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Zwei Konzerte mit neuer Musik 


29. September 2012
, Gebläsehalle im Landschaftspark Duisburg-Nord
Nach spätem Gewitter

Ein Konzert von ChorWerk Ruhr für die Ruhrtriennale


30. September 2011, Jahrhunderthalle Bochum
alva noto/ryuichi sakamoto: utp_

Audio-visuelles Konzert mit dem Ensemble Modern

Logo: Ruhrtriennale 2012

Abgefahren 

von Ursula Decker-Bönniger

Zwei ungewöhnliche, ästhetisch richtungsweisende Konzerte der Moderne bildeten den Abschluss der bemerkenswerten, diesjährigen Ruhrtriennale. Nach spätem Gewitter, eine ChorWerk Ruhr-Produktion mit Luigi Nonos 1980/81 entstandenem Spätwerk Das atmende Klarsein und utp_, eine experimentelle Koproduktion des Ensemble Modern mit Ryuichi Sakamoto und dem bildenden Künstler, Komponisten und Musiker Carsten Nikolai.

SzenenfotoNach spätem Gewitter: Ensemble ( © ChorWerk Ruhr, Foto: Pedro Malinowski)

Textgrundlage der Nono-Komposition für kleinen Chor, Bassflöte und Live-Elektronik ist eine mehrsprachige Zusammenstellung aus den Duineser Elegien von Rainer Maria Rilke und anderen antiken, orphischen Blättern von Massimo Cacciari. Nur hier und da erahnt man Wörter bzw. Textfragmente. Wichtiger als der Inhalt sind die Klangfarben einzelner Vokale oder Silben. Man hört ein sehr leises, aus sehr lang ausgehaltenen Tönen bestehendes, extreme Tonhöhen und Sprünge berührendes, transparentes Klangband aus sich immer wieder neu gruppierenden Dissonanzreibungen. Trotz all dieser stimmtechnisch hohen Anforderungen kam eine sphärisch meditative Atmosphäre auf,  als wenn sich die Chorstimmen leise ergriffen von der Erinnerung sich auf antike, polyphone Renaissance-Spurensuche begeben.

Nonos Komposition stellt der lyrisch ausgeglichenen, linearen Stimmführung eine Bassflöte gegenüber, deren Expressivität ein wenig an Berios Sequenza-Kompositionen erinnert. Mit verschiedensten, kunstvoll ineinanderfließenden Spieltechniken wie Ansaugen, Hauchen, Summen, Schmatzen, Klopfen etc. verzauberte Helen Bledsoe das Publikum. Eine andere Sprachwelt tat sich auf, eine breite, emotionale Ausdrucksskala exaltierter, bizarrer Figurationen - Klänge von reiner Obertonmehrstimmigkeit, ekstatischem Schrei bis zu Geräuschen wie Wispern, Summen oder  Schmatzen. Die von Nono vorgesehenen Verfremdungseffekte und Raumklänge waren im vorderen Bereich der Gebläsehalle allerdings nur an einigen, wenigen Stellen hörbar.

Nicht vergessen will ich den ersten Teil des Konzertes, in dem der Chor und ein Begleitensemble aus Laute, Violone und Orgel sechs Madrigale des Renaissance-Komponisten Carlo Gesualdo di Venosa vorstellte. Von den Zeitgenossen verkannt und den Komponisten des 20. Jahrhunderts geschätzt, nehmen seine Madrigale mit ihrer besonderen, ausdrucksstarken Affektsprache die Expressivität des 20. Jahrhunderts quasi vorweg. Auf dem Wege zu Nono folgten dann die 1967 entstandenen, a cappella vorgetragenen Canzone 126 di Francesco Petrarca des schwedischen Komponisten Lars Johan Werle - eine wunderbar transparent gestaltete Komposition mit leisen, in der Höhe einsetzenden, klaren Tönen, verschiedenen Formen des Sprechgesangs, Kontrasten und fließend gestalteten Übergängen.

In der ausverkauften Jahrhunderthalle Bochum fand einen Tag später dann die Aufführung von utp_ statt - eine performative, interdisziplinäre Herausforderung der Sinne! Utp_ (Abkürzung für Utopie?), die Auftragskomposition der Stadt Mannheim zum 400jährigen Jubiläum ist ein mutiges, Improvisation und Komposition mischendes Experiment. Verknüpft werden tiefe Streicher, Saxophon, Klarinette, Fagott und Schlagwerk des Ensemble Modern mit elektronisch erzeugten Klängen und abstrakter Videokunst des vielfach prämierten Künstlers Carsten Nicolai, der auch unter dem Pseudonym alva noto wirkt, sowie mit Elektronik und Improvisationen am präparierten Flügel des vielseitigen, japanischen Komponisten und Musikers Ryuichi Sakamoto.

Szenenfotoutp_: Ensemble Modern (Foto © Hans Jörg Michel)

Die Instrumente sind verkabelt. Die Musiker sitzen vor einer breiten Videoleinwand, deren Bilder sie selbst über Monitore einsehen können. Es entsteht ein Wechselspiel von Formen, Farben und Klang- bzw. Geräuschlandschaften, deren natürlich erzeugter Ursprung allenfalls vom präparierten Flügel zu hören ist. Manchmal ist auch ein Streicherklang erkennbar, aber die Holzbläser generierten Klänge bzw. Töne hört man so gut wie gar nicht.

Die Bilder sind abstrakt. Punkte, liegende und stehende Wellen wechseln fließend mit rautenähnlichen, dreidimensional wirkenden Gebilden. Akustische Klänge werden elektronisch zerlegt, verstärkt und bilden mit den noch fremd wirkenden elektronischen "Tönen" manchmal bedrohlich anschwellende, fast schmerzhafte Geräuschgebirge, die kurz vor der "Explosion" dynamisch zurückgefahren und vereinzelt werden.
Zu roten, blauen oder violetten, stehenden Wellen erklingen Akkorde aus dissonanten, endlosen Liegeklängen. Mit Papier, Schlegel, Besen oder anderen "Werkzeugen" werden die  Flügelsaiten "bearbeitet". Knallendes Seitenzupfen, Bogenklopfen, ein langsames Streichen über den Instrumentalkörper und andere ungewöhnliche Spielweisen türmen sich zu ohrenbetäubender Geräuschkulisse, während man im Bild "weißes Rauschen" sieht. Zwischendurch gibt's ein Solo für Claves und Elektronik.

Dann gegen Ende scheint so etwas wie Musik zu entstehen! Zu Bild, Ton, Klang und Geräusch kommt eine rhythmische Gestalt. Ein Klavierakkord klingt an. Man hört Einzeltöne eingebunden in Orchesterakkorde in verschiedenen Tonarten. Und ich meine sogar Melodietöne der Sakamoto-Komposition Merry Christmas erkannt zu haben.

Ein zukunftsweisendes, überwiegend spannendes, ästhetisches Experiment, dass mein Sitznachbar mit "Klangverstopfung" charakterisierte.


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Nach spätem Gewitter


Ein Konzert von ChorWerk Ruhr
für die Ruhrtriennale 2012


Musikalische Leitung
Florian Helgath

Violone
Hartwig Groth

Laute
Björn Colell

Orgel
Christoph Anselm Noll

Bassflöte
Helen Bledsoe

ChorWerk Ruhr     


Programm:

Carlo Gesualdo di Venosa
Itene, o miei sospiri (Libro V, No.3)

Felicissimo sonno (Libro V, No.7)

Io tacerò (Libro IV, No.3)

Correte, amanti, a prova
(Libro V, No.13)

Mille volte il di (Libro VI, No.7)

Moro lasso (Libro VI, No.17)

Lars Johann Werle
Canzone 126 di Francesco Petrarca

Luigi Nono
Das atmende Klarsein



utp_

alva noto/ryuichi sakamoto
ensemble modern

Klavier und Elektronik
Ryuichi Sakamoto

Video
Carsten Nicolai
Simon Mayer


Licht
Nigel Edwards

Klangregie
Norbert Ommer

Tontechnik
Felix Dreher

Produktion und Technik
Team der Ruhrtriennale


Ensemble Modern


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