Abgefahren
von Ursula
Decker-Bönniger
Zwei
ungewöhnliche, ästhetisch richtungsweisende
Konzerte der Moderne bildeten den Abschluss der
bemerkenswerten, diesjährigen Ruhrtriennale. Nach spätem
Gewitter, eine ChorWerk Ruhr-Produktion mit
Luigi Nonos 1980/81 entstandenem Spätwerk Das atmende Klarsein
und utp_,
eine experimentelle Koproduktion des Ensemble Modern
mit Ryuichi Sakamoto und dem bildenden Künstler,
Komponisten und Musiker Carsten Nikolai.
Nach
spätem Gewitter: Ensemble (
© ChorWerk Ruhr, Foto: Pedro Malinowski)
Textgrundlage
der Nono-Komposition für kleinen Chor,
Bassflöte und Live-Elektronik ist eine
mehrsprachige Zusammenstellung aus den Duineser
Elegien von Rainer Maria Rilke und anderen antiken,
orphischen Blättern von Massimo Cacciari. Nur
hier und da erahnt man Wörter bzw.
Textfragmente. Wichtiger als der Inhalt sind die
Klangfarben einzelner Vokale oder Silben. Man
hört ein sehr leises, aus sehr lang
ausgehaltenen Tönen bestehendes, extreme
Tonhöhen und Sprünge berührendes,
transparentes Klangband aus sich immer wieder neu
gruppierenden Dissonanzreibungen. Trotz all dieser
stimmtechnisch hohen Anforderungen kam eine
sphärisch meditative Atmosphäre auf,
als wenn sich die Chorstimmen leise ergriffen von
der Erinnerung sich auf antike, polyphone
Renaissance-Spurensuche begeben.
Nonos Komposition stellt der lyrisch ausgeglichenen,
linearen Stimmführung eine Bassflöte
gegenüber, deren Expressivität ein wenig
an Berios Sequenza-Kompositionen
erinnert. Mit verschiedensten, kunstvoll
ineinanderfließenden Spieltechniken wie
Ansaugen, Hauchen, Summen, Schmatzen, Klopfen etc.
verzauberte Helen Bledsoe das Publikum. Eine andere
Sprachwelt tat sich auf, eine breite, emotionale
Ausdrucksskala exaltierter, bizarrer Figurationen -
Klänge von reiner Obertonmehrstimmigkeit,
ekstatischem Schrei bis zu Geräuschen wie
Wispern, Summen oder Schmatzen. Die von Nono
vorgesehenen Verfremdungseffekte und Raumklänge
waren im vorderen Bereich der Gebläsehalle
allerdings nur an einigen, wenigen Stellen
hörbar.
Nicht vergessen will ich den ersten Teil des
Konzertes, in dem der Chor und ein Begleitensemble
aus Laute, Violone und Orgel sechs Madrigale des
Renaissance-Komponisten Carlo Gesualdo di Venosa
vorstellte. Von den Zeitgenossen verkannt und den
Komponisten des 20. Jahrhunderts geschätzt,
nehmen seine Madrigale mit ihrer besonderen,
ausdrucksstarken Affektsprache die
Expressivität des 20. Jahrhunderts quasi
vorweg. Auf dem Wege zu Nono folgten dann die 1967
entstandenen, a cappella vorgetragenen Canzone 126 di
Francesco Petrarca des schwedischen
Komponisten Lars Johan Werle - eine wunderbar
transparent gestaltete Komposition mit leisen, in
der Höhe einsetzenden, klaren Tönen,
verschiedenen Formen des Sprechgesangs, Kontrasten
und fließend gestalteten Übergängen.
In der ausverkauften Jahrhunderthalle Bochum fand
einen Tag später dann die Aufführung von utp_ statt -
eine performative, interdisziplinäre
Herausforderung der Sinne! Utp_ (Abkürzung für
Utopie?), die Auftragskomposition der Stadt Mannheim
zum 400jährigen Jubiläum ist ein mutiges,
Improvisation und Komposition mischendes Experiment.
Verknüpft werden tiefe Streicher, Saxophon,
Klarinette, Fagott und Schlagwerk des Ensemble
Modern mit elektronisch erzeugten Klängen und
abstrakter Videokunst des vielfach prämierten
Künstlers Carsten Nicolai, der auch unter dem
Pseudonym alva noto wirkt, sowie mit Elektronik und
Improvisationen am präparierten Flügel des
vielseitigen, japanischen Komponisten und Musikers
Ryuichi Sakamoto.
utp_:
Ensemble Modern (Foto © Hans
Jörg Michel)
Die
Instrumente sind verkabelt. Die Musiker sitzen vor
einer breiten Videoleinwand, deren Bilder sie selbst
über Monitore einsehen können. Es entsteht
ein Wechselspiel von Formen, Farben und Klang- bzw.
Geräuschlandschaften, deren natürlich
erzeugter Ursprung allenfalls vom präparierten
Flügel zu hören ist. Manchmal ist auch ein
Streicherklang erkennbar, aber die Holzbläser
generierten Klänge bzw. Töne hört man
so gut wie gar nicht.
Die Bilder sind abstrakt. Punkte, liegende und
stehende Wellen wechseln fließend mit
rautenähnlichen, dreidimensional wirkenden
Gebilden. Akustische Klänge werden elektronisch
zerlegt, verstärkt und bilden mit den noch
fremd wirkenden elektronischen "Tönen" manchmal
bedrohlich anschwellende, fast schmerzhafte
Geräuschgebirge, die kurz vor der "Explosion"
dynamisch zurückgefahren und vereinzelt werden.
Zu roten, blauen oder violetten, stehenden Wellen
erklingen Akkorde aus dissonanten, endlosen
Liegeklängen. Mit Papier, Schlegel, Besen oder
anderen "Werkzeugen" werden die
Flügelsaiten "bearbeitet". Knallendes
Seitenzupfen, Bogenklopfen, ein langsames Streichen
über den Instrumentalkörper und andere
ungewöhnliche Spielweisen türmen sich zu
ohrenbetäubender Geräuschkulisse,
während man im Bild "weißes Rauschen"
sieht. Zwischendurch gibt's ein Solo für Claves
und Elektronik.
Dann gegen Ende scheint so etwas wie Musik zu
entstehen! Zu Bild, Ton, Klang und Geräusch
kommt eine rhythmische Gestalt. Ein Klavierakkord
klingt an. Man hört Einzeltöne eingebunden
in Orchesterakkorde in verschiedenen Tonarten. Und
ich meine sogar Melodietöne der
Sakamoto-Komposition Merry Christmas erkannt zu
haben.
Ein
zukunftsweisendes, überwiegend spannendes,
ästhetisches Experiment, dass mein Sitznachbar
mit "Klangverstopfung" charakterisierte.
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Nach spätem Gewitter
Ein Konzert von ChorWerk Ruhr
für die Ruhrtriennale 2012
Musikalische
Leitung
Florian Helgath
Violone
Hartwig Groth
Laute
Björn Colell
Orgel
Christoph Anselm Noll
Bassflöte
Helen Bledsoe
ChorWerk
Ruhr
Programm:
Carlo
Gesualdo di Venosa
Itene, o miei sospiri (Libro V, No.3)
Felicissimo sonno (Libro V, No.7)
Io tacerò (Libro IV, No.3)
Correte, amanti, a prova
(Libro V, No.13)
Mille volte il di (Libro VI, No.7)
Moro lasso (Libro VI, No.17)
Lars Johann Werle
Canzone 126 di Francesco Petrarca
Luigi Nono
Das atmende Klarsein
utp_
alva
noto/ryuichi sakamoto
ensemble modern
Klavier und
Elektronik
Ryuichi Sakamoto
Video
Carsten Nicolai
Simon Mayer
Licht
Nigel Edwards
Klangregie
Norbert Ommer
Tontechnik
Felix Dreher
Produktion und Technik
Team der Ruhrtriennale
Ensemble Modern
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