Musikalische
Anregungen aus den 1970ern
von Ursula
Decker-Bönniger / Fotos von Ursula
Kaufmann
"Wir
Menschen können das Jetzt nicht fassen. Wenn
wir uns des gegenwärtigen Augenblicks bewusst
werden, ist er schon vergangen", schreibt Willy
Decker in seinem Vorwort zum Themenschwerpunkt
"Suche nach dem Jetzt" der diesjährigen
Ruhrtriennale.
Wie sich die 1970er Jahre mit Musik als Zeitkunst
auseinandergesetzt haben, beleuchteten zwei
bejubelte Konzerte. Eines fand in der erstmalig
bespielten Turbinenhalle an der Jahrhunderthalle
Bochum statt, eines in der Lichtburg in Essen. Beide
präsentierten Kompositionen der 1970 er Jahre
bzw. in der Tradition derselben stehende. Beide
spiegelten die Spannbreite eines fantasievollen,
produktiven, von indischer Musik und Philosophie
angeregten künstlerischen Lebensgefühls,
wo Komposition und Improvisation manchmal nicht
voneinander zu unterscheiden sind.
Die Kunst des
chinesischen Gongspiels in der
Vivier-Komposition
In Drumming, einer
vielseitigen Konzert-Hommage an Steve Reich, der im
September noch selbst bei einem Konzert in Bonn
mitwirkte und an diesem Tag seinen 75. Geburtstag
feierte, präsentierte das virtuose
Schlagquartett Köln neben der eher meditativ
wirkenden, 1973 entstandenen Komposition Music for Pieces of
Wood auch den Power versprühenden ersten
Teil der 1970/71 entstandenen, gleichnamigen
Komposition.
Beide
zeigen die Mitte der 1950er Jahre in den USA
aufkommende, ähnlich der Bildenden
Kunstrichtung ausgerichtete musikalischen
Grundprinzipien der Neuen Einfachheit der Minimal
Music: Metrumartig wiederholen die Musiker
einfache, formelhafte Motive und verändern
sie minimal durch Akzentverlagerungen oder
hinzugefügte Motivabspaltungen, mal auf vier
Paar gestimmten, mit Sticks bespielten Bongos oder
mit Claves und Röhrentrommeln. Die
aneinandergereihten, fast gleichförmigen
Abschnitten wirken wie ein permanentes, immer leicht
variiertes Klangkontinuum.
Daneben, in dem 1980 komponierten Werk von Claude
Vivier, entfalten lange nachklingende, verschieden
große Gongs ihre Raumwirkung, mischen sich mit
einem ebenso aus dem Gamelan-Orchester stammenden,
leicht verstimmten metallophonähnlichen
Instrument und entführen melodisch-harmonisch
in außereuropäische, balinesische,
javanische Klangwelten.
Nach der Pause ertönte die strukturell und
klanglich fantasievollste Komposition dieses
Konzerts: Younghi Pagh-Paans 1994 enstandene
Komposition Tsi-shin-kut,
wo verschiedenste Holz-, Fellinstrumente, Chimes
oder Steine aber auch Zuspielungen vom Band wie
Klagegesang, eine mit Stereo-Raumeffekt von links
nach rechts rollende Kugel ein farbenreiches
atmosphärisch dichtes Erdgeist-Ritual
illustriert.
Chimes
und Didgeridoo bei Younghi Pagh-Paans
Erdgeistritual
Klug
platziert erfolgte dann der ironische Cage-Kommentar
aus dem Jahre 1980, wo u.a. der Klang elektrisch
verstärkter Kaktusstacheln, Muscheln und
Farngewächse unter die Lupe genommen wird.
Witziger, auch schauspielerischer Höhepunkt war
die Zugabe des Schlagquartetts, wo die Vier im Kreis
stehen und mithilfe der rechts und links stehenden
Kollegen-Köpfe eine mehrstimmige
Boomwhackers-Komposition zum Klingen brachten.
Ein ganz anderer, künstlerischer Minimal
Music-Ausflug in die 1970er war das Artrock-Konzert
in der Essener Lichtburg. Die Bochumer Symphoniker
unter der Leitung von Harry Curtis und der 1942
geborenen John Cale und Band spielten Paris 1919 und
andere Cale-Kompositionen teilweise für
Ochester arrangiert von Randy Woolf.
Wie
sehr das 1973 entstandene, bekannteste Soloalbum Paris 1919
damals schockte, lässt sich auch heute noch
nachvollziehen, wenn man den in smart schillerndem
Anzug mit grüner Krawatte auftretenden
Künstler auf der Bühne erlebt.
Ähnlich der Atmosphäre eines klassischen
Konzertes präsentiert Cale seine Texte, in
denen sich historische Persönlichkeiten, im
weitesten Sinne Politisches und Privates surreal
mischt, konzentriert und emotionslos. Trotz des
symphonischen überwiegend aus Streichern
bestehenden Orchesterglanzes im Hintergrund wirken
die streng durchkomponierten, immer harmonischen
Arrangements minimalistisch cool, manchmal - bis auf
die hin und wieder wunderbar virtuos aufleuchtenden
Gitarrensoli Dustin Boyers - merkwürdig
monoton.
Zugabe und die Stücke nach der Pause
komplettierten das breite, musikalische Spektrum des
Meisters. Mit Rock 'n' Roll, Akkordgitarre und
längeren Gitarrensoli Dustin Boyers wurde es
einerseits deutlich energischer, rockiger,
andererseits sind die Orchesterarrangements, die
auch verschiedene Spielweisen und Blechbläser
miteinbeziehen, deutlich ausgefeilter. Hier
wäre eine differenziertere, deutlichere
Abmischung vor allem des Orchesters
wünschenswert gewesen.
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Drumming
Schlagquartett Köln
Thomas Witzmann
Steve
Reich:
Music for pieces of wood
Claude Vivier:
Cinq chansons pour percussion
Komitas Vardapet:
Sharakans
Younghi Pagh-Paan:
Tsi-shin-kut (Erdgeist-Ritual)
John Cage:
Branches for amplified plants
Steve Reich:
Drumming Part I
When
Past & Future Collide
John Cale & Band
Bochumer Symphoniker
unter der Leitung von Harry Curtis
John Cale:
Paris 1919
Weitere
Cale-Highlights
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