin Andrea Schönhofer, mit den gewaltigen Chorszenen für ein derartiges Opernspekakel hervorragend eigne, selbst wenn in der gespielten "Urfassung" die Liebesgeschichte und damit auch die große Sopranpartie fehle. Dieser "Mangel" war auch der Grund, weshalb die Urfassung zunächst nicht zur Uraufführung gelangte und erst fast 60 Jahre später im Akademischen Opern- und Balletttheater, St. Petersburg, vorgestellt wurde. Sieht man von der großartigen Musik des in dieser Fassung fehlenden "Polen-Aktes" mit der Liebesgeschichte zwischen der ehrgeizigen Polin Marina und dem falschen Dimitrij ab, ist dieser sogenannte Ur-Boris im Handlungsablauf wesentlich stringenter und mehr auf die Titelfigur konzentriert. Des Weiteren dürfte diese Version auch eher den Vorstellungen des Komponisten entsprochen haben, da er sich ja schließlich nur auf Druck von außen dazu entschieden hatte, sein Werk um die große Sopranpartie der Marina und der damit verbundenen Liebesgeschichte zu erweitern. Diese Gründe mögen wohl den Ausschlag dafür gegeben haben, dass man sich auch in München für den Ur-Boris entschieden hat.

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Boris (Alexander Tsymbalyuk, rechts) mit seiner Familie (von links: Xenia (hier: Eri Nakamura), Xenias Amme (Heike Grötzinger) und Fjodor (Yulia Sokolik)) in seinem mondänen Zarenpalast, der an einen abgeriegelten Panikraum erinnert

Die Oper handelt von dem historisch belegten Boris Godunow, der unter Iwan dem Schrecklichen vom einfachen tatarischen Bogenschützen zum Vertrauten avancierte und durch die Hochzeit zwischen Iwans Sohn Fjodor und Boris' Schwester Teil der Zarenfamilie wurde, so dass er nach Fjodors Tod als insgesamt dritter Zar von 1598 bis 1605 unter dem Namen Boris I. über Russland herrschte. Dass er den Zarewitsch aus Iwans siebter Ehe, Dimitrij Iwanowitsch, als Kind ermorden ließ, um an die Macht zu gelangen, ist allerdings nur ein Gerücht, dass durch Puschkins Dramatisierung aufrecht erhalten wurde. Wahr wiederum ist, dass ein junger Mönch namens Grigorij Otrepjew den Plan schmiedete, die Identität Dimitrijs anzunehmen und nach der Zarenkrone zu streben. Dass er dabei erfolgreich war, verdankte er zum einen dem intriganten Fürsten Schuiskij, der sich insgeheim selbst die Macht aneignen und sich dazu des jetzigen Zaren entledigen wollte, zum anderen Boris' schlechtem Gewissen, das den Zaren an den zahlreichen Katastrophen, die sich während seiner Amtszeit ereigneten, wie einen tragischen Helden zerbrechen ließen. In der Oper ist es dann der alte Mönch Pimen, der dem Zaren vorgeführt wird und mit seinem Bericht über eine angeblichen Wunderheilung an Dimitrijs Grab zum endgültigen Zusammenbruch und Tod des Zaren führt. Bevor Boris stirbt, übergibt er zwar noch seinem Sohn Fjodor die Herrschaft, doch auch dieser wird von dem falschen Dimitrij zur Ergreifung der Macht aus dem Weg geräumt werden.

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Mit dem Rücken zur Wand: Boris (Alexander Tsymbalyuk)

Calixto Bieito macht in seiner Inszenierung keinen Hehl aus der Sympathie, die er für die Titelfigur empfindet und sieht Boris in gewisser Weise sogar als Seelenverwandten des Komponisten. So wie Mussorgsky im künstlerischen Bereich von Selbstzweifeln geprägt war und sich in seinen Kompositionen immer wieder den Forderungen seiner Freunde gebeugt hat, wofür auch die Erweiterung der Urfassung um die Liebesgeschichte als Beleg betrachtet werden kann, unternimmt auch Boris als Zar alles in seiner Macht stehende, um dem Volk ein guter Herrscher zu sein. Dass ihm dies nicht gelingt und jegliche sich ereignende Katastrophe als göttliche Strafe für den Tod des jungen Dimitrij betrachtet wird, lässt ihn am Ende ebenso zerbrechen wie Mussorgsky selbst. Dabei interessiert sich Bieito nicht dafür, ob Boris für den Mord am Zarewitsch in irgendeiner Form verantwortlich ist. Sympathisch macht ihn, in Bieitos Augen, die Tatsache, dass er ein Gewissen besitzt, was bei heutigen Machthabern, so Bieito, vergeblich zu suchen sei. Bereits im ersten Bild halten die Chormassen daher Plakate von zahlreichen korrupten Politikern wie Berlusconi, Putin und George Bush hoch, die sich nicht einen Deut um den ihnen angelasteten Machtmissbrauch scheren.

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Boris' (Alexander Tsymbalyuk, vorne) Ende (im Hintergrund: links: Grigorij Otrepjew (Sergey Skorokhodov), rechts: Pimen (Anatoli Kotscherga))

Dabei verortet Bieito die Geschichte zwar im Hier und Jetzt, verzichtet aber darauf, ihr einen länderspezifischen Anstrich zu verpassen. Zu allgemeingültig ist für ihn das Geschehen, als dass man es auf einen einzigen nationalen Konflikt beschränken könnte. Die Masse, die vom Militär in Schach gehalten und bei Protesten brutal niedergeknüppelt wird, erweckt Erinnerungen an Bilder, die man tagtäglich in den Nachrichten vor Augen geführt bekommt. Dabei lässt sie sich von den Politikern einerseits als Machtinstrument geschickt manipulieren, wirkt aber andererseits auch resigniert und illusionslos, weil sie nicht weiß, wofür sie eigentlich kämpft. Von daher verwundert es nicht, dass beispielsweise Mitjucha (Tareq Nazmi) als einsamer verkrüppelter Rebell mit dem Slogan "No Future" auf seiner schwarzen Lederjacke von der Regie nicht als bloßes Opfer, sondern auch als provokanter Widerling gezeigt wird. Dass die beiden Mönche Pimen und Grigorij Otrepjew in Bieitos Inszenierung Journalisten sind, wirkt ebenfalls schlüssig, da in der heutigen Zeit eher die Presse die Chroniken der Geschichte verfasst als irgendwelche in Klostern zurückgezogene lebende Mönche.

Für den Zarenpalast hat Rebecca Ringst ein gewaltiges dunkles Bühnenelement entwickelt, das an ein riesiges Kriegsschiff erinnert und sich wie ein Panikraum hermetisch gegen die Außenwelt abriegeln lässt. Da kann das rebellierende Volk durchaus auch mal Brandbomben gegen die Wand werfen, ohne dem Gebäude etwas anhaben zu können. In diesem mit modernem Mobiliar und schimmerndem Gold ausgestatteten Palast bewegen sich Boris' Kinder fernab jeglicher Realität. Xenia wirkt in ihrem weißen Pelz ständig wie auf Droge, wenn sie um den Verlust ihres Bräutigams trauert, und Fjodor spielt die ganze Zeit mit einer leichten Weltkugel, als ob die Macht über ein riesiges Reich ein Kinderspiel sei. Dass Fjodor dabei in seinem Faltenrock eher an ein Mädchen erinnert, mag Indiz dafür sein, dass er keinesfalls in der Lage sein wird, in Boris' Fußstapfen zu treten. Bieito macht dies in seiner Inszenierung auch dadurch deutlich, dass er bereits in der Sterbeszene des Boris den falschen Dimitrij auftreten und die Amme samt Boris' Kindern ermorden lässt. Dass Bieito am Ende des sechsten Bildes auch den Gottesnarr (Kevin Connors) von einem der Kinder erschießen lässt, deren Tod er zuvor beim Zaren für den Raub seines Geldstückes eingefordert hat, steht zwar ebenfalls nicht im Libretto, unterstreicht allerdings die pessimistische Weltsicht, die dieses Stück so düster, aber leider auch so aktuell macht.

Auch wenn die Produktion in  ca. 135 Minuten ohne Pause durchgespielt wird, kommt kein Moment Langeweile auf, was neben der spannenden und stimmigen Inszenierung vor allem auch an der großartigen musikalischen Umsetzung liegt, die keinerlei Wünsche offen lässt. Die von Sören Eckhoff einstudierten Chöre der Bayerischen Staatsoper präsentieren sich als bombastische Masse, die in ihrer Wucht durchaus auch einen Herrscher zum Stürzen bringen können. Erwähnt werden soll an dieser Stelle auch der großartige von Stellario Fagone einstudierte Kinderchor. Sergey Skorokhodov gibt mit kräftigem Tenor einen kämpferischen falschen Dimitrij, der am Ende des Stückes im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen geht. Gerhard Siegel präsentiert Schuiskij mit schneidendem Tenor als gefährlichen Machtmenschen. Vladimir Matorin gestaltet mit großartigem Bass den einfach gestrickten, aber doch ehrlichen Obdachlosen Warlaam. Anatoli Kotscherga begeistert als Pimen mit markantem Bass. Star des Abends ist Alexander Tsymbalyuk in der Titelpartie, der den Boris nicht nur stimmlich mit variablem Bariton ausstattet, sondern auch darstellerisch die innere Zerrissenheit des Zaren absolut glaubhaft zum Ausdruck bringt und ihn so zu einem tragischen Helden werden lässt. Kent Nagano lotet mit dem Bayerischen Staatsorchester die teilweise recht sperrige Musik Mussorgskys differenziert aus und lässt ein bisschen Wehmut bei dem Gedanken aufkommen, dass seine Zeit als Generalmusikdirektor in München sich nun dem Ende neigt. Die Zuschauer im Haus und auf dem Max-Joseph-Platz feiern aller Beteiligten mit lang anhaltendem und frenetischem Applaus.

FAZIT

Szenisch und musikalisch ein hervorragender Abend, den man in einer depressiven Stimmung allerdings meiden sollte

Weitere Rezensionen zu den Münchner Opernfestspielen 2013

 


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Kent Nagano

Inszenierung
Calixto Bieito

Bühne
Rebecca Ringst

Kostüme
Ingo Krügler

Licht
Michael Bauer

Chöre
Sören Eckhoff

Kinderchor
Stellario Fagone

Dramaturgie
Andrea Schönhofer

 

Bayerisches Staatsorchester

Chor und Extrachor der
Bayerischen Staatsoper

Kinderchor der
Bayerischen Staatsoper

Statisterie der
Bayerischen Staatsoper


Solisten

Boris Godunow
Alexander Tsymbalyuk

Fjodor
Yulia Sokolik

Xenia
Anna Virovlansky

Xenias Amme
Heike Grötzinger

Fürst Schuiskij
Gerhard Siegel

Andrej Schtschelkalow
Igor Golovatenko

Pimen
Anatoli Kotscherga

Grigorij Otrepjew
Sergey Skorokhodov

Warlaam
Vladimir Matorin

Missaïl
Ulrich Reß

Schenkwirtin
Margarita Nekrasova

Gottesnarr
Kevin Connors

Nikititsch
Goran Jurić

Leibbojar
Joshua Stewart

Mitjucha
Tareq Nazmi

Haptmann der Streifenwache
Christian Rieger


Weitere
Informationen

erhalten Sie unter 
Bayerische Staatsoper München
(Homepage)



Da capo al Fine

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