Klangreise ins
Innere
von
Ursula
Decker-Bönniger
/ Fotos von Michael Kneffel
The Hilliard Ensemble
Zwei im weitesten Sinne geistliche, musikalisch aber sehr
unterschiedliche Konzerte präsentierte das Hilliard-Ensemble im
Rahmen der Ruhrtriennale 2011: Litany
for the whale ist eine Auftragsproduktion der Ruhrtriennale,
wo teilweise für das Hilliard-Ensemble komponierte
A-Capella-Werke des 20. und 21. Jahrhunderts auf zen-buddhistische
Klangmediationen des japanischen Shakuhachi-Meister Tadashi Tajima
trafen. In Paradisum
ist ein auch auf CD vorliegendes Konzert, das verschiedene Messteile
des Requiem als gregorianische, antiphonale Gesänge mit
mehrstimmigen, liturgischen Vertonungen der beiden maßgeblichen
Renaissance-Komponisten, Tomás Luis de Victoria und Giovanni
Pierluigi da Palestrina mischt.
Um es gleich vorweg zu nehmen, die spannungs- und abwechslungsreiche
Interpretation künstlerisch-geistlicher Improvisation und Musik
des 20./21. Jahrhunderts hat mir wesentlich besser gefallen als die
Darbietung der verschiedenen Requiemgesänge. Lag es am Konzertzeitpunkt? Meine In
Paradisum-Vorstellung war das dritte Konzert des
Hilliard-Ensembles in Folge. Lag es am pausenlosen Verlauf des
Konzertes, der den Sängern in diesen beginnenden Grippezeiten
offensichtlich zu wenig Ruhe- und Erholungsmomente bot? Lag es an dem an diesem Abend nicht eingelösten Ideal einer
Interpretationskunst, die jenseits expressiver Beseeltheit den
ätherisch entrückten, fließenden, hin und wieder
aufblühenden Wohlklang kultiviert?
Tadashi Tajima
Im Unterschied zu Litany for the
whale fehlte diesem Abend auch die am Interpretationsideal
gemessene nötige stimmliche Ausgewogenheit. Countertenor David
Gold, der sich kurzfristig bereit erklärt hatte, die Partie
des erkrankten David James zu übernehmen, überstrahlte
mit seiner schlanken, kräftigen, in der Höhe manchmal
geradezu schneidend wirkenden Stimme das übrige Ensemble auch an
Stellen, in denen der Cantus Firmus nicht in der Oberstimme
liegt. Und trotzdem, das Programm war vor allem musikhistorisch eine
Bereicherung. Nur selten bietet sich die Gelegenheit, so tief in die
Anfänge der schriftlich überlieferten, mehrstimmigen,
abendländischen Komposition einzutauchen, die vielfältigen
Verknüpfungen von einstimmiger, an der Wortsilbe orientierter
gregorianischer Gesangslinie, melismatischer Ausdeutung und polyphoner
Mehrstimmigkeit zu erleben.
Abwechslungsreicher und die besonderen akustischen Bedingungen der
Industriekathedrale aufgreifend war das Konzert Litany for the whale. Als der leicht variierende Wechselgesang wie ein den Schlaf
beschwörendes unrhythmisiert fließendes, einfaches, aus
langen Notenwerten bestehendes Kinderlied durch den weiten Raum der
Jahrhunderthalle wanderte und die Kernphrase des gleichnamigen
Cage-Ohrwurms (reduziert auf die 5 Töne d, c, h, g, a - auf
zwei Sekundschritte abwärts folgt eine Terz, anschließend
die Sekunde aufwärts zum a) litaneiartig wiederholt und
prozessionsartig von zwei Sängern durch den Raum getragen wurde,
war es mehr als still. Statt ruhestörendem Hüsteln,
Schniefen, Klingeln und Klappern herrschte konzentrierte
Aufmerksamkeit. Schloß man die Augen zentrierte sich diese ganz
auf den sich nähernden und entfernenden, emotionslos
strömenden Raumklang der beiden Stimmen.
Auf diese Darbietung des Hilliard-Ensembles folgte die dritte,
vorletzte zen-buddhistische Klangmeditation des japanischen
Künstlers und Shakuhachi-Meisters Tadashi Tajima. Im Unterschied
zu den anderen drei Meditationsmelodien, die getragen vom
gleichmäßigen Atemstrom die Grenzen von Ton und
Geräusch ausloten, zeichnete Tadashi Tajima in Nistende Kraniche in rhythmisch
bewegten, kunstvollen Verzierungen und virtuos aufeinanderfolgenden
Spielweisen ein phasenweise sogar mehrstimmiges Klangbild zum Thema
"barmherzige Liebe", das - jenseits meditativer Versenkung -
Kranicheltern bei ihrer Fürsorge für die Jungen musikalisch
vor Augen führte.
Aus den Höhen der Jahrhunderthalle gesungen: Belcastros "La Voce delle Creature"
Wie kunstfertig der Meister seine Längsflöte aus Bambus
beherrscht, wird besonders deutlich, wenn man die begrenzte Tonskala
und harmonischen Möglichkeiten des Instruments bedenkt. Die hauchige Klangfarbe - insbesondere des Bassinstrumentes -
schillerte in der Industriehalle manchmal wie Gebläse imitierende
Winde und es ist eigentlich heute nicht mehr
nachvollziehbar, dass sich das Flötenspiel ursprünglich
auf meditative Übungen,
"Brücken zur Erleuchtung", beschränkte, bei denen Zuhörer
unterwünscht waren.
Luca Belcastros La voce delle
creature erklang als leicht ironisch wirkender, kunst- und
phantasievoller Seitenblick von oben. Symbolhaft für die Suche
nach dem Ursprung und die Schönheit der Natur wechselten hier
gesprochene Wörter, auch Sätze mit harmonisch
vielfältigen Vokal- Klangkonstellationen und zischenden,
knackenden, geräuschhaften Lautpassagen.
FAZIT
Die
Auftragsproduktion der Ruhrtriennale Litany
for the Whale begeisterte, während In Paradisum die Erwartungen
nicht einlösen konnte.
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Litany for the Whale
The Hilliard Ensemble
Tadashi Tajima
Heinz Holliger:
Jisei I.
Tadashi Tajima:
Honkyoku San'ya
Komitas Vardapet:
Sharakans
Tadashi Tajima:
Honkyoku Daha no kyoku
John Cage:
Litany for the Whale
Tadashi Tajima:
Honkyoku Tisuru no sugomori
Luca Belcastro:
La Voce delle Creature
Tadashi Tajima:
Honkyoku Kokû
Ken Ueno:
Shiroi Ishi
In Paradisum
The Hilliard
Ensemble
Tomás Luis de Victoria:
Taedet animam meam
Introitus
Requiem aeternam, Kyrie
Giovanni Luigi da Palestrina:
Domine, quando veneris
Graduale
Requiem aeternam
Tomás Luis de Victoria:
Libera me Domine
Tractus
Absolve Domine
Giovanni Luigi da Palestrina:
Ad Dominum cum tribulare
Sequenz
Dies irae
Giovanni Luigi da Palestrina:
Miserere mei Deus
Offertorium
Domine Jesu Christe
Tomás Luis de Victoria:
Peccantem me quotidie
Sanctus
Benedictus
Giovanni Luigi da Palestrina:
Heu mihi Domine
Agnus Dei
Communio
Lux aeterna
Giovanni Luigi da Palestrina:
Libera me domine
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