Viva la libertà
Von Ursula
Decker-Bönniger
/
Fotos von Nathalie Bauer
Die Ruhrfestspiele Recklinghausen eröffneten die diesjährige
Spielzeit mit der Deutschlandpremiere der Giacomo Variations. - eine
mit den Vereinigten Bühnen Wien koproduzierte Kammeroper, in der
- in Verbindung mit Ausschnitten aus berühmten Mozart-Opern
- der legendäre Frauenliebhaber und Libertin Chevalier de Seingalt
Giacomo Girolamo Casanova einen Rückblick auf seine gelebten Ideen
und sein bewegtes Leben wirft.
Giacomo (John
Malkovich) lässt sich von Gräfin Isabella (Ingeborgha
Dapkunaite) gerne verwöhnen.
Sieht man einmal von den unverbesserlichen John-Malkovich-Fans ab, so meinen
einige, man hätte den Saal getrost nach der ersten Actionszene,
einer Herzattacke des alternden Libertin, verlassen können. Viel
sei von der Charakterisierungskunst des Hollywoodstars John Malkovich
anschließend nicht mehr zu sehen gewesen. Andere wiederum
vermissen bei der revueartigen Aneinanderreihung bekannter Mozart-Da
Ponte- Opernhits einen bei guter Opernregie deutlich werdenden
dramatischen Aufbau, Spannung und interpretatorische Auseinandersetzung
mit Mozarts musikalischer Charakterisierungskunst. Die Idee, witzige, teilweise tragisch-komische Szenen aus den
Mozartopern Cosi fan tutte, Figaro und Don Giovanni mit denen des
Freigeists Casanova zu verknüpfen, entstand während der
Ruhrfestspiele 2010 anlässlich der bejubelten Musiktheaterkreation
The Infernal Comedy. Während Malkovich damals einen
Frauenserienkiller verkörperte, soll er nun in die Rolle des
aufgeklärten Verführers und Libertins schlüpfen.
Ziel des Textautors und Regisseurs Michael Sturminger und des auch
für das Musikkonzept verantwortlichen musikalischen Leiters
Martin Haselböck ist es außerdem, eine
"zeitgemäße Annäherung" an die Aufklärung, das
ausgehende 18. Jahrhundert, Mozarts Da Ponte-Opern und freigeistigen
Ansichten Casanovas zu zeigen. Bei den Klängen des 1. Satzes der Prager Sinfonie als
Ouvertüre, dem neckischen Versteckspiel, der romantisch
verliebten, sehnenden Cherubino-Arie Non
so piu cosa son, cosa faccio ahnt man noch nicht, dass mit
Mozartinischer Leichtigkeit auch Tabuthemen wie Inzest, Vergewaltigung,
Sex mit Minderjährigen etc. angesprochen werden. Malkovich
kommentiert diese Passagen aus Casanovas Lebenswerk mit einem
bedächtigen Auf und Ab des alternden Bohemien,
trocken-sarkastischem Kommentar oder breitem, ironischen Grinsen.
Entsprechend auch die Arien- und Ensembleauswahl. Auf der einen Seite
erklingen bspw. die Champagnerarie, das Ballfinale aus dem ersten
Akt der Oper Don Giovanni, um
Casanovas Verführungskünste zu untermalen. Auf der anderen
Seite werden z. B. die Folgen eines Liebesabenteuers für die
Frauen mit Abschiebung ins Kloster und Fehlgeburt benutzt, um Mozarts
intendierte Anspielungen z.B. in der Arie der Barbarina L'ho perduta me meschina aus dem
4. Akt des Figaro zu erhellen. Unberücksichtigt bleibt dabei, dass
viele der gewählten Musikbeispiele wie bspw. aus Don Giovanni die Registerarie, die
Canzonette Deh, vieni alla finestra,
o mio tesoro musikalische Kommentare sind, in denen Mozart
selbst mittels einer anderen Figur das dramatische Geschehen schamlos,
frech und musikalisch leicht zuspitzt. Ergebnis ist ein inhaltlich ausgerichtetes, sehr intellektuelles Spiel
zwischen Mozart, Da Ponte und Casanova, das auf der Bühne trotz
des fürstlichen Kostümrausches nicht seine darstellerische
Entsprechung findet.
John
Malkovich
als
Giacomo Casanova
Das Bühnenbild des Tourneetheaters sind drei unterschiedlich
großen Krinolinen, die - abgesehen von kleinen Lichteffekten -
wie unveränderte Zelte die Lebensräume Casanovas auf
Schminktisch, Bett und Schreibtisch darstellen. Sieht man einmal von
zeitweisen Liebesakten im Bett und Malkovichs Sitzen hinterm
Schreibtisch ab, bleiben sie schmückendes Beiwerk und werden
selten in das Beziehungsspiel mit einbezogen.
Schauspielerisch überzeugend ist vor allem Ingeborgha Dapkunaite
als zarte, sophistische Lady, mitfühlende Gräfin Isabella,
die wirklichkeitsnah zwischen Neugierde, erobern und erobert werden
pendelt. Der kurzfristig eingesprungene, lyrische Bariton Markus Eiche stellt
überzeugend die Rolle des Giacomo II in den verschiedenen
Opernhits dar, auch wenn es ihm bei der Champagnerarie ein wenig an
Kraft und Spritzigkeit im Ausdruck bei dem vom Orchester vorgegebenen
Tempo fehlte. Ausdrucksvoll und differenziert gestaltend übernimmt
Martene Grimson mit klarem, lyrisch schwingendem Sopran die
verschiedenen Frauenrollen. Sprechend auch das kleine, etwa 35 Mitglieder umfassende, an
historischer Aufführungspraxis orientierte Orchester Wiener
Akademie unter der Leitung Martin Haselböcks.
FAZIT
ein
interessantes
Konzept,
das
- nicht zuletzt wegen mangelnder Dramaturgie
und vielen Wiederholungen - in seiner Bühnenwirksamkeit weder als
Schauspiel noch als Oper überzeugen
kann.
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Meinung ?
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Produktionsteam
Musikalische Leitung
Martin Haselböck
Inszenierung
Michael Sturminger
Bühnenbild
und Kostüme:
Andreas
Donhauser,
Renate Martin
Orchester
Wiener Akademie
Solisten
* Besetzung der
rezensierten Aufführung
Giacomo I:
John Malkovich
Giacomo II:
Florian Boesch/
*Markus Eiche
Isabella I:
Ingeborgha Dapkunaite
Isabella II:
Eva Liebenau/
*Martene Grimson
Weitere
Informationen
erhalten Sie von den
Ruhrfestspielen
Recklinghausen
(Homepage)
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